Stadttheater ade?: Wie käuflich ist Kultur?
In Bern das Ballett abschaffen, auf Musicals setzen in St. Gallen, Schauspiel und Tanz ausgliedern in Luzern: Mit den Argumenten Spardruck, Ressourcenbündelung und Standortpositionierung setzen Städte und Kantone die Mehrspartentheater aufs Spiel. Jetzt regt sich Widerstand – zumindest in Luzern.
Unter Spardruck leiden die subventionierten Theaterbetriebe schon seit längerem. Zusätzlich unter Druck gesetzt werden sie nun zunehmend durch den Standortwettbewerb zwischen den Städten. In den ehemaligen Stadttheatern in Winterthur und Chur gibt es seit Jahren keine Ensembletheater mehr – während man in der Eulachstadt vermehrt auf das privat betriebene Casinotheater und fernsehtaugliche Kabarettproduktionen setzt, will man in Chur im einstigen Stadttheater vor allem mit internationalen Gastspieltruppen Aufsehen erregen. Doch auch an den Ensemble- und Mehrspartenbetrieben in Bern, St. Gallen oder Luzern, die einen wesentlichen Beitrag an die kulturelle Grundversorgung für Regionen mit bis über einer halben Million Menschen leisten und deshalb seit einigen Jahren vor allem kantonal subventioniert werden, wird gerüttelt: In St. Gallen will man sich zunehmend als Musicalstandort profilieren – zulasten des Sprechtheaters, für das sich nicht so leicht Gelder aus der Privatwirtschaft beschaffen lassen. In Bern wird die Abschaffung des Balletts sowie die Zusammenlegung von Musiktheater und Sinfonieorchester in Erwägung gezogen (siehe WOZ Nr. 23/09).
Eine «Salle Modulable»
Das aktuellste Beispiel spielt in Luzern: Am 11. November nahmen die LeiterInnen der Sparten Musiktheater, Schauspiel und Tanz des Luzerner Theaters Stellung zu einem Planungsbericht des Stadtrats, der vor zwei Wochen veröffentlicht wurde und in der Innerschweiz eine kulturpolitische Debatte ausgelöst hat. Die darin formulierte Vision basiert auf einer privaten Initiative von Michael Häfliger, dem Intendanten des Lucerne Festival, und von privaten GeldgeberInnen aus dem Festivalumfeld. Der Stadtrat schlägt in diesem Bericht nichts weniger vor als die Zerschlagung des bisherigen Dreispartenbetriebs: «Was traditionelle Mehrspartenhäuser mit Ensembles einmal auszeichnete, nämlich die dauernde Präsenz vor Ort in mehreren Produktionen parallel, hat nicht mehr Bestand. Aus Sicht des Stadtrats ist es Zeit, darüber nachzudenken und die Formen weiterzuentwickeln.»
Für den Stadtrat heisst das: Fokussierung auf Musiktheater – hin zur «Musikweltstadt». Deshalb sollen in Luzern die Kulturgelder neu verteilt werden: Neben dem Kultur- und Kongresszentrum (KKL) will man in der «Host City» einen weiteren Neubau mit internationaler Ausstrahlung errichten. «Salle Modulable» lautet der Name des geplanten Prestigeobjekts. Häfliger verspricht sich im neuen Musiktempel von der Zusammenlegung seines Festivals mit Musiktheater und Musikhochschule neue Synergien – bei gleichzeitiger Auslagerung von Schauspiel und Tanz in die freie Szene.
Rückenwind erhält er dabei durch eine mögliche Spende von hundert Millionen Franken, die eine unbekannte GönnerInnenschaft in Aussicht stellt. Unterstützung erfährt er zudem vom französischen Komponisten und Dirigenten Pierre Boulez (siehe WOZ Nr. 36/09), der in Paris schon in den achtziger Jahren für die Errichtung eines solchen «variablen, multifunktionalen Kulturraums für Musiktheater, klassische Oper und experimentelle Musik» gekämpft hatte – erfolglos. In Luzern scheint Boulez nun mit Häfliger, dessen Festival er seit Jahren als Dirigent und Leiter des Forums für zeitgenössische Musik entscheidend mitprägt, den Kompagnon gefunden zu haben, mit dem sich sein lang ersehnter Traum realisieren liesse – wenn nicht in Paris, dann eben in der «Musikweltstadt» Luzern.
PolitikerInnen, Sponsoren, Standortvermarkterinnen, ein weltberühmter Komponist und das Luzerner Establishment: Alle haben derzeit ein Leuchten in den Augen. Musikweltstadt – was für ein Label für die Leuchtenstadt! Doch haben sie bei ihrer Rechnung auch an die Bevölkerung gedacht? Ans breitere Publikum? Und: an die Theaterleute selbst?
