Spanien: Ein Land sucht eine Zukunft
Kaum ein anderer westeuropäischer Staat durchlebt derzeit eine solche Wirtschaftskrise wie Spanien. Und doch steht die Sozialdemokratie vergleichsweise gut da. Warum?
Die spanische Wirtschafts- und Finanzministerin Elena Salgado verbreitet Optimismus. «Wir haben die Talsohle erreicht, ab jetzt geht es bergauf», sagte sie am Wochenende. Dabei zeigen die jüngst veröffentlichten Konjunkturdaten immer noch Richtung Keller: Die Arbeitslosenquote liegt bei achtzehn Prozent und steigt weiter. Das Bruttoinlandsprodukt schrumpfte in den letzten zwölf Monaten um über vier Prozent, der Verkauf von Investitionsgütern brach um fast dreissig Prozent ein. Eine Erholung sei nicht vor 2014 zu erwarten, stellte kürzlich der Internationale Währungsfonds fest.
Dass sich Spanien nicht so schnell erholen würde, war zu erwarten. Auch wenn die internationale Finanzmarktkrise eine Rolle spielte, so sind die Probleme doch hausgemacht. Für die Krise ist in erster Linie die Immobilienblase verantwortlich, die in den letzten Jahren entstanden war. Über lange Zeit hinweg war die Baubranche Spaniens stärkster Beschäftigungsmotor gewesen. Im vergangenen Jahrzehnt wurden jährlich rund 800 000 neue Wohnungen und Häuser hochgezogen – mehr als in Frankreich und Deutschland zusammen. Mitte letzten Jahres kam dann der Absturz. Mehr als eine Million Neubauwohnungen finden seither keine KäuferInnen; fast ein Viertel der über vier Millionen Arbeitslosen kommt aus der Bauindustrie.
Spanien steckt tiefer in der Rezession, als die Regierung bislang zugibt; die Staatskassen sind leer. Das zwingt Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero zu unangenehmen Entscheidungen. Er muss einige seiner Wahlversprechen zurücknehmen – etwa die Kürzung der Lohnsteuer, die die Beschäftigten jährlich um 400 Euro hätte entlasten sollen. Stattdessen will seine Regierung aus Budgetgründen die Mehrwertsteuer um zwei Prozentpunkte auf achtzehn Prozent anheben – eine Entscheidung, die vor allem die ärmere Bevölkerung trifft, also die WählerInnen der sozialdemokratischen PSOE. Die reagieren, so Meinungsumfragen, empört. Die Preissteigerung soll zwar erst im Juli 2010 stattfinden («wenn sich die Wirtschaft bereits wieder im Aufschwung befindet», so Ministerin Salgado), könnte aber politisch zum Bumerang werden.
Mehr Geld auch für Sozialausgaben war bisher ein fester Bestandteil der PSOE-Politik gewesen. Auf Druck der Gewerkschaften und der während der letzten Legislaturperiode noch starken Vereinten Linken (IU) hat die PSOE-Regierung seit ihrem Amtsantritt im März 2004 die Staatsausgaben im sozialen Bereich deutlich angehoben: Zapatero (das spanische Wort für Schuster) hob die Mindestrenten um dreissig Prozent an, liess mehr staatliche Schulen bauen, gab den Universitäten mehr Geld, förderte den sozialen Wohnungsbau und liess Müttern einen «Baby-Scheck» in Höhe von 2500 Euro überreichen.
Wenige wurden verwöhnt
Für solche Programme fehlt jetzt das Geld. Daher plädiert auch die linke IU für Steuererhöhungen. «Weniger Steuereinnahmen bedeuten mehr Krise und mehr Arbeitslose», sagt IU-Vorsitzender Cayo Lara. Allerdings hat der linke Politiker eine andere Steuerpolitik im Sinn als die PSOE: Statt die Mehrwertsteuer zu erhöhen, will die IU mit einer Anhebung des Spitzensteuersatzes um fünf Prozent die Besserverdienenden zur Kasse bitten und die Lohnsteuer der einkommensschwachen Lohnabhängigen (mit einem Verdienst von 1000 Euro oder weniger im Monat) um ein Viertel reduzieren. Ausserdem, so die IU, könnten die Kapitalertragssteuer progressiv gestaltet und die Investmentgesellschaften höher besteuert werden.
