Marvin Gaye: Flamboyant in Flandern
Vor 25 Jahren wurde die Soullegende vom eigenen Vater erschossen. Kurz zuvor wollte Marvin Gaye die fatale Dynamik seines Lebens durchbrechen - mit einem Entziehungsversuch im belgischen Seebad Ostende.
Vier Buchstaben hängen in der Luft - über den Schienen, die sich westwärts durch die flache Landschaft fressen, und über der letzten Autobahn des Kontinents, die parallel zur Bahnstrecke schnurgerade aufs Meer zurast. Wolken treiben über verfallende Bauernhöfe. Die niedrige Vegetation steht geduckt unter dem Diktat des Winds, die Felder sind von Prielen durchzogen. Vier Buchstaben E N D E, was soll hiernach schon noch kommen? Wer über Land anreist, für den ist Ostende die letzte Station. Marvin Gaye dagegen kam im Frühjahr 1981 mit der Fähre aus Dover. Aus dieser Perspektive ist das alte Seebad Ostende der Anfang, und was für einer. Von weitem erheben sich die achtgeschossigen Blocks der Betonpromenade aus der Nordsee. Einen neuen Anfang hatte der Sänger bitter nötig. Ostende sollte dessen Kulisse sein.
Exil an der Nordseeküste
«Mein Bruder holte Marvin aus London herüber, damit er zur Ruhe kommen konnte», erinnert sich Restaurantbesitzer Eddy Cousaert im schweren Dialekt Westflanderns. Freddy Cousaert, Eddys vor drei Jahren verstorbener Bruder, war ein umtriebiger Avantgardist in dem bodenständigen Seebad. Seit den sechziger Jahren liess der Promoter Soulstars wie Bobby Womack und Rufus Thomas in Ostende auftreten.
Später trieb ihn die Jagd nach den exquisitesten Soulplatten immer wieder nach London. Das Ergebnis präsentierte er Sonntagnacht im «Groove», seinem Club in Ostende. Sogar von Frankreich aus reisten die Gäste an. So ganz vom Himmel fiel Marvin Gaye also nicht, als er in der Stadt Quartier bezog. Und doch hatte seine Landung am Rand des Kanals etwas Astronautenhaftes. Zuvor war er auf der Flucht vor dem US-amerikanischen Fiskus in London auf Grund gelaufen. Von der Weltstadt in die belgische Provinz, wo das «Groove»-Publikum nur eine winzige Minderheit war und ein Schwarzer in den Bars der Fischer eine Rarität. «Ein Schritt rückwärts, was das Tempo angeht, vielleicht auch zwei», sinnierte der Sänger damals in einem Interview. «Es gibt Orte, an denen ich lieber wäre. Doch wahrscheinlich muss ich hier sein. Darum bleibe ich.»
Zeit der Enthaltsamkeit
Fatalistisch klingt das. Marvin Gaye war zu diesem Zeitpunkt ein Schatten seines einst schillernden Selbst, menschliches Treibgut, verunsichert vom bröckelnden Erfolg, ohne Label nach der Trennung von Motown, angeschlagen durch seine Scheidung, ausgezehrt vom Kokain. «Einen Waisen» nannte er sich «und Ostende ist mein Waisenhaus». Anfangs, so der Bruder des Promoters, ging der Plan auf. Gaye liess die Finger von den Drogen, joggte am Strand, boxte und spielte Basketball.
Dann machte sich Freddy Cousaert daran, das Comeback seines Protegés zu organisieren. Ein Auftritt im Ostender Kursaal, dem monumentalen Klotz mit Meerblick. Er organisierte ein Studio in Brüssel, um dort das Album «Midnight Love» aufzunehmen. Gaye hatte neue Songs geschrieben, unter anderem fand er im grauen Ostende die Inspiration zu «Sexual Healing», auch wenn er sich in dieser Zeit Enthaltsamkeit verordnet hatte. Doch die Rückkehr an die Spitze der Charts heftete auch die Entourage, wie Eddy Cousaert die koksende Showbizfraktion in Gayes Schlepptau nennt, wieder an die Fersen des Sängers. Visumprobleme setzten seinem Exil ein plötzliches Ende.
