Klimapolitik: Kurz vor dem Infarkt

Nr. 27 –

Gegen den weltweiten CO2-Ausstoss ging bisher kaum jemand auf die Strasse. Doch dies könnte sich nun ändern. Der weltweit vernetzte Umweltaktivist Bill McKibben plant für diesen Herbst Grosses.


Normalerweise meiden WissenschaftlerInnen alarmistische Töne. Sie kümmern sich um ihre wissenschaftlichen Ergebnisse und vertrauen darauf, dass diese entsprechende politische Massnahmen nach sich ziehen. Sie belegen Missstände; den Protest überlassen sie anderen.

Das galt lange auch für KlimaforscherInnen - sie hofften, die Zahlen würden für sich sprechen. Doch so langsam ändert sich die Tonlage. In einem unlängst erschienenen Fachartikel warnt der US-amerikanische Klimatologe James Hansen schon einleitend vor «irreversiblen katastrophalen Folgen», wenn nicht bald einschneidende Massnahmen ergriffen würden. Das Vertrauen der WissenschaftlerInnen in die EntscheidungsträgerInnen bröckelt - zumal die schlechten Prognosen durch neue Daten laufend nach unten korrigiert werden: Die WissenschaftlerInnen bekommen es selbst mit der Angst zu tun. Sie wissen: Es sollte längst etwas geschehen. Doch es geschieht nichts. Und es ist absehbar, dass die Politik auch am nächsten Klimagipfel in Kopenhagen im Herbst keinen Gang höher schalten wird.

Die Wissenschaft forscht, die Politik entscheidet - im Prinzip ist das durchaus richtig so. Doch was, wenn die Warnungen nicht gehört werden? Wenn die Wissenschaft in alle Hörner bläst, die Politik aber taube Ohren hat? Was braucht es, damit die - überaus klare - Klimabotschaft endlich ankommt?

Hansens Höchstmarke

«Ich war kürzlich im US-amerikanischen Kongress», sagte der Autor und Klimaaktivist Bill McKibben anlässlich eines Besuchs in Zürich letzte Woche, «und der Tenor der Politiker war ganz klar.» Zwingt uns, vorwärtszumachen, hätten sie zu ihm gesagt - «make us do it». Was die Welt nun brauche, sei eine grosse Bewegung von unten, eine Mobilisierung der Massen. McKibben spricht vom Druck, den die Wirtschaft ausübe, um Klimamassnahmen zu verhindern - von der Macht des Lobbygeldes. Doch er glaubt, dass man dem etwas entgegensetzen könne. Einen Druck müsse man aufbauen, der so gross sei, dass die Politik nicht anders könne, als umzuschwenken. Man dürfe nicht einfach den PolitikerInnen die Schuld geben, sagt McKibben: «Wenn es keine Bewegung in der Bevölkerung gibt, gewinnen natürlich die Ölfirmen.»

Deshalb hat McKibben, der vor über zwanzig Jahren eines der ersten populärwissenschaftlichen Bücher über den Klimawandel geschrieben hat, eine Organisation ins Leben gerufen. 350 heisst sie, und verdankt ihren Namen dem Fachartikel von James Hansen, in dem der Klimatologe zu einem radikalen Schluss kommt. Die maximale CO2-Konzentration in der Atmosphäre, die das globale Klimasystem gerade noch verträgt, liege nicht in der Zukunft, argumentiert der Wissenschaftler, der Grenzwert sei vielmehr längst überschritten - seit bald zwanzig Jahren befinden wir uns im roten Bereich. 387 ppm (Teile pro Million) beträgt die aktuelle Konzentration. Je länger wir uns bei über 350 ppm befänden, desto gefährlicher werde die Situation, sagt Hansen.

Hansens Limit ist ambitiös. Doch es ist keineswegs aus der Luft gegriffen, es lässt sich nicht einfach als Umweltutopie abtun. Vor fünf Jahren noch haben die WissenschaftlerInnen eine Zahl von 500 bis 550 ppm genannt, wenn man sie nach einer CO2-Schmerzgrenze fragte. Diese Einschätzung liess uns ein schönes Polster: Die Konzentration nimmt jährlich um gut 2 ppm pro Jahr zu. Doch dann wurden die Prognosen der ForscherInnen schnell trüber: Vor zwei Jahren wurde die Latte, die den möglichen Klimakollaps markiert, auf 450 ppm herabgesetzt. Und nun hat Hansen die Marke nochmals deutlich nach unten korrigiert, nachdem er auch sogenannte Rückkoppelungseffekte in seine Studien miteinbezog, die die Wissenschaftsgemeinde bislang lieber unberücksichtigt liess, weil sie schwer zu beziffern sind. Wenn Hansen recht hat, ist es tatsächlich eher fünf nach als fünf vor zwölf.

