Der Üetliberg: Top of Zurich
Länger als viele andere Hügel trotzte er dem helvetischen Tiefbaufetischismus. Letzte Woche wurde ein Autobahntunnel durch den Zürcher Hausberg eingeweiht, mit grossem Tamtam und Bundesräten. Doch wie sieht es darüber aus? Die WOZ wagte den Aufstieg über die Westflanke.
Station Uitikon-Waldegg der Sihltal-Zürich-Üetlibergbahn (SZU) auf halbem Weg vom Zürcher Hauptbahnhof zum Üetliberg-Gipfel. Ein Gleis, ein unauffälliger Bahnhof, eine etwas schäbige Beiz. Uitikon: 3711 EinwohnerInnen, 550 Meter über Meer, 9,94 Prozent Ausländeranteil (Angabe der Gemeinde, man legt offenbar Wert darauf, unter 10 Prozent zu liegen). Steuerfuss 78 Prozent, die Nummer fünf unter den steuergünstigsten Gemeinden des Kantons. Wohnort einiger Persönlichkeiten, die den Üetliberg, Zürichs Hausberg, zur Bühne ihres tätigen Lebens gemacht haben.
Erstens: Fredy Lienhard, Forstingenieur, Uitikoner Exekutivmitglied, im Vorstand des Üetlibergvereins, Leiter des ETH-Lehrwaldes am Üetliberg, Initiant der Mammutbaumallee. Zweitens: Pia Keist, ebenfalls Vorstandsmitglied des Üetlibergvereins und Führerin des «Geschichtlichen Spazierganges», eines Angebots des Hotels Uto Kulm, Kostenpunkt: hundert Franken pro Person für eine halbe Stunde. Drittens: Giusep Fry, Gastrounternehmer, Eigentümer und Chef des Hotels Uto Kulm, Baubeamtenschreck, auch Vorstandsmitglied des Üetlibergvereins. Viertens: Margrith Gysel, Mitglied der Grünen Partei und Präsidentin des Vereins Pro-Üetliberg, des Contra-Fry-Vereins. Sie hat mit einem Mail über die Umtriebe von Giusep Fry die WOZ überhaupt verführt, den Üetliberg zu besteigen.
Sozialstaat, aber nur im Wald
Nächste Station der Wanderung in Richtung Üetliberg-Kulm: Ringlikon, Ortsteil von Uitikon, immer noch Westflanke des Berges, zirka 700 Meter über Meer. Hier fegte vor bald zehn Jahren eine besonders fiese Böe des Sturmes Lothar über die Hügel, und weg war ein grosses Stück Laubwald. Als Förster Lienhard am Stephanstag 1999 die niedergemähten Bäume sah, schwach und hilflos, sagte er sich: «Jetzt muss ein starker Baum her.» Seitdem wächst hier die Mammutbaumallee, wie in einem Schlosspark, einfach ohne Schloss. Lienhard sagt: «Das macht e Gattig.» Mammutbäume werden sehr alt und sehr hoch und trotzen schlimmen Stürmen, kommen aber eigentlich aus Kalifornien.
Das gefiel nicht allen, Lienhard erinnert sich: «An der Eröffnung der Allee fragte mich eine Dame aus Zürich: ‹Aber Herr Lienhard, das ist ja ein ausländischer Baum, schrecklich!› Ich sagte ihr: ‹Aber Sie: Zürich, eine wunderbare Stadt, ist doch auch eine Multikultistadt, wo alle Gäste willkommen sind. Jetzt haben wir halt mal einen fremdländischen Baum reingeholt!›» Lienhard meint: «Die Mammutallee ist doch eine Erfolgsstory. Wir können von diesem Baum sehr viel lernen, was Wachstum ist, was Leistung ist, irgendwann werden diese Bäume die anderen im Üetlibergwald überragen.» Das sah wohl damals auch die Zürcher Kantonalbank so und bezahlte das Projekt.
Lienhard vergleicht gerne die Gesellschaft mit dem Wald: «Pflanzensoziologisch ist es doch so: Wenn jedes Gewächs vom Licht profitieren kann und nicht nur die mächtigsten, die oben das Kronendach schliessen, erreichen wir eine viel grössere Biodiversität.» Lienhard will dafür sorgen, dass auch kleinere Gewächse genug Licht zum Wachsen kriegen, dafür muss dann halt mal ein grösserer Baum weichen: «Dafür haben wir sogar empfindliche Orchideen am Üetlibergsüdhang.» Lienhard ist SVP-Mitglied, daran ändert auch seine in floristischen Belangen kosmopolitische Haltung nichts.