Eine Reihe von Porträtfotos an den Wänden der Bars in Ostende führt heute zu den Spuren Marvin Gayes: Das Jazzcafé Lafayette im Zentrum, wo er immer wieder Zeit verbrachte, eine stilsichere Oase inmitten radikalmediokrer Alleinunterhalter für britische RentnerInnen und SauftouristInnen. «Marvin’s Room», ein Lokal am Hafen, dessen Besitzer erst seinen Sohn nach seinem Lieblingssänger benannte und dann dessen Joggingpartner wurde. Oder «Jan’s Café», schräg gegenüber vom Kursaal, in dem der wankelmütige Ladies’ Man sich oft beköstigen liess. «Ein Feinschmecker war Marvin nicht», erinnert sich Jan van Snick, der Inhaber. «Er kam nur abends zum Essen, tagsüber schlief er viel. Gaye war oft mit Freddy Cousaert unterwegs. Beide waren nicht besonders gesprächig, und die meisten Menschen wussten auch nicht, wer er war.»
Als der neue Plattenvertrag mit CBS einen Vorschuss brachte, liess Gaye alte FreundInnen nach Ostende kommen. Man richtete sich in einem Rhythmus ein, der ein paar Schläge abseits des biederen Ostende lag. Eine urban-polyglotte Musikermeute vor dem Hintergrund des Dämmerzustands, in dem Ostende die Zeit jenseits der Hauptsaison verbringt. Flamboyants in Flandern, zwei Welten, die aufeinanderprallten.
Landleben
«Für die hiesigen Normen trieb er es zu bunt.» Charles Dumolin muss das wissen, er ist schliesslich ein Kind der Gegend, war in den frühen siebziger Jahren als Mitglied der Band Lester and Denwood selbst ein Popstar in Belgien und legt Wert darauf, «kein durchschnittlicher Westflame» zu sein. Dieser Menschenschlag, so Dumolin, störte sich 1981 erheblich an einem VW Käfer voller Afroamerikaner, der ohne Nummernschild durch die Peripherie cruiste und dessen Insassen der Polizei freundlich entgegneten, ein Auto bräuchte doch kein Kennzeichen, um zu fahren. Dumolin grinst. Anfang der achtziger Jahre wohnte er mit seiner Familie auf einem Gehöft im Küstenhinterland. Als Gayes Ausbrüche aus dem ruhigen Exilleben für zu viel Ärger sorgten, zog er ins Nachbarhaus.
Ausladend liegt die helle Villa mit ihren Seitenflügeln hinter dem Zaun an der kaum befahrenen Dorfstrasse. Ein halbes Jahr lang bewohnte Gaye 1982 mit seinen beiden Kindern Bubby und Nona das Anwesen. War Ostende ein schräges Pflaster für einen US-Superstar, so steigerte der Weiler Moere, fünfzehn Kilometer entfernt im Marschland gelegen, die Konstellation ins Groteske. Knapp über tausend Seelen zählte der Ort damals, sagt Antoon Vermeulen. Sein Tante-Emma-Laden, ein paar Schritte vom ehemaligen Haus Gayes entfernt, ist seit 1969 einer der sozialen Knotenpunkte im Dorf. Zwölf Quadratmeter, bis unter die Decke vollgestopft mit Konserven, Wein, Pflegeprodukten, Plastikblumen und Süssigkeiten.
Vermeulen erinnert sich gut an den bemützten Sänger im langen, schwarzen Mantel, der hier seine Zigaretten holen kam. «Oft wartete er auch draussen und liess seine Freundin die Einkäufe machen, eine grosse, blonde Holländerin», erinnert sich der Krämer. Eugenie Vis, die Gaye nach einem Konzert in Amsterdam getroffen hatte, fungierte in Moere auch als seine Verbindung zur Aussenwelt. Denn, so Vermeulen, «wer konnte damals schon Englisch hier auf dem Land?».
Pleite mit Pappnase
Charles Dumolin, heute 57, hatte die-se Probleme nicht. Dumolin war selbst ein Zugezogener, so wurde aus dem Nachbarn schnell ein Freund. «Unsere Kinder spielten zusammen, wir sprachen viel über Politik und Religion, wir hatten dieselbe Wellenlänge. Ich sah in ihm keinen Star, sondern einen Musiker, der viele Probleme hatte. Er sass echt in der Scheisse, bankrott, ohne Plattenvertrag und haufenweise Alimente am Hals, die er zahlen musste. Und dann dachte er sich wahrscheinlich, was zum Teufel mache ich eigentlich hier?»
Gaye vertrieb sich die Zeit, von der es zwischen den Stühlen reichlich gab. Er sass gerne im Baumhaus, das der Nachbar für seine Kinder gebaut hatte, spielte Fussball mit dem dumolinschen Nachwuchs, schrieb Teile von «Sexual Healing» an dessen Küchentisch.
