Theodor Bergmann: Der vorsichtige Optimist

Nr. 13 –

Der 1916 geborene Theodor Bergmann erlebte als Jugendlicher in Berlin die Spaltung der Linken und den Aufstieg der Nazis. Einer seiner Brüder wurde 1940 von der Schweiz nach Deutschland ausgeschafft und dort hingerichtet. Neben dem Interesse an seiner Familiengeschichte befasst er sich bis heute mit Themen wie Zionismus, China und linker Agrarpolitik.

  • Theodor Bergmann (99) in seiner Wohnung in Stuttgart: «Gestern war ich noch an einer Demonstration gegen die fremdenfeindliche Pegida. Es war eine freundliche Atmosphäre.»
  • Fotos von Theodor Bergmanns Bruder Alfred: «Alfred wurde im April 1940 festgenommen und von der Kantonspolizei Aargau an die deutsche Grenze bei Waldshut gestellt. Die Deutschen Grenzbeamten liessen ihn nach Berlin überführen. Dort wurde er nur wenige Tage später ohne Gerichtsverfahren von den Nazis hingerichtet.»
  • Theodor Bergmann (99) in seiner Wohnung in Stuttgart.

WOZ: Herr Bergmann, Sie sind jetzt 99 Jahre alt. Aufgewachsen sind Sie in Berlin, in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Was hat Sie da am meisten geprägt?
Theodor Bergmann: Die linke Arbeiterbewegung, die auch eine grosse Kulturbewegung war, und meine fünf älteren Brüder. Ernst, der dreizehn Jahre älter war als ich, führte mich in die Naturwissenschaften ein. Er studierte Chemie und Physik und arbeitete als Dozent. Als die Nazis an die Macht kamen, wurde er entlassen, weil er Sozialist und Jude war. Meine Brüder waren alle links, drei waren kritische Kommunisten.

Ich habe vieles mitgemacht. Ich war im Arbeitersport aktiv und schloss mich mit dreizehn der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei-Opposition (KPD-O) an, einer Abspaltung der Kommunistischen Partei. Da ich in der Schule wenig zu lernen hatte, half ich viel mit – beim Druck von Zeitungen und Flugblättern – und habe dort die Diskussionen der führenden Köpfe der Partei miterlebt. Sie waren aus der KPD ausgeschlossen worden, weil sie deren Feindschaft gegenüber der SPD nicht mittragen wollten.

Da waren Sie gerade mal dreizehn Jahre alt!
Ich fing früh an, mich für Politik zu interessieren.Es passierte ja so viel. Und in der Schule hatten wir reaktionäre Lehrer. Ich besuchte ein sehr konservatives Gymnasium. 1929 warf man mich dort raus, weil ich mich auflehnte. Ich kam dann in eine viel progressivere Schule mit sozialdemokratischem Rektor und linken Lehrern. Dort wurden mehrheitlich Arbeiterkinder unterrichtet. Die Atmosphäre war ganz anders.

Sie haben vorhin die Arbeiterbewegung auch eine Kulturbewegung genannt. Wie äusserte sich das?
Jeder Arbeiter fand da etwas. Es gab ja nicht nur Gewerkschaften und Konsumvereine, es gab auch Arbeitersport, Arbeiterschach, Arbeiterfotografen, den Arbeitersamariterbund, den Arbeiterabstinentenbund – einer meiner Brüder, der Medizin studierte, hat dort unterrichtet –, und es gab sogar eine Gesellschaft für Sexualaufklärung. Das Ganze war auch eine grosse Bildungsbewegung. All diese Strukturen waren ursprünglich Orte, an denen über die Parteigrenzen hinweg miteinander diskutiert wurde. Da gab es noch eine Gemeinschaft der Linken. Die KPD hat diese durch die Sozialfaschismusthese – also die Behauptung, die SPD sei faschistisch – zerstört.

Man kennt die Arbeiterbewegung aus dieser Zeit heutzutage vor allem durch die Lieder. Wie wichtig waren diese damals?
Die Lieder wurden überall gesungen. Auch beim Arbeitersport am Wochenende. Die Lieder kann ich heute noch.