Weiter gehts auf dem breiten Wanderweg zum Gipfel. An kleinen Reduitvorposten aus dem Zweiten Weltkrieg mit eingemeisselten Totenköpfen vorbei Richtung Grat. Der Boden gehört hier wieder zur Stadt Zürich, Kreis 3. Einige Gehminuten unter dem Gipfel stehen über einem erodierenden Abhang mehrere Häuschen in skandinavischem Stil, 805 Meter über Meer. Bis in die 1930er Jahre wurden hier SanatoriumspatientInnen der Klinik Neumünster aus der Stadt gesund gepflegt. Eines der Häuschen gehört seit vierzig Jahren Konditor Streuli aus Zürich Altstetten. Zuerst verbrachte das Ehepaar Streuli hier die Wochenenden, jetzt, beide sind um die achtzig, vier Tage die Woche. «Das ist eben Kurluft hier!», sagt Herr Streuli.
Podest fürs Sechseläuten
In ihren Besitz scheinen die Streulis viel Engagement zu stecken: überall kleine Beetchen, Keramikfiguren, Windrädchen, Plastikhäschen und ein Schild, auf dem «Paradiesli» steht, daneben eines mit der Aufschrift «Vorsicht vor der Kampfkatze». Ein dreifarbiges, untersetztes Büsi streift um die Gartenmöbel. «Aber die fängt richtig Mäuse», sagt Frau Streuli. Dann ist das Kampfbüsi fort, unter einem Aussichtspodest wie für einen Feldherrn verschwunden, das über dem Abgrund steht. Das habe der Sohn gebaut, sagt Herr Streuli, «damit er das Sechseläuten sehen kann». Aber jetzt sieht man nichts, es herrscht Nebel. Herr Streuli führt dafür den Teich vor. Ein pumpenbetriebenes Bächlein rinnt hinein. Am Grund siecht ein halbtoter Goldfisch. «Ja, das war ein harter Winter», sagt Frau Streuli, «23 Zentimeter Eis auf dem Wasser.» Schlecht für die Goldfische.
Nicht weit vom gusseisernen Gartentor der Streulis mündet der Weg in die breite Kiesstrasse, die von der SZU-Bergstation Üetliberg zum Gipfel führt, denn ganz hoch fährt das Bähnchen nicht. Beleuchtet wird die Kiesstrasse von sogenannten Hirschlampen. Die Ständer: indianische Marterpfähle. Die Leuchtenhalter: psychedelisch-geometrische Hirschgeweihe. Die Leuchten selbst: gallenblasengestaltige Glaskörper. Ein Künstler aus der Zürcher Agglomerationsgemeinde Dietlikon schuf sie in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts.
Inspiriert war der Künstler durch folgende Legende, erzählt Pia Keist, Üetliberger Geschichtenerzählerin im Auftrag des Hotels Uto Kulm: Im 9. Jahrhundert wohnte König Ludwig der Deutsche auf dem Üetliberg. Auf einer Gipfelburg mit Namen Uotelenburh oder Üetelenburch oder Utoburg. König Ludwig hatte zwei Töchter, Hildegart und Berta. Die wohnten auf der Burg Baldern, wovon heute noch ein paar Steine rumliegen, vier Kilometer von Ludwigs Burg entfernt Richtung Albispass. Die frommen Töchter stiegen jede Nacht ins Tal hinunter, um an einem gottgeweihten Ort zu den geköpften Felix und Regula zu beten, den mutmasslichen Zürcher Stadtheiligen.
Zu später Stund
Der Weg hinab war gefährlich. Er führte an der berüchtigten Fallätsche vorbei, gemäss dem Band «Der Üetliberg» von 1984 «der bedeutendste Erosionstrichter der Zürcher Molasse». Ludwigs Töchter wurden deshalb, so besagt die Sage, auf Gottes Geheiss stets von einem Hirsch mit flammendem Geweih durch die Nacht begleitet, und so passierten Berta und Hildegart die Fallätsche immer sicher und bei gutem Licht. Eines Nachts spionierte ihnen Vater Ludwig nach - was treiben Töchter schon zu so später Stund? Da sah er das Wunder des Leuchthirschs und spendierte der Stadt aus Gottesfurcht im Jahre 853 das Fraumünster und schenkte dem neu gegründeten Nonnenstift die Forestis Albis nomine, die Wälder mit Namen Albis.
