Damir Skenderovic: «Die direkte Demokratie führt heute zu mehr Ausgrenzung»
Der Historiker Damir Skenderovic erklärt, was das Wiedererstarken des Nationalismus in Europa mit der SVP zu tun hat, wie dem Rechtspopulismus zu begegnen ist und warum er für eine Grundsatzdebatte über die direkte Demokratie plädiert.
WOZ: Damir Skenderovic, ich möchte mit einer Behauptung beginnen: Der Nationalismus in Europa war seit den beiden Weltkriegen nie mehr so stark wie heute.
Damir Skenderovic: Wenn Sie Nationalismus im Sinn eines Mobilisierungsinstruments verstehen, dann stimme ich Ihnen zu. Nach dem Zweiten Weltkrieg war man wegen der nationalistischen Verheerungen zumindest in Westeuropa zurückhaltend. Man versuchte, geradezu antinationalistisch zu sein, wie die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen und des europäischen Integrationsprojekts zeigt. Heute ist es anders: Nationalistisch zu sein, ist politisch akzeptabel geworden, wenn auch in anderen Formen. Historisch gesehen könnte man von einer Renormalisierung nationalen Denkens und Redens sprechen. Aber die Frage ist: Was macht diesen neuen Nationalismus aus?
Erklären Sie.
Der Kern nationalistischen Denkens ist, dass man unter Mitgliedern einer gewissen Gruppe ein Zusammengehörigkeitsgefühl herzustellen versucht, eine Solidargemeinschaft, die helfen soll, sich in einer scheinbar unübersichtlichen Welt orientieren zu können.
Nationen sind also immer künstliche Konstrukte?
Nationen sind zwar imaginiert und konstruiert, für die Einzelnen sind sie aber durchaus Realität und haben damit auch eine reale Wirkung. Und sie setzen konkrete Handlungsrahmen.
Mit der Globalisierung hätte man davon ausgehen können, dass sich der Nationalstaat überlebt. Aber das Gegenteil geschieht: Der Nationalstaat wird immer stärker. Ist das nicht paradox?
Nein, denn diese Entwicklungen stehen in einem wechselseitigen Verhältnis. Als Globalisierung bezeichnen wir landläufig grenzüberschreitende Prozesse in der Finanz- und Wirtschaftswelt. Hinzu kommen die kommunikationstechnologischen Entwicklungen, mit denen sich die Erfahrungswelten der Menschen erweitert haben. Und der Nationalstaat hat stark an Einfluss verloren. Gerade in wirtschaftspolitischen Belangen können gewisse Fragen nicht mehr nationalstaatlich kontrolliert werden. Das alles löst bei vielen Befürchtungen und Ängste aus, alles scheint nah und fern zugleich zu sein. Man fürchtet, dass man sich in dieser Welt ohne Grenzen und Übersichtlichkeit nicht zurechtfindet. Also zieht man sich zurück auf das Überschaubare, das Erprobte, das Nationale. Man findet Gemeinschaft in räumlicher, kultureller und mentaler Nähe.
Wird deshalb die Frage der Staatsbürgerschaft immer wichtiger? Weil der Nationalstaat nur dort wirklich Einfluss nehmen und bestimmen kann, wer dazugehört und wer nicht?
Das ist zwar richtig, aber die Entwicklung geht über dieses Paradox hinaus: Für wen hat denn heute die Staatsbürgerschaft welche Bedeutung? Vielerorts ist der Wille zur politischen Partizipation sehr gering, nicht nur in der Schweiz. Die internationalen Kader der Finanzbranche in Zürich oder der Pharmaindustrie in Basel benötigen das Stimmrecht gar nicht. Die Entscheide, die sie betreffen, werden oft an anderen Orten, auf anderen Ebenen getroffen. Gleichzeitig verwehrt man jenen den Zugang zur Staatsbürgerschaft, die die sozialen und zivilen Rechte benötigen und auch mitbestimmen wollen.
Unten lässt man die Leute nicht zu, und oben laufen sie davon?
Die einen dürfen nicht, die anderen wollen nicht. Diese Entwicklung ist für eine funktionierende Zivilgesellschaft verheerend, denn sie gründet ja gerade auf den staatsbürgerlichen Rechten. Die Frage der Staatsbürgerschaft ist sicher wichtig, aber man sollte andere Entwicklungen nicht aus den Augen verlieren.
Welche Entwicklungen?