Wie konnten es die Nationalsozialisten schaffen, innert weniger Jahre eine so grosse Arbeiterbewegung zu zerschlagen?
Die Bewegung war ja gespalten. Die KPD hat Streiks gegen den Willen der Gewerkschaften durchgeführt, etwa beim Verkehrsarbeiterstreik 1932. Da hat die KPD mit Arbeitslosen die Wagenremisen blockiert. Die Arbeitslosen wurden gegen die Arbeiter gestellt. Die Kluft wurde immer tiefer. Sozialdemokraten und Kommunisten prügelten sich. Die KPD wurde zur Arbeitslosenpartei, der sogenannte Rote Wedding zu einem Stadtteil der Arbeitslosen. Die waren radikal in ihrer Wut, aber nicht mehr so kampffähig. Es fehlte die Bildungsarbeit.

Zwar gab es mit dem Erstarken des Faschismus die Forderung nach einer Einheitsfront. Aber die KPD wollte die nur unter ihrer Führung – das Gegenteil von Einheitsfront. Auch die SPD trug zur Spaltung bei. Karl Zörgiebel, der sozialdemokratische Polizeipräsident von Berlin, liess auf kommunistische Demonstranten schiessen. Der Rotfrontkämpferbund wurde verboten. Der Terror der Nazis nahm zu, vor allem nachdem Heinrich Goebbels ab 1926 den NSDAP-Aufbau in Berlin leitete. Die Nazis hatten ihre eigenen Kneipen, wo ihre Leute uniformiert und bewaffnet draussen standen und die Menschen einschüchterten. Die preussische Polizei hat zugeschaut. Ich musste auf meinem Schulweg täglich an so einem Ort vorbei.

Wie haben Sie die Machtübernahme der Nazis erlebt?
Ich habe mich in den Tagen nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 in Berlin auf dem Fahrrad herumgetrieben und geschaut, was passiert. Auf dem Alexanderplatz sah ich einen Lkw, auf dem kommunistische Funktionäre und andere Linke sassen, die man vom Polizeipräsidium ins Gefängnis Moabit brachte. Unter den Verhafteten erkannte ich den Schriftsteller Erich Mühsam.

Und was passierte mit dem Büro der KPD-O?
Das wurde zugemacht. Es gab dann illegale Treffpunkte. Das war aber sehr schwierig und liess sich nicht lange aufrechterhalten. Da haben mir meine Freunde gesagt, du musst selber schauen, wo du hinkommst, du kannst hier nicht mehr mitarbeiten.

Was haben Sie gemacht?
Ich habe am 2. März 1933 – ein Donnerstag – das Abitur bestanden. Am Freitag starb meine Grossmutter, und am Samstag war die riesige Demonstration vor der Reichstagswahl am 5. März. Berlin war voller Fackelzüge, überall SA und SS. Am Abend wurde die Leiche meiner Grossmutter auf den Jüdischen Friedhof gebracht. Da mussten wir durch die Menschenmenge. Sie brüllten: «All Deutschland erwache, erwache, all Juda verrecke, verrecke!» Da war alles voller Nazis. Am Dienstagmorgen am 7. März kommt dann die SA um halb fünf und will eine Hausdurchsuchung machen. Man habe erfahren, dass bei uns ein Waffenlager sei. Das war der Tag, an dem meine Grossmutter beerdigt werden sollte. Meine Mutter konnte erreichen, dass die Durchsuchung um einen Tag aufgeschoben wurde. Sie brachte mich an dem Morgen auf den Bahnhof, damit ich fliehen konnte.

Wohin flohen Sie?
Zuerst fuhr ich nach Saarbrücken, wo ich zwei Monate blieb. In der Zeit gelang es meinem Vater, der ein liberaler Rabbiner war, mir eine Einreisegenehmigung für Palästina zu beschaffen. Dort arbeitete ich dann zwei Jahre lang, bevor ich in die Tschechoslowakei zog und schliesslich, bevor die Nazis dort einmarschierten, weiter nach Schweden reiste.

Ihren Eltern gelang ebenfalls die Flucht?
Ja. Sie mussten länger auf eine Einreisegenehmigung warten. Anfang 1934 sind sie zusammen mit meiner jüngsten Schwester in Palästina eingetroffen. Dort haben wir uns wiedergesehen.