In einer dicken Mappe bewahrt Charles Dumolin Erinnerungen an den Freund auf. Es sind Briefe von seiner Familie, ein wütender Schriftverkehr mit dem Motown-Büro, die Bestätigung des neuen Deals mit CBS. Dazu Skizzen neuer Texte, ein Polaroid von Gaye auf einer Kinderparty mit roter Pappnase - und sein Testament. «Im Falle meines Todes», beginnt es, und sorgt sich über die Rechte an seinen Songs und unveröffentlichten Masterbändern. «Ich habe Angst davor, was Motown damit machen wird.» Nach den jahrelangen Streitigkeiten sass das Misstrauen gegen das alte Label tief.
Marvin Gaye in Bronze
Ob sich Gaye in Ostende mit Suizidgedanken herumschlug, weiss auch sein alter Freund und Nachbar nicht zu sagen. Sein komplexer Charakter, oft als «zerrissen» beschrieben, zeigte sich jedenfalls gerade in Gayes Ostender Exil deutlich. «Marvin, wie wir ihn kannten, hatte so viele Facetten», sagt Charles Dumolin. «Er war stolz, er war traurig, er war bescheiden und stark, aber er hatte auch eine gewisse Überheblichkeit.»
All das steht seinem Abbild im Foyer des Kursaals in die feinen Gesichtszüge geschrieben. 2500 Kilo wiegt die Bronzestatue, die Ostendes Stadtverwaltung 2004 zur Wiedereröffnung bestellte - bei niemand geringerem als Charles Dumolin. «All diese Seiten seiner Persönlichkeit wollte ich zum Ausdruck bringen», sagt er und greift dem alten Freund um die Schultern. «Der König des Souls machte Ostende zu seinem Zuhause», ist auf der Sockelinschrift zu lesen. Das trifft die Sache nicht ganz. Eher wurde er hier an Land gespült, wie so viele, die in Ostende stranden. SaisonarbeiterInnen, Tramps, triste AlleinunterhalterInnen in brackigen Spelunken - die Stadt ist voll von diesen Geschichten. Immerhin schaffte Marvin Gaye 1982 noch den Absprung. Doch allzu weit kam er danach nicht mehr.
Marvin Gaye und Motown
Als «brillantes Produkt des Motown-Fliessbands» beschrieb sein Biograf David Ritz den 1939 geborenen Marvin Gaye zu Beginn seiner Karriere. Das legendäre Label, das in diesem Jahr unter grosser Medienbeachtung seinen fünfzigsten Geburtstag feiert, und der charismatische, aufstrebende Soulsänger aus Washington DC: Das schien von aussen betrachtet eine traumhafte Konstellation. Das in Detroit beheimatete Label Motown brachte schwarze KünstlerInnen in den frühen sechziger Jahren erstmals auf den weissen Mainstream-Musikmarkt der USA.
Gaye wurde ab Mitte der sechziger Jahre zu einem der Zugpferde der Hitmaschinerie Motown. Doch bereits zuvor hatte er regelmässig Auseinandersetzungen mit Labelboss Berry Gordy. Die anfänglichen Jazzambitionen Gayes sorgten für musikalische Differenzen mit dem kommerziell orientierten Gordy. Zudem war Gaye, anfangs als Studiodrummer beschäftigt, ungeduldig, was seine Chance als Solokünstler betraf. Vor seinem ersten Top-Ten-Hit «Pride and Joy» 1963 stand er deutlich im Schatten von Acts wie The Supremes oder Mary Wells.
Gayes Position bei Motown änderte sich, als er 1963 Berry Gordys Schwester Anna heiratete. Die Differenzen mit Gordy blieben jedoch. Gaye zeigte sich in dieser Zeit «nicht sehr glücklich mit vielen Entscheidungen über meine Karriere». Erst nach seiner ersten Nummer Eins, «I Heard it through the Grapevine» (1968), und seiner neuen Stellung als Motowns Verkaufsschlager emanzipierte sich Gaye allmählich. In den siebziger Jahren konnte er sich durch diesen Status einige künstlerische Autonomie erlauben, bis am Ende des Jahrzehnts seine Verkaufszahlen zurückgingen.
1977 wurde seine Ehe mit Anna Gordy geschieden. Das Album «In Our Lifetime» (1981), dessen Umsatz die fälligen Alimente an seine Exfrau einspielen sollte, führte zum endgültigen Zerwürfnis mit Motown. Gaye zufolge wurde die Platte ohne seine Zustimmung veröffentlicht. 1982 unterzeichnete er einen Vertrag mit CBS Records. Am 1. April 1984 wurde er von seinem Vater erschossen.