Kürzlich haben wir die US-amerikanische Soziologin Saskia Sassen an die Universität Fribourg eingeladen, die in ihrem neuen Buch «Expulsions» die gesellschaftlichen Verwüstungen an den Rändern der Welt betrachtet: etwa die Folgen des Klimawandels für die direkt betroffenen Menschen, die Folgen der Finanzkrise in Form von Zwangsversteigerung von Eigenheimen oder des sogenannten Land Grabbing durch Staaten und Unternehmen. Da werden einerseits ganze Bevölkerungsgruppen lokal verdrängt, und andererseits entstehen völlig neue Vorstellungen und Bedeutungen von Territorialität: Ganze Gebiete in Städten und auf dem Land werden gleichsam entterritorialisiert und fallen aus dem nationalstaatlichen Rahmen heraus. Sie werden Global Players überlassen, Privaten wie auch Staaten.
Die Freiheit für Waren- und Kapitalverkehr existiert längst. Aber mit dem freien Personenverkehr bekundet die Gesellschaft viel mehr Mühe.
Man muss die beiden Bereiche gekoppelt betrachten. Der Freihandel war historisch gesehen nicht immer so weltumspannend. Es gab in der Geschichte immer wieder Phasen des Protektionismus, als man nicht nur die einheimische Arbeiterschaft schützen wollte, sondern auch die inländische Produktion von Waren. Das war nach dem Ersten Weltkrieg in vielen Ländern so. Nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings begann man, den Freihandel stark zu fördern, nicht zuletzt als Teil des Abschieds vom Nationalismus. Dazu gehörte auch eine zumindest für die Arbeitsmigration relativ liberale Politik. Heute driften die beiden Entwicklungen wieder auseinander: Für Waren und Kapital gibt es kaum mehr Grenzen, aber für Personen werden Nationalstaaten oder auch die Europäische Union immer stärker geschlossen.
Welche Rolle spielen dabei die rechtspopulistischen Parteien in Europa?
Sie tragen dieses Paradox von global und national stark in sich. Nehmen wir das Beispiel SVP. Auf der einen Seite gehören viele ihrer Exponenten zur globalisierten Finanz- und Wirtschaftswelt, auf der anderen Seite schürt sie Ängste vor Globalisierungsprozessen, vor supranationalen Kooperationen, vor der Öffnung zu Europa und der Welt. Es ist mir unverständlich, weshalb man in der Öffentlichkeit nicht mehr auf diesen Widerspruch hinweist.
Ist die SVP in dieser Hinsicht anders als andere Rechtspopulisten in Europa?
Die Fortschrittsparteien in Dänemark und Norwegen haben ähnlich angefangen. In den siebziger Jahren bekämpften sie in erster Linie das skandinavische Wohlfahrtsstaatsmodell, waren für Steuerreformen und einen schlanken Staat. Erst in den achtziger Jahren setzten sie vorwiegend auf die Themen Asyl und Immigration. Aber ich glaube, ihre Vorstellungen von Mensch und Gesellschaft sind dieselben geblieben. Es wird oft behauptet, dass die Parteien einfach opportunistisch seien und deshalb populistisch. Aber so ist es nicht. Für entscheidend halte ich das Rechte im Rechtspopulismus: das antiegalitäre Gesellschaftsbild.
Was meinen Sie damit?
Was gemäss dem italienischen Philosophen Norberto Bobbio das Unterscheidungsmerkmal zwischen links und rechts ausmacht, ist eben, dass die Menschen in den Augen der Rechten ungleich geboren sind und auch ungleich sterben sollen. Egalité ist nicht das Ziel. Darin liegen die Parallelen zwischen Nationalismus, Rechtspopulismus und Neoliberalismus.
In Ihrer Forschung kommen Sie zum Schluss, dass die Schweiz in Sachen Rechtspopulismus eine Vorreiterrolle hatte. Woran machen Sie das fest?
Die Schweiz hatte in den sechziger Jahren mit James Schwarzenbachs Nationaler Aktion die erste Partei, die hauptsächlich das Thema Immigration bearbeitete und dabei mit entsprechenden Bedrohungsbildern operierte. Auch der Rechtspopulismus in Europa setzt heute vor allem auf Immigration, andere Themen wie Sozialstaat oder Sicherheit sind bloss angedockt. Diese Fokussierung auf die Immigration, auf identitäre Grenzziehungen zwischen dem Eigenen und dem Fremden ist das zentrale Kennzeichen rechtspopulistischer Parteien und geht auf die Pionierparteien in den sechziger und siebziger Jahren in der Schweiz zurück. Auch gibt es kein anderes Land in Europa, das eine ähnliche Kontinuität aufweist wie die Schweiz, strukturell, personell und parteipolitisch.