Wieso sind Sie nach zwei Jahren wieder aus Palästina ausgereist? Sie haben ja damals in einem Kibbuz gearbeitet. Das war doch ein sozialistisches Experiment?
Nicht, dass ich das Kibbuzleben nicht wollte. Wir lebten damals ohne Geld. Wenn es wenig zu essen gab, hat man nachts eine Extraschicht eingelegt und die Orangenbäume mit Schädlingsbekämpfungsmitteln gespritzt, danach gab es eine zusätzliche Mahlzeit. Ich war nicht gegen den Kibbuz, aber ich wollte nicht in Palästina leben. Wir dachten alle, nach zwei, drei Jahren werden die deutschen Arbeiter Hitler stürzen. Keiner konnte sich denken, dass der Terror so dicht und so intensiv sein würde. Ich habe mich um neun Jahre geirrt. Hitler sich mit seinem Tausendjährigen Reich um 988 Jahre.

Sie wollten zurück, um etwas gegen das Naziregime zu tun?
Ich habe meinen Freunden bei der Grenzarbeit geholfen: Wir haben Schriftsachen über die Grenze geschleust. Kamen Genossen aus Deutschland, hat man sie informiert und satt gefüttert. Aber unsere Arbeit konnte wenig ausrichten. Der Widerstand in Deutschland war schon nach wenigen Jahren fast zum Erliegen gebracht worden. Erst gegen Ende des Kriegs hat er wieder zugenommen.

Hat die KPD-O im Widerstand gegen die Nazis mit der SPD und der KPD zusammengearbeitet?
Ein bisschen. Die SPD-Arbeit war schwach. Die KPD-O hat aber KPD-Leute unterstützt. Den Grenzdienst betrieben wir gemeinsam. Es gab eine Solidarität. Aber leider gab es in der KPD auch Spitzel der Nazis. Das hat uns geschadet.

Was konkret hat die KPD-O in Deutschland gemacht?
Sie hat versucht, illegale Gewerkschaftsgruppen aufzubauen, und hat Zeitungen herausgegeben. Viele Schriften wurden aus dem Ausland nach Deutschland geschmuggelt. Man hat in der Schweiz etwa Texte mit Milch auf Packpapier geschrieben, Schokolade damit eingewickelt und dann an Deckadressen in Deutschland geschickt. Dort wurden sie mit Jod lesbar gemacht und vervielfältigt. Allerdings merkte die Gestapo schnell, was da lief. So sind sie auch auf meinen sechs Jahre älteren Bruder Alfred gekommen.

Ihr Bruder Alfred Bergmann lebte seit 1934 in der Schweiz.
Er war am 8. März 1933 verhaftet und ins Konzentrationslager Esterwegen gesteckt worden. Nach seiner Entlassung Ende 1933 reiste er über Frankreich in die Schweiz, wo er sein Medizinstudium in Basel zu Ende führte. Er hat danach in Schweizer Spitälern gearbeitet. Wo kein Schweizer sich beworben hat, da durfte mein Bruder sich bewerben.

Wie ist er ums Leben gekommen?
Er ist im April 1940 am Arbeitsplatz festgenommen und von der Kantonspolizei Aargau an die deutsche Grenze bei Waldshut gestellt worden. Er bekam keine Chance, unterzutauchen. Die deutschen Grenzbeamten verhafteten ihn und liessen ihn nach Berlin überführen. Dort wurde er nur wenige Tage später ohne Gerichtsverfahren von den Nazis hingerichtet. Ein inhaftierter Genosse der KPD-O musste die Leiche identifizieren und hat uns über seinen Tod informiert.

Sie haben geschrieben, dass das deutsche Generalkonsulat in Basel die Schweizer Behörden auf Ihren Bruder aufmerksam gemacht hatte und die Auslieferung erwirkte …
Das ist meine Überzeugung. Nach dem Krieg wollte ich wissen, wieso Alfred den Nazis ausgeliefert wurde. In Aarau hatte ich Mitte der sechziger Jahre eine Besprechung mit den Behörden, da wurde mir ein dicker Ordner gezeigt, der über meinen Bruder angelegt worden war. Darin lag auch ein Brief vom deutschen Konsulat. Aber ich durfte den Ordner nur kurz durchblättern.

Sie zogen später bis vor Bundesgericht, um die Akten genauer studieren zu können.
Ja. Aber man hat uns die Einsicht verweigert. Erst nachdem der Historiker Willi Gautschi die Akten für seine Geschichte des Kantons Aargau auswerten konnte, durften auch wir sie genauer einsehen. Da fehlte aber etwa der Brief des deutschen Konsulats. Aus einem dicken Aktenordner war ein dünnes Konvolut geworden.