Jetzt kommt die Angst

Die Durchsetzung des Ziels, die CO2-Konzentration auf 350 ppm zu reduzieren, kann vom Kopenhagener Gipfel nicht einfach erwartet werden. Doch die Marke setzt ein Zeichen, und sie ist ein konkreter Wert, an dem sich die Ergebnisse der Konferenz messen lassen. Ansonsten werde, fürchtet McKibben, bloss wieder mit diversen Zeitspannen und prozentualen Reduktionen jongliert - damit könnten sich die PolitikerInnen viel zu leicht aus der Affäre ziehen.

Dennoch: Sind solche Forderungen nicht kontraproduktiv? Wird durch Han- sens verstörenden Befund nicht einfach der Fatalismus genährt? Es ist, so könnte man daraus folgern, ohnehin zu spät. Was lohnt es sich denn da noch, schmerzhafte Massnahmen zu ergreifen?

Bill McKibben hat auf diese Fragen eine überraschende Antwort: Es sei für die Bewegung sogar von Vorteil, dass sich die Atmosphäre bereits im roten Bereich befände, sagt er. Man könne die Lage sehr gut mit der eines Patienten beim Arzt vergleichen: Solange dieser nur warne, dass der Cholesterinspiegel in ungesunde Höhen geraten könnte, fühle sich der Patient kaum motiviert, seinen Lebensstil zu ändern. Angst bekäme der Patient erst, wenn die schlechten Werte tatsächlich vorliegen und schwarz auf weiss nachzulesen sind. Die Krise droht nicht irgendwann in der Zukunft: «Die Umwelt steht kurz vor dem Infarkt.»

Aufgeladene 350

McKibben will den Protest an einem Aktionstag bündeln. Die Zahl 350 soll am 24. Oktober mit möglichst medienwirksamen Aktionen überall auf der Welt «aufgeladen» werden (vgl. «Der Spassfaktor ist wichtig» weiter unten). Danach sollte, so die Vision des Aktivisten, für möglichst viele Menschen klar sein, was sie bedeutet. Gelingt es, diese Zahl als politische Forderung weltweit zu verankern, wäre damit ein sehr ambitiöses Ziel für die darauffolgenden Verhandlungen in Kopenhagen formuliert, das nicht so leicht zu ignorieren wäre.

Bill McKibbens Idee schöpft aus der «Obama-Philosophie». Die Kampagne basiert auf einer attraktiven Website, auf der jeder und jede Einzelne Aktionen registrieren kann. Dabei sind nur zwei Dinge zu beachten. Die Aktion muss um die Zahl 350 kreisen und, vor allem: Sie muss über den jeweiligen Aktionsort hinausgetragen werden können, sei es auf der Internet-Videoplattform Youtube oder in den klassischen Medien. Das übliche Demonstrationsritual interessiert McKibben nicht. Er will die Leute auch nicht für kleinformatige Klimaschutzprojekte gewinnen. Er versucht, für einen Tag das Interesse der globalen Aufmerksamkeitsmaschine auf das Projekt zu lenken und so Druck von unten zu erzeugen, um oben etwas in Bewegung zu bringen.

«tck tck tck»

Bill McKibben ist nicht der Einzige, der das Jahr 2009 als das wichtigste in der Klimageschichte betrachtet. Bis im Dezember dürften weltweit zahlreiche gross angelegte Kampagnen starten. International formiert sich momentan die Global Campaign for Climate Action (GCCA), eine grosse Allianz von nichtstaatlichen Organisationen (NGOs) mit unterschiedlichstem Hintergrund, die unter dem Motto «tck tck tck» den Countdown bis Kopenhagen hinunterzählt (auch 350 hat sich der Allianz angeschlossen). Dazu kommt eine Vielzahl weiterer Aufrufe für Aktionstage und Demonstrationen im Vorfeld und während der Konferenz in Kopenhagen. Auch in der Schweiz sind Aktionen geplant (vgl. «Internationale Kampagnen» weiter unten).

Und was halten die Platzhirsche von den neuen UmweltaktivistInnen? Matthias Gunsch von Greenpeace Schweiz findet grundsätzlich jedes Engagement in Sachen Klimaschutz gut und hilfreich. Eine gewisse Gefahr sieht er allerdings, wenn die Botschaften zu vielfältig werden. NGOs fordern von den Industrieländern üblicherweise prozentuale CO2-Reduktionen. Das Ziel 350 hingegen habe einen ganz anderen Ansatz, was «eventuell Verwirrung stiftet». 350 bringe aber tatsächlich etwas Neues, was die Chance biete, Leute anzusprechen, die Greenpeace oder der WWF nicht erreiche.

