Die Romanautorin: « Mein Held Finn Linder leidet am Alltag»

Nr. 40 –

In ihrem zweiten Roman «Maus im Kopf» schlüpft Sandra Hughes in die Haut eines arbeitslosen Buchhalters – eine szenische Reise in die klaustrophobischen Hirnwindungen eines verhinderten Amokläufers. Die WOZ traf die Autorin in einer Kaffeebar in Allschwil.


Montagmorgen, 8.30 Uhr. Treffpunkt für das Gespräch mit Sandra Hughes ist eine Kaffeebar auf der Lyss. Hier kreuzt auch der Antiheld Finn Linder in ihrem Roman «Maus im Kopf» auf einem seiner Irrwege durch Basel auf.

Der Montagmorgen ist eigentlich Hughes’ Schreibhalbtag. Um 7.40 Uhr geht Sohn Max aus dem Haus, 12.15 Uhr kommt er aus der Schule. Das gibt, wenn man den zweiten Schreibhalbtag am Freitagmorgen dazuzählt, neun Stunden pro Woche fürs Schreiben. Schriftstellern auf Zeit – wenn nichts dazwischen kommt und der Staubsauger im Kasten, die Wäsche schmutzig und das Telefon auf dem Hörer bleibt.

Aus heiterem Himmel

Sandra Hughes (43) ist Berufsfrau und Familienfrau. Ihr Alltag ist durchorganisiert. Zweieinhalb kompakte Tage die Woche arbeitet sie bei den Museumsdiensten Basel im Bereich Bildung und Vermittlung. Im Januar 2001 führte sie mit den Museen Basel die erste Museumsnacht durch, sieben Jahre leitete sie das Projekt. Hughes lebt mit Mann und Sohn in Allschwil. An den Wochenenden kommen oft auch noch die beiden älteren Kinder ihres Mannes zu Besuch. Ihre «Egozeit» setzt sie fürs Schreiben am Computer ein.

«Das Schreiben kam aus heiterem Himmel», erzählt die Autorin, die 2003 mit dem viel beachteten modernen Schelmenroman «Lee Gustavo» debütierte. Sie komme eigentlich vom «Basteln» her. Während ihres Studiums der Kunstwissenschaft in Basel hatte sie mit einer Freundin ein Atelier in einem alten Gewächshaus in Dornach. Dort entstanden «verspielte Objekte», wie sie es nennt: Tastkisten zum Beispiel oder eine «Chlötzli»-Skulptur aus Gips zum Selbstzusammensetzen.

Als sie im Sommer 1998 zwischen zwei Anstellungen zweieinhalb Monate Zeit zum Verschwenden hat, beginnt sie mit dem Schreiben. Ihr erster Versuch ist eine autobiografische Erzählung über ihre Suche nach dem Vater, der in die USA zurückkehrte, als sie zwei Jahre alt war. Zwanzig Verlagen schickt sie das Manuskript. Drei positive Reaktionen kommen zurück, darunter der sinngemässe Satz von Liliane Studer (vgl. Seite 7 in der Printbeilage), ihrer heutigen Lektorin beim Limmat-Verlag, sie solle dranbleiben und die Ichfigur mehr herausarbeiten.

Das Manuskript bleibt liegen. Als Max mit drei Jahren in die Spielgruppe geht, setzt sich Sandra Hughes erneut an den Schreibtisch. 2003 erscheint ihr erstes Buch «Lee Gustavo». Die Abenteuer des unverbesserlichen Überlebenskünstlers Lee Gustavo ernten viel Lob von der Kritik. Die Schweiz hat eine neue Erzählstimme.

Und nun also das zweite Buch, das es bekanntlich niemandem recht machen kann. Wie schon bei «Lee Gustavo» lautet das Motto bei «Maus im Kopf»: einer gegen alle. Doch dieses Mal folgen wir den Fussstapfen eines hundertprozentigen Losers: Finn Linder, 43, lebt in einem kleinen Haus an der Grenze von Basel zu Allschwil. Er hat schon mindestens 953 Kreuzworträtsel gelöst und verbringt die meiste Zeit am Computer. Am liebsten tut er addieren: «Zahlen sind sein Metier, sie sind verlässlich.» Doch selbst sie geraten durcheinander: Als seine Bilanzen, die er seit neunzehn Jahren im selben Treuhandbüro ausführt, nicht mehr stimmen, wird er entlassen.