«Wir rechnen mit mehr Sponsoring»
Dominique Mentha, Leiter des Luzerner Theaters und der Sparte Musiktheater lehnt die Idee nicht grundsätzlich ab, auch nicht den Campusgedanken, der durch die Musikhochschule gegeben wäre. Seine Kritik richtet sich vielmehr gegen die Auflösung des Mehrspartenbetriebs: «Drei Ensembles unter einem Dach befruchten sich und profitieren dreifach von den etablierten Strukturen eines Hauses» – ein Argument, dem sich Kathleen McNurney, Leiterin der Sparte Tanz, anschliesst: Die Infrastruktur des Dreispartenhauses biete den TänzerInnen nicht nur ein festes Salär, sondern auch Kontinuität und Konzentration aufs Wesentliche: die tägliche Arbeit im Ballettsaal und auf der Bühne.
In Menthas Augen ist der stadträtliche Planungsbericht nicht das Ergebnis einer Auseinandersetzung über die Zukunft des Theaters in veränderter gesellschaftlicher Umgebung, sondern vielmehr der «Versuch, die bei der Salle Modulable zu erwartende Finanzlücke von sieben bis elf Millionen Franken durch Ausgliederung der Sparten Tanz und Schauspiel zu füllen».
Tatsächlich würde mit dem geplanten Neubau ein weit grösseres Haus mit gleich viel städtisch-kantonalen Subventionsgeldern wie im bisherigen Dreispartentheater (zwanzig Millionen Franken) betrieben. Womit, so Mentha in seiner Stellungnahme, mehr Finanzmittel aus dem Kulturetat in Infrastruktur, technische Apparate und Unterhalt des neuen Gebäudes statt wie bisher in die Kunst fliessen würden. Was im Bericht mit «Fokussierung auf Musiktheater» beschrieben werde, bedeute daher real «eine Reduktion auch des Musiktheaters».
«Ein grösseres Haus dürfte tatsächlich aufwendiger sein», gibt die Luzerner Kulturbeauftragte Rosie Bitterli zu – aber, so argumentiert sie: «Wir rechnen auch mit mehr Eigenfinanzierung aus Sponsoring und Eintrittsgeldern.»
Solidarische Szene
Aus Sicht von Andreas Herrmann, dem Leiter des Schauspiels, wird mit der Schliessung zweier Sparten «ein Szenario entworfen, das in seiner Radikalität in der deutschsprachigen Theaterlandschaft ohne Beispiel ist und den Bedürfnissen der Luzerner Bevölkerung und den Realitäten am Luzerner Theater in keiner Weise Rechnung trägt.»
Was für eine Rolle das Schauspiel im Luzerner Theater spielt, zeigt die vergangene Saison: Das Schauspielensemble spielte die meisten Vorstellungen aller Sparten, erreichte die beste Auslastung und holte am meisten ZuschauerInnen ins Haus. Mit Vermittlungsprojekten, Einführungen und Theaterkursen übernimmt der Schauspielbetrieb zudem zentrale Bildungsaufgaben. Umso unverständlicher ist für Herrmann die Idee, «die kulturelle Vielfalt eines vitalen Theaterorts zu beschneiden, um die Betriebskosten einer auf Monokultur ausgerichteten Salle Modulable zu finanzieren».
Auch dem Vorschlag des Stadtrats, einen Teil – rund 1,5 Millionen Franken – der bisher für Theater und Tanz aufgewendeten Produktionsmittel für die Förderung der freien Szene einzusetzen, steht Herrmann skeptisch gegenüber. Diese anderthalb Millionen sind faktisch die Hälfte der bisherigen Mittel, die Theater und Tanz im Rahmen des Dreispartenbetriebs erhalten. Rosie Bitterli bestätigt diese Rechnung – und rechtfertigt sie gegenüber der WOZ so: «Wir sehen das nicht als Subventionsabbau. Wir schlagen vielmehr vor, die Leistungsaufträge neu zu definieren und die Subventionen anders beziehungsweise an andere Bezüger auszurichten als bisher. Die Fokussierung auf das Musiktheater hätte also eine Ver- und Umlagerung der heutigen Beiträge zur Folge. Das ergibt eine neue Konzeption, neue Angebote, neue Akteure und damit auch neue Beträge.»
Herrmann warnt hingegen davor, die Grenzen zwischen Stadttheater und freier Szene zu verwischen und so eine «Marginalisierung der lebendigen Kunstform Schauspiel in der Region und in der Stadt Luzern» in Kauf zu nehmen. Unterstützung erfahren er und sein Ensemble von KollegInnen im ganzen deutschsprachigen Raum, von Luzerner Kulturschaffenden und TheaterbesucherInnen. Am vergangenen Freitag demonstrierten vor dem Stadthaus AkteurInnen aus der freien Szene für die Erhaltung des Mehrspartenbetriebs. Solche Reaktionen machten deutlich, so Herrmann, «dass sich freie Szene und das Luzerner Theater nicht gegeneinander ausspielen lassen».
Verstanden wird die Kritik inzwischen sogar von Michael Häfliger. Sein neuer Vorschlag: Alle drei Sparten sollen in den neuen Tempel einziehen – mit der Vision, «dass darin neue Theaterformen entwickelt» und Kooperationen mit der freien Szene möglich werden.
Am 17. Dezember entscheidet das Stadtparlament über das weitere Vorgehen.
Podiumsdiskussion der IG Kultur zur Luzerner Kulturpolitik in: Luzern Südpol, Mi, 2. Dezember, 19.30 Uhr. www.sudpol.ch