Haben Sie auch versucht herauszufinden, wieso Ihr Bruder in Deutschland sofort umgebracht wurde?
Da war nichts festzustellen. Ich habe nichts dazu gefunden. Ich habe ja an der Geschichte der KPD-O gearbeitet und alle Akten durchsucht, aber nichts dazu gefunden. Die waren nicht vollständig.

Was hatte Ihr Bruder in der KPD-O für eine Funktion?
Er hat die Grenzarbeit von der Schweiz aus organisiert. Da hat ihm auch seine Schweizer Freundin Klara Schmalz geholfen. Sie hat als Kurierin Material nach Berlin geschmuggelt. Aber mit der Zeit wurde das immer schwieriger.

Die Schweizer Behörden wussten, dass Ihr Bruder Kommunist und Jude war; dennoch haben sie ihn nach Deutschland ausgeschafft.
Ja, die wussten das. Sie hätten ihn nach Frankreich abschieben müssen. Er war ja auch von dort eingereist.

Die Ausschaffung war auch nach damaligem Recht illegal.
Ja, sie war völlig ungesetzlich. Ich habe später im Bundesarchiv in Bern Schriftstücke gefunden, die belegen, dass der Schweizer Ärzteverband sich für Alfred eingesetzt hatte. Sie wollten, dass er in der Schweiz bleibe, weil er ein guter und beliebter Arzt sei.

Sie lebten während des Zweiten Weltkriegs in Schweden, danach gingen sie nach Deutschland zurück. Hatten Sie sich auch überlegt, nach Israel auszuwandern?
Die meisten meiner Verwandten lebten damals schon in Palästina. Ich wollte nach Deutschland zurück und mit meinen politischen Freunden zusammenarbeiten.

Für Sie gab es keine Kollektivschuld der Deutschen?
Wir haben die These von der Kollektivschuld abgelehnt. Es gab Hunderttausende Deutsche, die in den Konzentrationslagern sassen. Ich weiss nicht, was die Mehrheit gedacht hat.

Sie hatten keinen Groll gegen die Mitläufer? Es gab ja Millionen …
Ich habe Mitläufer später bei meiner Arbeit kennengelernt. Kollegen, die zugaben, Nazis gewesen zu sein, aber sagten, daraus gelernt zu haben. So etwas muss ich akzeptieren.

Hatten Sie mit Ihren Brüdern in Israel immer Kontakt?
Wir haben uns, soweit möglich, immer besucht. Wir waren alle sehr verschieden, aber wir haben uns gegenseitig geholfen.

Ihr ältester Bruder spielte in der israelischen Politik eine Rolle.
Ernst war ein guter Freund des ersten israelischen Ministerpräsidenten David Ben Gurion. Er war auch ein Freund des ersten Staatspräsidenten Chaim Weizmann. Ernst half beim Aufbau der israelischen Rüstungsindustrie mit. Er wurde Ben Gurions Berater in Fragen der wissenschaftlichen Entwicklung und erster Vorsitzender der israelischen Atomenergiekommission.

Was macht den linken Zionismus aus?
Der Zionismus, also die Ideologie zum Aufbau eines jüdischen Staats, ist vielfältig, es gibt ihn nicht nur in der linken Variante. Zuerst wurde der Zionismus von frommen Juden geprägt. Nach den russischen Pogromen gegen die Juden entstand dann eine Bewegung des linken Arbeiterzionismus. Weil die jüdischen Arbeiter nichts hatten, gründeten sie Genossenschaften – Genossenschaften der Habenichtse. Sie praktizierten Gleichheit in der Armut. Wenn fünfzig Leute sich zusammentun, können sie an einem Tag einen Brunnen bohren und haben Wasser. Wenn das jeder alleine versucht, verdursten alle. Sie haben aus der Not heraus so gehandelt.

Wieso ist es nicht gelungen, in Israel eine linke Utopie zu realisieren?
Die Kibbuzim der linken Zionisten waren sozialistische Inseln im kapitalistischen Ozean. Sie waren ganz wesentlich, um den Staat aufzubauen. Die reichen Juden aus Amerika hätten das nicht getan. Es gab ein populäres Lied, das lautet auf Deutsch so: «Bringt Ziegel herbei, beeilt euch, wir haben keine Zeit, keine Müdigkeit und keine Angst. Statt des Gestern haben wir die Zukunft. Und die Zukunft unseres Landes ist unser Lohn.» So war das damals. Da arbeitet man den ganzen Tag möglichst schnell, und am Abend singt und tanzt man.