Selbst die rechtslastige Tageszeitung «El Mundo» – die sonst die konservative Volkspartei PP unterstützt – weist solche Pläne nicht von der Hand. Die wirklich Reichen seien seit 1985 vom Finanzamt und von allen Regierungen «verwöhnt» worden, kritisiert das Blatt: Allein in den letzten fünf Jahren hätten die Investmentgesellschaften bei einem Gewinn von 8 Milliarden Euro gerade mal 56 Millionen Euro Steuern gezahlt.
Ein Drittel mit Zeitvertrag
Dieses Missverhältnis hat die Regierung durchaus erkannt. Im Juni kündigte sie eine Steuererhöhung für Vermögen, hohe Einkommen und Unternehmensgewinne an. Bisher ist daraus aber nichts geworden – wohl vor allem deswegen, weil die Regierung derzeit einem Streit mit dem Unternehmerverband CEOE aus dem Weg geht. Mit dem liegt sie seit ihrem Amtsantritt im Clinch.
Denn der CEOE nutzt die Krise und fordert eine umfassende Arbeitsmarktreform. Neue Arbeitsplätze, so der Verband, würden nur geschaffen, wenn Kündigungen nichts kosten und die Sozialbeiträge für die Unternehmen sinken. Die grossen Gewerkschaften UGT und CCOO drängen hingegen auf eine Senkung des Anteils zeitlich befristeter Arbeitsverhältnisse. Denn Spanien ist im EU-Vergleich nicht nur bei der Arbeitslosenquote an der Spitze. In keinem anderen EU-Staat ist die Quote von zeitlich befristeten Beschäftigungsverhältnissen höher. Und nur in drei anderen Staaten gibt es im Verhältnis mehr Unfälle am Arbeitsplatz. Als Folge verlangen die Gewerkschaften mehr Schutzmassnahmen und striktere Vorschriften.
Ausserdem, so argumentieren sie, sei der spanische Arbeitsmarkt ohnehin schon sehr flexibel. So gibt es beispielsweise keinen wirklichen Kündigungsschutz: Nach einer Frist von fünfzehn Tagen kann jede und jeder gefeuert werden, egal ob das Beschäftigungsverhältnis zwei Monate oder zwanzig Jahre dauerte. Der Unterschied liegt lediglich in der Entschädigung: Beschäftigte mit befristeten Verträgen fliegen zum Nulltarif raus, Festangestellte erhalten 45 Tage Nettolohn pro Beschäftigungsjahr. Ein Drittel aller Erwerbstätigen hat mittlerweile nur einen Zeitvertrag – mit der Folge, dass in den vergangenen Monaten ein ganzes Heer von ArbeiterInnen und Angestellten ohne Entschädigung auf die Strasse gestellt wurde.
Bisher hält Zapatero dem Druck der Unternehmen stand. Am Wochenende bekräftigte Vizeregierungschefin Maria Teresa Fernández de la Vega, dass «eine Reform der Arbeitsmarktpolitik nur nach Absprache mit den Gewerkschaften» eingeleitet werde. Doch allmählich macht sich Nervosität breit. Zumal in diesem Monat der Staatshaushalt 2010 verabschiedet werden muss.
Die nationale Frage
Seit Monaten verhandelt PSOE mit allen Parteien und insbesondere den im Parlament vertretenen nationalistischen Gruppierungen aus Katalonien, dem Baskenland und Galicien über deren Unterstützung für den Budgetentwurf; abschliessend debattiert wird Mitte nächster Woche. Sollte das Haushaltskonzept der Regierung wider Erwarten nicht durchkommen (die PP stimmt auf jeden Fall dagegen), wären Neuwahlen fällig. Und die würden derzeit die Rechtskonservativen gewinnen: Laut einer Umfrage der linken Tageszeitung «Público» kann die PSOE derzeit nur noch 38 Prozent der Stimmberechtigten überzeugen, die PP hingegen 43 Prozent.
Wie in anderen Ländern tendieren also offenbar auch die SpanierInnen dazu, ausgerechnet jene Partei zu wählen, die für die Krise verantwortlich ist: Die PP-Regierung von José María Aznar hat während ihrer Amtszeit von 1996 bis 2004 den ungezügelten Bauboom tatkräftig gefördert.