Rache ist Rumcake

Finn kann einem richtig leidtun: Zuerst hat ihn seine Mutter nicht gewollt, dann ist ihm die Frau davongelaufen, und jetzt hat er seine Stelle verloren. Doch nicht genug: Er ist auch noch hässlich und fett. Als Teenager verspürte er vor seinen Fressattacken wenigstens noch unbändige Lust – auf Kartoffelchips, Heringe, Zitronentörtchen und mehr. Doch an seinem 18. Geburtstag bleiben die Unmengen plötzlich in seinem Hals stecken. Sein Gaumenzäpfchen reagiert nicht mehr auf die penetranten Kitzeleien seines Fingers. Er hat keine Macht mehr über seinen Magen, kann den «drückenden Ballast» nicht mehr loswerden. Ausgekotzt.

Frage: Was macht ein ordnungsliebender «Chnorzi», ein elender Verlierer, ein armes Würstchen, das ständig und von allen auf den Deckel kriegt? Antwort: ein Ventil für die aufgestaute Wut suchen. Finn zermanscht und verschmiert den Rumcake, den er für eine Arbeitskollegin gebacken hat. Er flüchtet in die Welt des Cyberspace und findet im Chatroom das verheissungsvolle Mittel zum endgültigen Vernichtungsschlag gegen alles Böse beziehungsweise alle Bösewichte auf dieser Welt. Doch auch mit diesem Plan scheitert er ...

Was treibt Sandra Hughes dazu an, sich auf eine derart jämmerliche Figur einzulassen? Der äusserliche Anlass seien eine Reihe von Amokläufen in der Schweiz gewesen, erzählt die Autorin: Wie und wie weit muss sich die Welt für jemanden verrücken, dass er ausflippt? «Finn Linder ist ein einsamer Mann, der alles Böse und Brutale, das ihm begegnet, in sich hineinfrisst.» Ein singuläres dramatisches Ereignis in seinem Leben, einen biografischen Grund gebe es dafür nicht, erklärt sie: «Finn Linder leidet am Alltag.»

Lieber bös als brav

«Ich versuchte, in seine Haut zu schlüpfen», beschreibt Sandra Hughes ihre Erzählhaltung in der dritten Person, die zugleich aus der Figur heraus kommt und neben ihr hergeht. Szene um Szene folgen wir Finn Linder durch die Strassen der Stadt: Sinnbild für den zunehmenden Wahnsinn, der sich in seinen Hirnwindungen abspielt. Die Autorin lässt ihrem Antihelden keine Chance, irgendwie vom Fleck zu kommen. Bis zum offenen Schluss nicht. Klar bleibt nur eines: Linder muss die titelgebende «Maus im Kopf» beziehungsweise jenes Viech hinter der Badezimmerwand, das ihn mit seinem schrillen Kichern und «chtchtcht» zur Verzweiflung treibt, auslöschen. Oder er geht selbst drauf.

«Der Mensch kann ja so bösartig sein», sagt Sandra Hughes und nimmt einen Schluck heisse Schokolade. Es sei selbstverständlich spannender, menschliche Abgründe auszuleuchten, als tüchtige ErdenbürgerInnen zu beschreiben. Finn sei zwar ein armes Schwein, aber handkehrum sei es durchaus begreiflich, dass man auf ihm rumtrample, so ungeschickt wie der sich benehme.

Das Buch ist geboren, Sandra Hughes hat ihren Loser wieder abgeschüttelt. «Es war viel Leiden mit Finn Linder», so die Autorin über ihren Protagonisten in «Die Maus im Kopf». Für ihr nächstes Buch suche sie eine «leichtere» Figur. Die kriminalistischen Erzählmomente, die in ihren beiden bisherigen Büchern vorkommen, will sie vermehrt dramaturgisch nutzen.

9 Uhr. Wenn Sandra Hughes zügig Velo fährt, ist sie vor 10 Uhr daheim. Dann bleiben ihr an diesem Montagmorgen noch gute zwei Stunden fürs Schreiben, bevor wieder «Max-Zeit» ist.

Sandra Hughes: Maus im Kopf. Roman. Limmat Verlag. Zürich 2009. 198 Seiten. 32 Franken