Wilhelm Genazino: Unterwegs im bösen Alltag

Nr. 27 –

In seinem neuen Roman «Das Glück in glücksfernen Zeiten» erweist er sich als virtuoser Alltagsbeschreiber. Zuweilen aber leider auch als alternder Chauvinist.


«Ich möchte gute, aufstrebende, meinetwegen einfältige Menschen anschauen, um von meiner inneren Überempfindlichkeit loszukommen. Stattdessen erblicke ich diese angeschlagenen Untergeher, die meine Empfindlichkeit nur aufreizen. Manchmal (jetzt gerade wieder) stelle ich mir vor, ich würde an einer plötzlich hereinbrechenden Überempfindlichkeit sogar sterben.»

Der deutsche Schriftsteller Wilhelm Genazino, Jahrgang 1943, lebt in Frankfurt am Main. Diese Stadt und ihre Umgebung hat er im Griff. Das beweist er auch in seinem neuen Buch, dessen Hauptfigur der Icherzähler Gerhard Warlich ist, Inhaber eines Doktortitels (Philosophie), der sein Leben indes als Geschäftsführer bei einer Grosswäscherei verdient, nicht ohne Mühe und mit einigen Umwegen, bis er fristlos entlassen wird und schliesslich in einer psychiatrischen Klinik landet. Sein Traum wäre die Eröffnung einer «Schule der Besänftigung» gewesen und sein Ziel ein «Halbtagsleben».

Scheinbar harmloser Plauderton

Dass man mit solchen Ideen in einer westlichen Hochleistungsgesellschaft kein leichtes Leben hat, versteht sich von selbst. Das weiss natürlich auch Warlich, der freilich nicht müde wird, seine Erlebnisse und Empfindungen in der ihm eigenen Art preiszugeben. Auch seine Wohnung, die er mit Traudel teilt, ist allmählich keine richtige Zuflucht mehr. Denn Traudel, eine noch recht junge Frau, die in der ferneren Agglomeration eine Bankfiliale leitet, möchte plötzlich doch noch ein Kind. Dieser Wunsch trifft den 41-Jährigen wie ein Schlag. Von nun an beschleunigt sich die Vereinsamung des Einzelgängers, der auf immer weniger Verständnis stösst. Nach aussen hin bewahrt er auf seinem Spaziergang durch einen bösen Alltag aber doch eine gespielte Heiterkeit, die in der Anstalt, wohin ihn Traudel plötzlich gebracht hat, zu einer Art Glück wird.

Genazino ist ein begnadeter Erzähler, ein sehr genauer Beobachter und ein Meister des scheinbar harmlosen Plaudertons, in dem eine starke Dosis Ironie ruht und viel Überlebensmut - allem Ungemach zum Trotz. Es ist ein Vergnügen, ihm zu lauschen und mit ihm auf die Pirsch zu gehen, in einer harten, erbarmungslos zubetonierten Welt voller unscheinbarer Wesen, die im Grunde nicht wissen, was mit ihnen geschieht, aber jetzt halt einfach einmal da sind und schauen müssen, wie sie weiterkommen. Die Wirklichkeit, in der sie sich bewegen, ist erschütternd eintönig, von kapitalistischen und technologischen Zwängen geprägt.

Weinen auf dem Parkplatz

Während die Hauptgestalt des Romans sehr deutlich in Erscheinung tritt, bleibt die Gefährtin vage und blass - als ob sich der Autor nicht ganz an sie herantrauen würde. Und die Sexszenen zwischen dem Brustfetischisten Gerhard und der robusten und sehr realistischen Traudel riechen ein bisschen nach alter Machomanier; da haben die Leserinnen sicher zu Recht ihre Einwände.

Autor und Icherzähler werden nicht müde, winzige und witzige Details der tristen Rhein-Main-Wirklichkeit zu entdecken. Scheinbar nebenbei gelingen ihnen Perlen von Sätzen, wie: «Man legt lange Strecken zurück, bis man erkennt, weiteres Umhergehen wird ergebnislos bleiben, also lässt man sich nieder und ersetzt das Umhergehen durch Umherschauen.» Oder: «Ich weiss nicht, warum ich für alles, was scheitert oder im Niedergang begriffen ist, Sympathie empfinde.» Oder: «Man kann auf einem grösseren Parkplatz ohne weiteres ein bisschen weinen; es fällt niemandem auf, und es ist ein Wohlgefühl, dass niemandem etwas auffällt.»

Die Sprache des Wilhelm Genazino kommt unerhört leichtfüssig daher, aber ab und zu ist sie so virtuos einfach, dass sie wie unpathetisches Pathos wirkt. Das Buch ist rasch gelesen, ein paar Seiten mehr würde man gerne noch in Kauf nehmen, zumal der Schluss ziemlich abrupt dargeboten wird.

Wilhelm Genazino: Das Glück in glücksfernen Zeiten. Roman. Carl Hanser Verlag. München 2009. 158 Seiten. Fr. 31.90