Und doch sagt die Umfrage nicht allzu viel aus. Denn das Wahlverhalten ist immer noch stark von der Geschichte geprägt. Im Grund stehen sich zwei Blöcke gegenüber. Auf der einen Seite drei relativ starke regionale Bewegungen: Galicien, das Baskenland und Katalonien wurden ab Ende der Franco-Diktatur 1975 fast immer von nationalistischen Parteien regiert, die für mehr Autonomie kämpfen oder – wie im Fall des Baskenlands – gar für eine Unabhängigkeit von Spanien. Auf der anderen die rechtskonservative PP, die aus einer franquistischen Partei hervorgegangen ist (vgl. Kasten), mit ihrem spanisch-imperialen Nationalismus. Die Volkspartei ruft bei jeder Gelegenheit zur Verteidigung der ihr heiligen «Einheit des Vaterlands» auf: Wer diese Einheit infrage stellt, und sei es nur in Form eines gemässigten Föderalismus, wird von der Rechten bekämpft.
Zwischen den beiden Extremen befindet sich die PSOE. Der permanente Aufruf der PP, Spanien auch gegen potenzielle FeindInnen aus dem eigenen Land zu verteidigen, fällt in den zentral gelegenen Landesteilen wie Kastilien, La Rioja und Madrid auf fruchtbaren Boden. An der Peripherie hingegen können die Menschen damit weniger anfangen. Deswegen hat die PSOE dort traditionell die besseren Chancen. Den SozialdemokratInnen ist zwar die Einheit Spaniens ebenfalls wichtig, aber sie halten – anders als die PP – nicht am starren Zentralismus fest.
Der Ausgang der nächsten Parlamentswahl (wahrscheinlich im Jahre 2012) wird vermutlich wieder von der Wahlbeteiligung abhängen. In Spanien bleiben eher die Linken der Urne fern. Die PSOE konnte die letzten beiden Wahlen vor allem deswegen gewinnen, weil sie die Menschen zu mobilisieren verstand. Zwischen links und rechts hat sich in letzter Zeit nur wenig verschoben. Die PP kam bei allen Wahlen seit 1996 auf rund zehn Millionen Stimmen.
Zapatero, der Schuster, muss vor allem die jüngeren Generationen von seiner Politik überzeugen. Das wird er nur schaffen, wenn er bei seinem Leisten bleibt, also eine Sozialpolitik betreibt, die bei den Menschen ankommt. Die Frage ist, wie lange er noch über genug Geld verfügt – und wo er es herholt.
Francos Einfluss auf die spanische Rechte
Die spanische Volkspartei PP ist mit anderen konservativen Parteien Europas nicht zu vergleichen – und zwar aus einem einfachen Grund: Ihre politischen Ideen basieren nach wie vor auf der totalitären Ideologie der Diktatur (1939–1975) von Francisco Franco.
Die PP war 1989 durch Umbenennung aus der 1976 von Franco-AnhängerInnen gegründeten rechtskonservativen Volksallianz AP entstanden und verkörpert wie keine andere Partei einen rigiden Nationalismus. Dieser spricht dem Land die Plurinationalität ab und zielt auf ein Verschwinden oder zumindest eine Unterordnung der katalanischen, baskischen und galicischen Kulturen und Sprachen. Das franquistische Erbe ist – trotz der PP-Eigendarstellung (christlich-konservativ und wirtschaftsliberal) – auch personell unverkennbar. José María Aznar zum Beispiel, von 1996 bis 2004 spanischer Regierungschef, entstammt dieser Tradition: Nach Francos Tod hatte er sich mehrfach öffentlich gegen einen Übergang zur Demokratie ausgesprochen. Der inzwischen 87 Jahre alte Politiker Manuel Fraga Iribarne ist ein weiteres Beispiel. Der AP-Begründer, der unter Franco Informations- und Tourismusminister war, ist nach wie vor einer der einflussreichsten PP-Politiker.
Diese personelle Kontinuität erklärt auch, warum sich die PP nach wie vor weigert, den Franquismus als das zu erkennen und zu bezeichnen, was er war: eine faschistische Diktatur. Bis heute lehnt es die Partei ab, die franquistischen Verbrechen zu verurteilen; für sie war die Diktatur lediglich ein «autoritäres Regime». Erst vor drei Jahren war die PP im Europäischen Parlament eine Allianz mit den Ultrarechten eingegangen, um zu verhindern, dass das Parlament das Franco-Regime öffentlich verurteilt. Das ist der PP zwar nicht gelungen, aber eine Scheu vor den Rechtsradikalen kennt diese Partei bis heute nicht.