Sie haben zum Nahostkonflikt publiziert. Wieso, denken Sie, hat sich die israelische Politik immer weiter nach rechts verschoben?
Die Sozialdemokratie dachte, die neuen Einwanderer, die in mehreren Wellen ins Land kamen, würden sich von alleine integrieren. Das hat aber nicht immer geklappt. Und das nützte Menachem Begin vom rechten Likud aus. Es gelang ihm, die Arbeiterparteien zu stürzen. Das war eine grosse Zäsur. Begin war ein grosser Demagoge.

Wie haben Ihre Brüder diese Veränderung in Israel beurteilt?
Meine Brüder sind keine Nationalisten geworden. Ganz und gar nicht.

Sie haben in den fünfziger Jahren eine universitäre Karriere als Agrarwissenschaftler begonnen. Was faszinierte Sie daran?
Ich habe als Landarbeiter in Palästina begonnen und bekam eine gute Anfangsausbildung. Danach habe ich immer wieder in dem Bereich gearbeitet. Ich fand, dass ist ein sehr interessanter Beruf.

Gerade die kommunistischen Staaten haben ja in der Landwirtschaftspolitik riesige Fehler gemacht.
Wenn man hundert Bauern nimmt, und jeder hat einen Holzpflug und eine schwache Kuh, und man will sie kollektivieren, wie das Stalin und Mao versucht haben, so bringt das nichts. Wenn es aber einen neuen Traktor gibt, schreien alle Leute «Hurra, es geht vorwärts». Das überzeugt die Leute. Das wusste schon Friedrich Engels 1884. Man muss den Bauern Zeit geben, sich vom Vorteil der Kollektivwirtschaft zu überzeugen. Es muss freiwillig geschehen.

Die marxistische Theorie war nicht falsch, sondern die Umsetzung?
Die wollten einfach nicht hören. Auch Liu Shaoqi, der grosse Gegenspieler von Mao und Staatspräsident Chinas in den sechziger Jahren, hatte vor der raschen Kollektivierung gewarnt. Erst müsse man Fabriken für Düngemittel und Maschinen bauen.

Das heisst, die Bauern brauchen einen Anreiz zur Kollektivierung, sie müssen etwas gewinnen?
Sie müssen einen Vorteil haben. Es bringt nichts, wenn sie weiterhin mit dem Holzpflug auf dem Acker arbeiten müssen und einfach noch ein paar Bürokraten dazukommen, die gut leben wollen und ihnen das Essen wegnehmen. Unglaublich, was Mao da angestellt hat, aber er liess nicht mit sich reden.

Sind das die sogenannten Strukturprobleme des Kommunismus, über die Sie auch ein Buch geschrieben haben?
Das sind sie. Warum kann er da oben sitzen und verblöden?

Es fehlt die Demokratie.
Jede Dummheit wird akzeptiert, wenn der Vorsitzende das sagt.

Dem heutigen China stehen Sie aber erstaunlich positiv gegenüber.
Ich war seit Maos Tod vierzehnmal in China. Vor eineinhalb Jahren zum letzten Mal. Ich habe viel gesehen und mit vielen Leuten gesprochen. Ich habe alte Kommunisten kennengelernt, die während der Kulturrevolution eingesperrt waren. Mithilfe von chinesischen Fachkollegen bin ich durch grosse Teile des Landes gefahren. Sie haben mir viel gezeigt. China entwickelt sich zum Besseren. Ich habe den Eindruck, die Kommunisten regieren immer noch in China.

Was ist denn in China kommunistisch?
Ich glaube, in China spielt sich derzeit die zweite Phase von dem ab, was Lenin die Neue Ökonomische Politik nannte. Die Kapitalisten können gehen, wenn es ihnen nicht passt. Die Löhne steigen und der Staat unterstützt die Gewerkschaften gegen die Unternehmer. Die Arbeiter werden zur Klasse für sich, wie das Marx ausdrückte. Wenn sie zum ersten Mal in einer Fabrik arbeiten, wissen die Arbeiter ja meist nichts von Gewerkschaften. Jetzt ist es so, wenn die Gewerkschaft nicht für sie kämpft, dann kämpfen sie unabhängig von ihr. Vor fünfzehn Jahren kam bei den Streiks noch die Polizei. Jetzt kommt keine Polizei mehr. Jetzt sagt der Staat, wir unterstützen euch.

