Luzerner Kulturoffensive: Zick und Zwerg wollen Platz
Kulturschaffende und PolitaktivistInnen wehren sich gegen eine Stadtentwicklung, die nicht nur die Alternativkultur, sondern auch den bezahlbaren Wohnraum verdrängt. Ein Stadtrundgang.
Luzern kommt nicht zur Ruhe. Seit der Schliessung des Kulturzentrums Boa im Herbst 2007 klafft eine Lücke. Auch der offizielle Boa-Ersatz kann sie nicht füllen: der Südpol, ein ehemaliger Schlachthof in Kriens, südlich der Stadtgrenzen. «Man kann nicht einfach ein Haus hinstellen für Leute, die aus einem selbst organisierten Projekt wie der Boa kommen», sagt Jonas, ein junger Luzerner Kulturaktivist. «Die Boa ist aus einer Besetzung entstanden. Die Ansätze sind zu verschieden.»
Die Unzufriedenen treffen sich seit Februar zu kulturpolitischen Diskussionsrunden. Nun rufen sie zur «Kulturoffensive» auf – mit einem Umzug durch die Stadt am kommenden Samstag. Und das soll nur der Anfang sein.
Das Licht ist hell, das Wetter warm. Die Berge leuchten. Auf dem Luzerner Bahnhofplatz wuseln Touristinnen, Geschäftsleute und Jugendliche durcheinander. Hanna und Jonas haben ihre Velos dabei. Sie gehören zur Gruppe «Zick und Zwerg», die Ende März das Geissmättli besetzt hat, den ehemaligen Fixerraum an der Reuss. Unauffällige und ungemein freundliche Menschen, die dem BesetzerInnenklischee hinten und vorne nicht entsprechen. Es gehe ihnen nicht nur um Kultur, sagt Hanna: «Die kulturpolitischen Diskussionsrunden richten sich an alle, die unzufrieden sind mit der Stadtentwicklung.» Um zu zeigen, was sie meinen, schlagen sie einen Stadtrundgang vor.
An der Werft vorbei geht es zur ersten Station: dem Tribschen-Quartier. Zentral und in Seenähe, ist das ehemalige Industriequartier ein begehrtes Pflaster. Die Stadt hat es zu einem «Entwicklungsgebiet» erklärt. Die ersten Neubauten stehen schon, moderne, elegante Mehrfamilienhäuser. Dahinter Parkplätze, das Busdepot, ein eingezäunter, leerer Platz, auf dem früher die Gowa-Halle stand. Letzten Herbst wurde sie nach einer kurzen kulturellen Zwischennutzung abgerissen.
Auch das angrenzende Frigorex-Areal wird Wohnbauten weichen müssen. Heute beherbergt es die Kunsthalle, das Théâtre La Fourmi, den Club Vasco da Gama und verschiedene Ateliers. Das Gebäude gehört dem Investor Jost Schumacher, der rund tausend Wohnungen besitzt. Kürzlich beschwerte er sich im Luzerner «Kulturmagazin» über Einsprachen gegen Bauprojekte: «Dass Leute, die finanziell nichts beisteuern, gleich viel zu sagen haben wie Investoren, ist ärgerlich.»
Kurze Pause im Jugendzentrum Treibhaus. Da die Wohnquartiere näher rücken, könnte ihm bald Ähnliches drohen wie der Boa: eine Schliessung wegen Lärmkonflikten.
WOZ: Kulturschaffende und politisch Aktive arbeiten nicht unbedingt gut zusammen. Wie ist das in Luzern?
Hanna: Die Szenen sind sehr eng verknüpft. Dazu haben die Boa-Schliessung und die Massenverhaftungen am anschliessenden Protestfest beigetragen.
Jonas: Die Politszene beschäftigt sich schon lange mit Videoüberwachung und Wegweisung, also mit Themen, die mit dem öffentlichen Raum zu tun haben. Der Kampf darum verbindet alle.