Die Klimathematik sei für die Kommunikation der Umweltorganisationen eine grosse Herausforderung, sagt Gunsch; es sei «schwierig», eine eigentliche Klimabewegung ins Rollen zu bringen. Das Hauptproblem sei wohl, dass die Menschen die Dramatik des Klimawandels noch nicht am eigenen Leib spürten. Dennoch werde Greenpeace auch beim Klimaschutz weiterhin versuchen, «mit angestammten Mitteln wie direkten Aktionen Druck aufzubauen». Das aktive Lobbyieren werde stärker von anderen NGOs wie dem WWF betrieben.

Auch McKibben setzt mit seinem Projekt nicht auf konkrete Umweltarbeit - weder oben bei den EntscheidungsträgerInnen noch unten bei den KonsumentInnen. 350 ist tatsächlich stark auf Kopenhagen fokussiert, was McKibben auch schon den Vorwurf eingebracht hat, ein wenig nachhaltiges 24-Stunden-Feuerwerk zu inszenieren. Warum versucht er nicht, statt symbolträchtigen Aktionen möglichst viele kleinformatige Klimaschutzprojekte anzustossen? Darauf hat er eine einfache Antwort: «Wir sind längst über den Punkt hinaus, wo es mit dem Auswechseln einer Glühbirne getan ist. Was wir jetzt brauchen, ist eine politische Bewegung.»



«Der Spassfaktor ist wichtig»



WOZ: Bill McKibben, Sie haben eine Kampagne lanciert, in der Sie fordern, die CO2-Konzentration müsse auf 350 ppm (parts per million) reduziert werden. Warum diese Zahl?

Bill McKibben: Ich fand, dass wir einen konkreten Anhaltspunkt, eine Zahl, für eine Forderung brauchen. Deshalb habe ich James Hansen gebeten, die maximal tolerierbare CO2-Konzentration abzuschätzen.

Die Idee der Zahl war von Anfang an wichtig?

Ja. Ich merkte, dass eine nackte Zahl, obwohl sie zunächst abstrakt ist, grosse Vorteile hat. Sie kann problemlos Sprachbarrieren überwinden. Und sie lässt sich sehr leicht mit Bedeutung aufladen.

Das heisst, Sie versuchen, die Aktionen nicht auf die westliche Welt zu beschränken?

Ich habe den Eindruck, dass vielleicht zum ersten Mal der Norden und der Süden in einem Umweltanliegen wirklich zusammenarbeiten. Es zeichnet sich jetzt schon ab, dass es in Indien sehr viele Aktionen geben wird, und sogar in China sind welche geplant. Dort bietet 350 ebenfalls einen Vorteil, weil die Aktionen nicht primär als politische Demonstrationen angesehen werden.

Sie haben also mit der klassischen Idee von Demonstrationen nichts am Hut?

Nein, heutzutage braucht man keinen Marsch nach Washington mehr zu organisieren, um auf sich aufmerksam zu machen. Unser Ansatz ist dezentral. Wir brauchen möglichst viele Aktionen, und zwar nicht an politisch wichtigen, sondern vielmehr an symbolträchtigen Orten.

Werden die Leute mitmachen?

Wir haben die Website 350.org vor einem Monat aufgeschaltet, seither sind bereits über tausend Aktionen registriert worden. Die Leute hatten viel zu lange das Gefühl, dass sie gar nicht wirklich etwas gegen den Klimawandel tun können. Womöglich wird der 24. Oktober der grösste Umweltevent, den die Welt je gesehen hat.

Der Erfolg von 350 steht und fällt mit der Medienpräsenz. Wie schafft man es am besten auf Youtube oder ins Fernsehen?

Der Spassfaktor ist wahnsinnig wichtig. Die Aktionen müssen dramatisch und spannend und nicht unbedingt bierernst sein. Wir brauchen kreative Ideen - in einem gewissen Sinn ist 350 auch ein Kunstprojekt.

Internationale Kampagnen

Die Global Campaign for Climate Action (Mitglieder sind unter anderen Oxfam, WWF, Greenpeace, Equiterre) betreibt eine Online-Petition auf tcktcktck.org. Anlässlich der New York Climate Week plant sie dort am 22. September einen grossen Aktionstag.

Auch zu Demonstrationen in Kopenhagen während des Klimagipfels ruft die Global Climate Campaign auf (www.globalclimatecampaign.org). Frischer Wind für die Klimabewegung kam von den «Yes Men», einer Aktionsgruppe zwischen Politik und Kunst. Sie hat mitgeholfen, Mitte Juni eine falsche, auf den 19. Dezember 2009 datierte «Herald Tribune» zu produzieren, die einen grossen Durchbruch in Kopenhagen vermeldete. Die Gruppe steht auch hinter einer Website, die zivilen Klima-Ungehorsam propagiert (beyondtalk.net).

In der Schweiz wird es bei Utzenstorf BE im Juli ein Klima-Camp mit Workshops geben (netzwerkzeug.org). Und am 17. Oktober plant die Klimaallianz ein grosses Fest auf dem Berner Bundesplatz.