Aber demokratisch ist dieser Staat ja nicht.
Er wird vielleicht eine sozialistische Demokratie. Nicht so wie in Deutschland. Heute schon werden die Fünfjahrespläne ja vom Staat in einem langen Prozess erarbeitet, bei dem auch Hunderttausende Einlassungen von Bürgern berücksichtigt werden. Es wird diskutiert. Jeder kann sagen, was er will. Jedenfalls glaube ich, dass sich das Land entwickelt und dass es Demokratie geben wird.

Trotz der Schicht der Millionäre?
Das kann man nicht ganz verhindern. Die Partei versucht, sie zu erziehen. Man kappt die hohen Gehälter im Staatsapparat und in den staatlichen Industrien. Wir müssen in der Geschichte Geduld haben.

Man muss ja heute die Wirtschaft global anschauen. Und in der globalen Wirtschaft spielt doch China vielfach immer noch die Rolle des billigen Produzenten.
China ist Teil des Weltmarkts. Aber es ist nicht mehr den Regeln der USA untergeordnet. China verhandelt auf gleicher Augenhöhe. Die USA können die Bedingungen nicht mehr bestimmen. China sucht überall die Zusammenarbeit mit anderen Staaten und lässt sich nicht mehr herumkommandieren. Das ist das Ergebnis der kommunistischen Politik.

Es gibt aber in China nach wie vor Hunderte Millionen Wanderarbeiter mit wenig Rechten und schlechten Löhnen.
Ja, es gibt noch riesige Probleme. Ein Land ohne Probleme gab es bloss bei Stalin und Mao. Da wurde allen Problemen der Kopf abgehackt. Jetzt muss man sich mit den Problemen auseinandersetzen. Sie werden schrittweise gelöst. Deswegen bin ich ein Optimist. Ein vorsichtiger Optimist.

Wenn wir jetzt nochmals zurück zu Ihrer Jugendzeit kommen: Sehen Sie da Parallelen zum heutigen Deutschland?
Es gibt Parallelen. Aber ich glaube nicht, dass es ein neues «Drittes Reich» geben wird. Es gibt jedoch einen starken Rechtsradikalismus. Der Staat schaut zu oder hilft auch manchmal nach. Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder hat noch vom Aufstand der Anständigen dagegen geredet. Doch passiert ist danach nichts. Von unten her gibt es allerdings schon Gegenwehr. Gestern – am 5. Januar – war zum Beispiel in Stuttgart eine grosse Demonstration, da war ich auch dabei. Tausende waren da. Der Schlossplatz war voll mit Menschen.

Das war eine Demonstration gegen die islam- und fremdenfeindliche Pegida.
Ja. Ich habe nicht alle Redner gehört, weil ich irgendwann gehen musste, ich kann nicht mehr so lange stehen, und es gab keine Sitzplätze. Es war eine freundliche Atmosphäre. Die Linke muss da noch mehr machen.

Bräuchte es eine neue Kommunistische Internationale?
Ich habe darüber in meinem Buch «Internationalismus im 21. Jahrhundert» geschrieben. Ich sage, es kann keine neue Komintern geben. Sie hatte gewisse Mängel und konnte nicht reformiert werden. Und sie hatte einen unmöglichen Zentralismus. Aber es muss einen Internationalismus geben. Auch in Deutschland. Es braucht etwa eine Solidarität mit Syriza in Griechenland. Wenn die EU Griechenland immer weiter unter Druck setzt, sollte die Linke in ganz Europa demonstrieren und Solidarität zeigen. Ich hoffe, dass die Partei Die Linke, bei der ich seit ihrer Gründung Mitglied bin, sich darum bemühen wird, aber das ist nicht einfach. Den Deutschen wird eingeredet, es gehe ihnen besser, es gebe einen Aufschwung im Land. Das ist eine hervorragende Taktik. Über die zehn Millionen Menschen, die vom Aufschwung ausgeschlossen werden, wird einfach nicht geredet.

Wer sind diese zehn Millionen Menschen?
Es handelt sich um ein riesiges Prekariat, das wächst.

In der Weimarer Republik gab es ja auch dieses Prekariat.
Ja, aber jetzt ist ja dieses Prekariat ganz ausgeschaltet. Es gibt keine Kommunistische Partei mehr, die die Leute radikalisiert. Die bleiben zu Hause und sind passiv. Die werden einzeln vom Jobcenter vorgeladen, wo es keine Jobs gibt, und werden gedemütigt. Die gehen zum grossen Teil auch nicht mehr wählen. Die haben die Hoffnung aufgegeben. Keiner kümmert sich um sie.