Gegenwärtiger Nachfolger von Ludwig dem Deutschen auf dem «Gipfel» des Üetliberges, 870 Meter über Meer, heute Boden der Reppischtalgemeinde Stallikon, ist Giusep Fry, Erlebnisgastronom: «Ich bin kein König, Könige waren böse, und wir tun hier Gutes für unsere Gäste.» Der gebürtige Bündner Fry hat das alte «Berggasthaus» auf dem Kulm in den letzten Jahren sehr exzessiv renoviert. Gelblich-orange-rot-pastellfarbig, blau umrandete, blütenweisse Fensterrahmen, gläsernes Entree, über dem vier Sterne und die Überschrift «Top of Zurich» prangen: eigentlich echter Freizeitparkkitsch. Panoramaterrasse, Aussichtsturm, Hotel und Nebenhäuser, alles gehört hier Fry, 27 000 Quadratmeter total.
1999 kaufte er das Grundstück der UBS ab. Zürich, Stallikon oder der Kanton wollten es nicht haben. Seither veranstalten Fry, die Stadt, der Kanton, Lokalmedien und die Üetlibergvereine eine unendliche Posse um Bauprojekte, Bauzonen und Richtpläne. Seit 2003 baut und baut Fry, auch mal illegal, schafft Fakten. Dann verfügt der Kanton, lässt wieder abreissen und versetzen. Auf der einen Seite heisst es «Illegal errichtet!», auf der anderen «Unternehmerfeindlicher Staatssozialismus!».
Manchmal gehts um Zentimeter. Fry sagt: «Zürich ist eine Weltstadt!», die Posse auf seinem Grund in Seldwylamanier lässt daran zweifeln. Er sagt auch: «Zürich liegt uns zu Füssen», und ist überzeugt, dass trotz Stadtnähe alpine Wildheit das «Uto Kulm» umgibt: «Das ist eben auch ein bisschen das Spezielle hier, sage ich, dass auch schöne Frauen mit schönen Schuhen hier das letzte Stück noch zu Fuss erklimmen dürfen.» Obwohl das letzte Stück eher Anliefererstrasse als Alpweg ist. Fry nennt das einfach: «Sich mit der Situation auseinandersetzen.»
Patty Bosers Skyline
Immer wieder mal hier oben sind die ProtagonistInnen der Dating-Show «Swissdate» von TeleZüri. Fry ist auch grosszügiger Werbeplatzkäufer beim Lokalsender.
Stellen wir uns also vor: TeleZüri-Moderatorin Patty Boser stöckelt in Leopardenleggings die Kiesautobahn von der Bahnstation hinauf, ihre blonden Mèches von den Hirschlampen erleuchtet. Später würde sie zu Fry sagen, wenn sie aus der «Skyline-Suite» (Preis am Wochenende: 415 Franken, inklusive «3,75 Deziliterflasche Champagner» und «1.45 Stunden Saunaoase») das Grossmünster erblickt: «Du Giusy, isch schaurig lässig bi dir.» Und sie würde rausstöckeln und zum «Tête-à-tête» oder zum «Dinnerkrimi» oder zum «Frühlingsball» oder zum «Musicaldinner mit spektakulären Hits» weiterstöckeln.
So gefällts Fry, denn: «Wir verkaufen Erlebnisse.» Deshalb träumt er auf dem Üetliberg neben der Schlittelbahn von einem richtigen Bob-Run, einem Klettergarten oder einer Seilbahn zum Einkaufszentrum Sihlcity hinunter. Es gibt Leute, die nennen das «innovativer Unternehmer».
Genug, schnell wieder runter in die Stadt, vorbei am Restaurant «Gmüetliberg» bei der Bergstation, wo in der Nähe eine geologische Tafel zu berichten weiss: Vor etwa 10 000 Jahren war der Üetliberg noch eine schöne, schlichte Gletschermoräne. Ein Haufen loses Geröll, das Linth- und Rheingletscher auf ihrem Rückzug in höhere Gefilde, wo verdientere Berge stehen, liegen liessen. Nichts als Molasse, Nagelfluh. Schön muss das gewesen sein damals. Damals! Wenn Sie sich diesem, geologisch gesprochen, «verfestigten Abtragungsschutt» das nächste Mal nähern: Flüchten Sie unverzüglich in den neuen Tunnel.