Durch den Monat mit Pasqualina Perrig-Chiello (Teil 4): 68er im Altersheim?

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Pasqualina Perrig-Chiello: «Ich hörte von ‹Mittelalterlichen› oft den Satz ‹Ich will nicht mehr müssen müssen›.»

WOZ: Frau Perrig, sind Leute zwischen vierzig und sechzig Jahren wissenschaftlich interessant?
Pasqualina Perrig-Chiello: Ja! Diese Generation ist eine Blackbox. Es gibt unzählige Bücher und Studien zur Jugend und zum Alter. Über jene Generation aber, die das Sagen hat in dieser Gesellschaft, die an den Schaltstellen sitzt, wussten wir bisher sehr wenig.

Weshalb?
Durch die demografische Alterung haben sich neue Lebensphasen gebildet. Die Babyboomgeneration – also die geburtenstarken Jahrgänge der Wirtschaftswunderzeit – befindet sich jetzt im mittleren Lebensalter.

Demografisch gesehen wird hier die Tanne langsam zum Atompilz.
Das stimmt. Ich wollte aber in meinem Buch über das mittlere Lebensalter vor allem der Frage nachgehen, welche Perspektiven sich dieser Generation bieten, welche Bedürfnisse und Ambitionen sie hat.

Welche hat sie?
Viele ziehen in diesem Alter eine Zwischenbilanz: Was habe ich erreicht, und was nehme ich mir noch vor. Damit verbunden sind auch letzte Gelegenheiten der beruflichen Neuorientierung.

Brechen Fünfzigjährige wirklich nochmals zu neuen Ufern auf, oder wechseln sie nicht lieber einfach den Tennisklub oder die Automarke?
Unterschätzen Sie Ihre Elterngeneration nicht! Es gibt hier allerdings starke geschlechtsspezifische Unterschiede. Die Männer sind in diesem Alter nicht selten schon beruflich ausgebrannt. Ihre Frauen hingegen oft noch voller Lust auf Neues, etwa weil die Kinder gerade aus dem Haus sind. Da gibt es noch Ressourcen für den beruflichen Wiedereinstieg.

Das klingt wieder sehr nach den klassischen Geschlechterrollen.
Das ist die Realität. Die heute 50- bis 65-Jährigen, darunter viele sogenannte Achtundsechziger, sind zwar weltanschaulich viel moderner als ihre Eltern. In der Praxis blieben sie aber sehr den traditionellen Familiensystemen treu.

Hat diese Generation ihre Reformideen also nicht ausgelebt?
Nicht nur, jedenfalls. Diese Generation wurde in eine im Vergleich zu früheren Epochen sehr glückliche Zeit hineingeboren. Die Wirtschaft boomte, gesellschaftliche Werte und Regeln lockerten sich, die Pille wurde erfunden. Man genoss viele neue Freiheiten. Trotzdem schleppen wir «Mittelalterlichen» immer noch einige Tabus mit uns herum.

Die da wären?
Menschen im mittleren Lebensalter müssen beruflich und privat einwandfrei funktionieren. Gelegentliche Nabelschau und ein Innehalten ab und an liegt meist nicht drin. Denn man trägt grosse Verantwortung: Die Kinder sind vielleicht noch in der Ausbildung und die eigenen Eltern sind pflegebedürftig. Es muss Geld reinkommen. Viele wünschen sich denn auch, einfach mal Zeit für sich selbst zu haben. Während meiner Forschung hörte ich von Betroffenen oft den Satz: «Ich will nicht mehr müssen müssen.»

Jetzt gehen die Babyboomer langsam in Pension. Bald sind die Altersheime voll mit Achtundsechzigern, die sich jahrzehntelang zwischen Rebellion und sozialen Zwängen hin- und hergerissen sahen – armes Personal!
Es handelt sich hier natürlich in der Tat nicht mehr um die netten, angepassten Witwen – das Alter ist bekanntlich weiblich – der Aktivdienstgeneration. Wenn wir aber jetzt beginnen, neue Modelle für Altersinstitutionen zu entwickeln, die zu den veränderten Bedürfnissen der nachrückenden Generationen passen, wird das auch für das Personal eine Bereicherung.

Was schwebt Ihnen vor? Aussteigercamps für Betagte?
Alters-WGs, wieso nicht! Auch das intergenerationelle Wohnen halte ich für eine gute Sache, hier werden gerade konkrete Projekte lanciert. Damit könnten beispielsweise auch neue Ressourcen für die externe Kinderbetreuung entstehen.

Das klingt jetzt alles sehr optimistisch.
Allzu schwarz sehe ich diesbezüglich jedenfalls nicht. Ein grosser Vorteil der heutigen Fünfzig- oder Sechzigjährigen ist doch auch, dass sie sich auf das Alter einstellen können: Wir sind uns bewusst, dass wir sehr alt werden können. Generationen vor uns konnten dies aus verschiedenen Gründen nicht voraussehen. Und nicht zuletzt sind wir heute freier in der Entscheidung, in wessen Gesellschaft wir unseren Lebensabend verbringen wollen!

Pasqualina Perrig-Chiello (55) ist Professorin für Entwicklungspsychologie an der Uni Bern.

Pasqualin Perrig-Chiello: «In der Lebensmitte: die Entdeckung der zweiten Lebenshälfte». NZZ Libro. Zürich 2008. 159 Seiten. 45 Franken.