Die Nationale Aktion, die in den Schweizer Demokraten aufging, ist heute faktisch inexistent.
Aber ihre Wählerschaft wurde in den neunziger Jahren von der SVP aufgesogen. Die SVP hat nicht nur das Thema Immigration übernommen, sondern auch die Argumentationen, die Bilder, die Bedrohungsszenarien.
Worauf gründet der Erfolg der rechtspopulistischen Parteien?
Da sind zum einen innere organisatorische und strukturelle Gründe. Und zum andern gibt es sogenannte Gelegenheitsstrukturen. Hier sind zwei Punkte für den Aufstieg und Erfolg der SVP zentral. Erstens: die Konkordanz- und Konsensdemokratie. Obwohl die SVP immer wieder radikale Forderungen stellt und sich im Grunde als Opposition versteht, ist sie im politischen System integriert. In Europa gibt es grundsätzlich zwei Strategien im Umgang mit rechtspopulistischen Parteien: Integration oder Demarkation. Abgrenzung war aber in der Schweiz bisher nie eine Option. So hat die SVP trotz ihres Wandels in den neunziger Jahren zu einer rechtspopulistischen Partei ihre Legitimität behalten und muss nicht ständig darum kämpfen wie etwa die FPÖ in Österreich oder der Front National in Frankreich. Und das zweite wichtige Element ist die direkte Demokratie. Sie ist zentral für den politischen Erfolg der SVP.
Weil sie damit Agenda Setting betreibt und den Diskurs bestimmen kann?
Ja, auch. Hinzu kommt, dass bei der SVP Wahlen und direkte Demokratie zusammenfliessen. 1992 hat sie erstmals in ihrer Geschichte eine Initiative lanciert. Seither bestimmt die SVP mit Initiativen die Diskussion. Sie betreibt gewissermassen Wahlkampf mit der direkten Demokratie. Und die anderen Parteien reagieren meistens nur.
Worauf wollen Sie hinaus?
Es braucht eine grundsätzliche Debatte über die direkte Demokratie. Nicht alle Initiativen sollten zur Abstimmung kommen. Das Völkerrecht beispielsweise ist unantastbar. Es bräuchte hier rechtlich klare Richtlinien – die dann auch durchgesetzt werden – für die Prüfung und Einschränkung der Inhalte von Initiativen.
Muss man die direkte Demokratie gleich einschränken, nur weil die Rechte die Instrumente besser nutzt als die Linke?
Linke Parteien haben sie in den letzten Jahren ja auch mehr eingesetzt. Aber mir geht es um eine Grundsatzdebatte: Ist die direkte Demokratie für die Politik des 21. Jahrhunderts noch funktionstüchtig? Das Idealbild der direkten Demokratie ist, dass wir in einem politischen öffentlichen Raum diskutieren und Argumente austauschen. Aber die politische Kultur und die mediale Öffentlichkeit haben sich in den letzten zwanzig Jahren stark verändert. Dasselbe gilt für die Entscheidungsorte. Zudem frage ich mich, ob angesichts der Komplexität und Reichweite von gewissen Fragen einfache Entscheidungen nach dem Ja-Nein-Prinzip überhaupt sinnvoll sind.
Kritik an der direkten Demokratie ist hierzulande selten …
Selbstverständlich sind wir alle Anhänger der direkten Demokratie. Sie hat etwas Integratives, ist partizipatorisch, und das ist auch Teil ihrer Erfolgsgeschichte. Aber ich glaube, dass sie heute nicht zu mehr Integration, sondern zu mehr Ausgrenzung führt. Es wird zunehmend über Menschen entschieden, die aufgrund fehlender politischer Rechte nichts zu sagen haben. Das hat dazu geführt, dass die direkte Demokratie heute in einer Krise steckt.
Wann fand dieser Wandel statt?