In Luzern scheint es immer um Kultur zu gehen. Das ist oft ein Zeichen dafür, dass es noch genug Wohnraum gibt …
Hanna: Er wird knapper. Zum Beispiel werden die Genossenschaftsblöcke hinter dem Château Gütsch abgerissen. Und die Neubauten sind teuer. Wer etwas wirklich Günstiges braucht, wohnt in der Agglo.
Jonas: So wie ich, in Emmenbrücke.
Versucht ihr, im Wohnbaubereich auf die Stadt Einfluss zu nehmen?
Jonas: Bei uns gibt es das Mittel der Volksmotion. Damit ist es möglich, vor dem Gemeinderat Anliegen vorzubringen, wenn man hundert Unterschriften gesammelt hat. Wir werden eine Volksmotion lancieren, in der wir fordern, dass die Stadt in den «Entwicklungsschwerpunkten» den genossenschaftlichen Wohnungsbau bevorzugen soll.
Hat das Chancen?
Jonas: Ich fürchte, nein.
Weiter gehts, an der stillgelegten Boa vorbei – heute ein Postverteilzentrum – zu einem anderen umkämpften Areal: der Industriestrasse. Ein Brockenhaus, Kleingewerbe, verwinkelte Baracken mit Dächern aus Welleternit stehen auf dem Gelände, das der Stadt gehört. Kernstück des Gevierts ist ein imposantes Haus, in dem seit mehr als zwanzig Jahren Künstlerinnen und Kulturaktivisten leben. Hier wird klar, wie eng günstiger Wohnraum und Kulturschaffen verknüpft sind. Die Illustratorin Evelyne Laube hat ausgerechnet, dass frühere und heutige HausbewohnerInnen Preise und Stipendien von fast 300 000 Franken bekommen haben. «Das Gebiet ist vor zehn Jahren umgezont worden, für ein Bauprojekt, das dann nicht realisiert wurde», erzählt Urban, ein Bewohner. «Hier darf 24 Meter hoch gebaut werden.» Und das wird früher oder später geschehen, das wissen alle.
Auch das Stadttheater ist ein umkämpfter Ort. Denn Luzern träumt von einem neuen Konzert- und Musiktheaterzentrum mit internationaler Ausstrahlung, der «Salle Modulable». Der Standort ist noch unklar, abgestimmt wird frühestens 2012. Klar ist, dass die Salle Modulable das Aus für das Stadttheater bedeuten würde. Jonas: «Darum haben die Boa-Leute vorgeschlagen, aus dem Stadttheater ein Volkshaus zu machen.»
Von hier ist es nicht mehr weit zum Geissmättli. Es liegt direkt am Fluss, neben der Eisenbahnbrücke. Gegenüber dröhnt die Autobahn, darüber strahlt auf dem Hügel das Château Gütsch. Ein romantischer Ort, genau die richtige Mischung aus Idylle und Stadtlärm. Hanna sagt: «Das Geissmättli soll ein Café sein, wo sich ganz verschiedene Leute vernetzen und Veranstaltungen organisieren können. Alle können sich beteiligen.»
Hinter der Theke grinsen zwei Pappmachégeissen von der Wand. Zwei junge Männer putzen die Parkettböden. «Manche finden, es sei keine richtige Besetzung, weil wir ein Graffitiverbot ausgerufen haben», erzählt Jonas lachend. Alle sind enthusiastisch bei der Sache, als könnten sie hier lange bleiben. Aber die städtische Baudirektion hat das Lokal ab Sommer einem Wirt verpachtet. Die Grünen haben im Januar ein Postulat für eine kulturelle Nutzung des Geissmättlis eingereicht – vergeblich.
«Kultur ist nur die Vorbereitung für lukrativere Nutzungen. Wie in der Boa, im Frigorex, an der Industriestrasse», sagt Jonas. In dieser Rolle stecken alternative Kulturschaffende fast überall. In Luzern wollen sie sich das nicht mehr gefallen lassen.