Dieses Prekariat könnte ja auch rechtsextrem wählen.
Deswegen müssen wir auch etwas machen. Die Linkspartei braucht ein ökonomisches Programm. Wir müssen für ein neues Normalarbeitsverhältnis kämpfen, ohne Hartz IV, ohne Jobcenter, ohne diesen Zwang zur Arbeit in den Billiglohnsektoren.

Herr Bergmann, zum Schluss noch eine Frage: Sie sind jetzt 99 Jahre alt. Haben Sie noch Pläne?
Ich habe noch ein paar. Ich weiss nicht, wie viele ich noch verwirklichen kann. Im Juni soll ein Sammelband zum Thema Reformer und Reformen im Kommunismus erscheinen. Da habe ich einen Beitrag drin. Der zweite Plan ist, einen Essay darüber zu schreiben, wie sich sozialistische Länder entwickeln können. Daran arbeite ich schon. Drittens möchte ich etwas über Landarbeiter und Kleinbauern machen. Ich möchte die schönsten Geschichten aus der Literatur dazu zusammenstellen. Eine Einleitung habe ich schon entworfen.

Ausserdem will ich zusammen mit anderen linken Agrarwissenschaftlern ein Buch zu den grossen politischen Problemen des Agrarsektors machen. Dazu gehört die Rolle der Kleinbauern, die Frage der Gentechnologie, Fragen der Fleischproduktion, Qualität der Lebensmittel und Weiteres mehr. Ob das Buch erscheint, ist noch nicht sicher. Ich werde ja schliesslich immer älter.

Theodor Bergmann : «Ketzer und Reformer» des Kommunismus

Theodor Bergmann wurde am 7. März 1916 in eine jüdische Familie in Berlin hineingeboren. Schon als Jugendlicher war er in der kommunistischen Bewegung aktiv. Nach der Flucht vor dem Nationalsozialismus, die ihn nach Palästina, in die Tschecheslowakei und schliesslich nach Schweden führte, kehrte Bergmann 1946 nach Deutschland zurück. Dort lernte er seine spätere Ehefrau Gretel Maria Steinhilber kennen, mit der er bis zu ihrem Tod 1994 zusammenblieb.

Bergmann wurde 1971 Professor für international vergleichende Agrarpolitik und setzte sich in seiner Arbeit mit der Landwirtschaftspolitik in den sozialistischen Ländern auseinander. Nach seiner Emeritierung 1981 befasste er sich mit der kommunistischen Bewegung, speziell mit deren «Ketzern und Reformern». So arbeitete er unter anderem die Geschichte der Kommunistischen Partei-Opposition (KPD-O) auf. Diese Gruppierung war 1928 als Abspaltung der Kommunistischen Partei Deutschlands entstanden. Die KPD-O wurde massgeblich von den früheren KPD-Gründern Heinrich Brandler und August Thalheimer geprägt. Die KPD-O stellte sich gegen die von der KPD propagierte Sozialfaschismusthese, die die Sozialdemokratie als eine Variante des Faschismus bezeichnete, und setzte sich für die Einheit der ArbeiterInnenbewegung ein.

Bergmann schrieb in den letzten Jahren auch Bücher über China, den Nahostkonflikt sowie 2014 über die Geschichte seiner Familie. Drei seiner Brüder, Ernst, Arthur und Felix, waren während des Zweiten Weltkriegs in der jüdischen Wehrorganisation Hagana aktiv, die in Palästina jüdische Siedlungen schützte und sich aufseiten Britanniens am Kampf gegen den Nationalsozialismus beteiligte.

Daniel Stern

Von Theodor Bergmann sind im VSA-Verlag, Hamburg, unter anderem folgende Bücher erschienen:

«Sozialisten – Zionisten – Kommunisten. Die Familie Bergmann-Rosenzweig – eine kämpferische Generation im 20. Jahrhundert». 2014. 104 Seiten. 19 Franken.

«Strukturprobleme der Kommunistischen Bewegung. Irrwege, Kritik, Erneuerung». 2012. 280 Seiten. 29 Franken.

«Der 100-jährige Krieg um Israel. Eine internationalistische Position zum Nahostkonflikt. 2011. 88 Seiten. 14 Franken.

«Gegen den Strom. Geschichte der KPD (Opposition)». 2001. 624 Seiten. 52 Franken.