Ab den neunziger Jahren. Die Krise der direkten Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass die SVP als akzeptierte Grosspartei sie als Instrument einsetzt, um Aus- und Abgrenzung zu betreiben. Da müssen wir uns fragen: Wie kam es in der breiten Wahrnehmung zu dieser ausserordentlichen Bedeutung der direkten Demokratie? Wie wurde sie zu einem zentralen nationalen Narrativ der Schweizer Geschichte? Gleichzeitig wird die direkte Demokratie als Ausdruck eines Volkswillens aber mit jeder Abstimmung entmystifiziert, weil ja viele gar nicht abstimmen und ebenso viele gar nicht abstimmen dürfen. Und das schreibt wiederum Ausgrenzung kontinuierlich fest.
Sie haben vorhin zwei Gründe für den Erfolg der SVP angeführt. Neben der direkten Demokratie nannten Sie auch die Konkordanz.
Das ist vielleicht die noch wichtigere Frage. Die Konkordanz ist in den sogenannten Trentes Glorieuses entstanden. Es war ein bestimmter historischer Moment, als die Konkordanz als parteiübergreifende Steuerungsgrundlage in Jahren wirtschaftlichen Wachstums gedient hat. Aber seit den neunziger Jahren hat sich die parteipolitische Landschaft in der Schweiz in grundlegender Weise verändert. Meines Erachtens müssen vor allem die Sozialdemokraten überlegen, ob sie weiterhin bereit sind, eine rechtspopulistische Politik mitzutragen und damit auch zu legitimieren. Auf diese Weise tragen sie auch zu einer Normalisierung von bestimmten Ideen und Vorstellungen bei, gegen die sie in ihrer Geschichte immer wieder opponiert haben. Integration oder Abgrenzung: Diese Frage sollte in der Schweiz zumindest diskutiert werden, insbesondere in der SP.
Ist die SVP mit dieser Art Politik auch Vorbild für andere Rechtspopulisten in Europa?
Der Rechtspopulismus in der Schweiz war Vorläufer, ist aber heute auch Vorbild. Das sieht man immer, wenn die SVP Initiativen lanciert und mit Kampagnen Erfolg hat. Dann nehmen andere rechtspopulistische Parteien Bezug auf die Schweiz. Die SVP ihrerseits gibt sich zurückhaltend, distanziert sich von ihnen. Aber es gibt Akteure, die durchaus an europäischen Transfers unter Rechtspopulisten beteiligt sind, wie das Beispiel Oskar Freysinger zeigt.
Sie sprechen vor allem Gratulationen und punktuelle Zusammenarbeit an. Aber ist die SVP auch inhaltlich Vorreiterin? In Bezug auf den Sozialstaat gibt es ja doch markante Unterschiede. Die SVP beziehungsweise die «Weltwoche» fordert die Abschaffung des Sozialstaats, während der Front National den Zugang einschränken will: Sozialstaat nur für Franzosen.
Diese beiden Forderungen sind in einer argumentativen Reihe zu sehen. In Frankreich ist der sogenannte Welfare Chauvinism entscheidend …
Welfare Chauvinism?
Aus dieser Perspektive ist der Sozialstaat eine nationale Errungenschaft und deshalb in erster Linie für die Mitglieder der nationalen Gemeinschaft bestimmt. Man sagt, der Wohlfahrtsstaat werde durch Einwanderung bedroht, Sozialleistungen missbraucht. Auch in der Schweiz ist «Missbrauch» zur zentralen Metapher in Debatten über den Sozialstaat geworden, vor allem in Verbindung mit Migration, Asyl und Integration. Dabei soll das Gefühl vermittelt werden, weiten Teilen der Bevölkerung werde es demnächst schlechter gehen.
Kürzlich kam eine Meldung, wonach die Schweiz das glücklichste Land der Welt sei.
Das ist in der Tat interessant, vor allem auch die Tatsache, dass das drittglücklichste Land dieser Auswertung zufolge Dänemark ist. Beide Länder verfügen über starke rechtspopulistische Parteien. Dort, wo die Leute glücklich sind, haben die Parteien Erfolg, die behaupten, es werde bald alles schlechter.
Ist das denn so falsch?
Ich glaube eher, dass es nicht so sehr um reale Verhältnisse und augenblickliche Zufriedenheit geht, sondern um Erwartungen und Befürchtungen, es könnte in Zukunft schlechter werden. Und hier bieten rechtspopulistische Parteien Lösungen an, um Unsicherheiten zu begegnen, indem sie nationale Gewissheiten propagieren und Migration für eine Vielzahl gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Probleme verantwortlich machen.
Der neue NZZ-Chef Eric Gujer schrieb angesichts der Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer, es herrsche ein «unlösbarer Zielkonflikt zwischen dem Anspruch auf Humanität und der Notwendigkeit, die europäische Identität zu bewahren».
Interessant, dass die europäische Identität ausgerechnet in einer Schweizer Zeitung angeführt wird …
Was soll das sein, die europäische Identität?
Eine kulturell begründete Identitätssuche scheint mir wenig opportun zu sein. Vielmehr sollte die Frage nach europäischen Identifikationen auf politischer, rechtlicher, institutioneller Ebene gestellt werden. Dieses Vorhaben hätte man vor Jahren mit einer stärkeren institutionellen Verankerung von politischer Mitsprache und Repräsentation vorantreiben können. Stattdessen hat man wirtschafts-, handels- und finanzpolitischen Aspekten den Vorrang gegeben. Was mich aber an der Debatte über die Flüchtlingskatastrophen stört, ist noch etwas anderes.
Nämlich?
Das Erbe, das Europa mit sich trägt, die koloniale Vergangenheit, wird in diesen Debatten völlig ausgeblendet. Sicherlich, auch die Geschichtsforschung in vielen europäischen Ländern tat sich lange schwer mit der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte und ihrem langen Schatten. Es geht auch um Länder ohne staatliche Kolonialpolitik, ohne formale Kolonien, wie etwa die skandinavischen Länder oder die Schweiz. Diese waren aber auch Teil des kolonialen Zeitalters. Und diese Vergangenheit hat bis heute ihre Spuren hinterlassen, insbesondere wenn es um Immigration aus aussereuropäischen Ländern geht.
Das Spektrum der aktuellen Debatte reicht von der kompletten Abriegelung Europas bis zu offenen Grenzen.
Gerade mit diesem historischen Blick müsste Europa seine Politik überdenken und die Grenzen stärker öffnen. Es ist ja nicht so, dass Millionen darauf warten, dass Europa seine Tore öffnet. Das sind Schreckensszenerien. Die grössten Migrationsbewegungen finden nicht in Richtung Europa statt, sondern gerade in aussereuropäischen Regionen. Millionen sind auf der Flucht, aber nicht nach Europa.
Die Rechtspopulisten operieren aber gerade mit diesem Schreckensbild. Dabei hat sie die Realität längst überholt. Migration findet nicht nur statt. Sie hat bereits stattgefunden.
Es ist sicher wichtig, immer wieder die Normalität von Migration zu betonen, die Sichtbarkeit von Migration in den gesellschaftlichen Realitäten letztlich verschwinden zu lassen. Doch die Schweiz scheint noch weit davon entfernt zu sein. Man ist ja nicht einmal bereit zu akzeptieren, dass sich das Land seit Ende des 19. Jahrhunderts zu einer Migrationsgesellschaft entwickelt hat. Migration wird auch immer noch in erster Linie als Konflikt und Herausforderung beschrieben – auch in den in den letzten Jahren zahlreich erschienenen «Nationalgeschichten».
Es bräuchte also auch positive Erinnerungsmomente in der Geschichtsschreibung?
In Deutschland wurde beispielsweise 2004 mit verschiedenen offiziellen Festivitäten vierzig Jahre Anwerbeabkommen zwischen Deutschland und der Türkei gefeiert. Es wurde daran erinnert, dass dies ein wichtiger Moment der deutschen Nachkriegszeit war. In der Schweiz trat am 22. April vor fünfzig Jahren das sogenannte Italienabkommen in Kraft, das einen rechtlichen Rahmen für italienische Immigration setzte und so ein symbolträchtiges Ereignis der helvetischen Nachkriegsgeschichte darstellt. Stellen Sie sich vor, die Schweiz würde dieses Jubiläum offiziell feiern. Es ist Teil der Geschichte der Schweiz, müsste also auch Teil der kollektiven Erinnerungskultur des Landes sein. Dies würde dazu beitragen, Migration zu normalisieren, und es würde eine der Gegenstrategien zu Rechtspopulismus und seinen Bildern von Gesellschaft und Geschichte darstellen.
Damir Skenderovic
Der Historiker Damir Skenderovic (50) ist seit 2011 ordentlicher Professor für Zeitgeschichte und seit 2013 Vizedekan der Universität Fribourg. Zu Skenderovics Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem Rechtspopulismus, Rechtsextremismus und die radikale Rechte sowie Migrationsgeschichte. Skenderovic ist Autor verschiedener Bücher.