Durch den Monat mit Roger de Weck (Teil 1): Volksabsolutismus?

Nr. 49 –

WOZ: Roger de Weck, Sie beklagen in Ihrem neuen Buch, der flexible Mensch im heutigen Turbokapitalismus sei überall, nur nicht bei sich selbst. Sie sind auch ein viel beschäftigter Mann, weshalb dieses Interview im Zug von Lausanne nach Bern stattfindet. Wann finden Sie eigentlich noch Zeit und Ruhe, um nachzudenken?
Roger de Weck: Einerseits tatsächlich im Zug. Zugfahren ist eine herrliche Art, allein zu sein. Schauen Sie sich nur diesen Ausblick auf den Genfersee an ... Andererseits habe ich einen Rückzugsort im Unterengadin. Sommers weilte ich zwei Monate dort und schrieb an meinem Buch. Sie sehen: Es gibt intensive Zeiten und ruhige Zeiten – die auf ihre Weise nicht minder intensiv sind.

Weniger ruhig als auch schon geht es an den Universitäten zu und her. Was halten Sie von der studentischen Bewegung gegen die zunehmende Ökonomisierung der Bildung?
Für mich ist sie Ausdruck eines Unbehagens, das aber keinen eigentlichen Gegenstand des Protests findet. Die 68er hatten es einfacher, weil sie für eine Alternative kämpften und glauben durften, dass sie eine Chance hätte.
Es ist schwer zu protestieren, wenn eine klare Alternative zum herrschenden System fehlt. Das mag ein Grund sein, weshalb trotz Zunahme der Ungleichheiten in unserer Gesellschaft sich bislang kein massiver Protest formiert. Die jungen Menschen wissen, wogegen sie sich wenden, nicht aber, wofür sie eintreten. Leichtes Spiel haben deshalb diejenigen, die diese Bewegung belächeln und von oben herab fragen: «Was wollt ihr eigentlich?»
Statt auf den Gegenstand des Protests zu schauen, müssten sie die tieferen Gründe erörtern: das grosse Unbehagen, das zahllose andere Menschen ebenfalls empfinden. Studentinnen und Studenten gehören seit je zu den sensibleren Akteuren, kraft ihrer Jugend und kraft ihrer intellektuellen Suche. Überdies zählen Werkstudenten zu denen, die sofort von der Krise erfasst werden, da viele Nebenjobs wegfallen.

Ist diese Bewegung Vorbote grösserer und breiterer Proteste?
Es ist zu früh für eine Antwort. Aber die Vorstellung, dass das Volk all das, was in dieser Krise geschieht, dumpf hinnähme – die ist mir weit unerträglicher als ein Protest, der sich vorantastet und noch nicht so genau weiss, wohin er will.

In Ihrem Buch fordern Sie, es sei eine Gegenmacht zur jetzigen Elite aufzubauen. Da stellt sich genau dieses Problem. Wie bildet man Gegenmacht, wenn keine Alternative greifbar ist?
Ich stehe zu der Schwäche meines Buchs, nämlich dass es noch keine politische Strategie aufzeigt. Bei der grossen Unordnung auf der Welt und in den Köpfen ging es mir erstens darum, den Leserinnen und Lesern Überblick zu verschaffen. Jeder von uns fragt sich: Was ist los? Alle sind überfordert – gerade auch die Ökonomen. Zweitens wollte ich zu einer Debatte über die Grundlagen eines Systems, das unser Leben prägt, beitragen und das Bewusstsein dafür schärfen, dass die Marktgesetze nicht Naturgesetze sind. Wir haben Gestaltungskraft, wir können Gesellschaft und Wirtschaft anders gestalten. Jedoch wird seit Ausbruch der Krise bloss eine «technische» Debatte darüber geführt, wie viele Eigenmittel die Banken brauchen und dergleichen mehr.

Die Minarett-Initiative wurde überraschend angenommen. Glauben Sie, dass hier auch durch die Krise geweckte Ängste ihren Ausdruck gefunden haben?
Leben wir in einer Schweiz, in der nur noch Angst der Stoff der Politik ist? Das Volk hat einen Fehlentscheid getroffen. Wer sagt, es habe immer Recht, ist nicht von dieser Welt. Jeder kann sich irren, ein Individuum wie auch eine Mehrzahl von Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern. Dieser Volksentscheid ist eine bewusste Demütigung der hierzulande massvollen Muslime, eine Verletzung der Menschenrechte, eine Schwächung der ohnehin isolierten Schweiz, eine weitere Erschwernis für die krisengeplagten Exporteure und Banken. Vor allem ist es eine Fehlentwicklung der direkten Demokratie – hin zum Volksabsolutismus –, wenn die Bürgerinnen und Bürger immer öfter menschenrechtswidrige Entscheide treffen.

Der Publizist Roger de Weck (56), früher Chefredaktor von «Zeit» und «Tages-Anzeiger», ist Publizist in Zürich und Berlin, Moderator der «Sternstunden» von SF DRS und Präsident des Graduate Institute of International and Development Studies in Genf. Er lehrt am College of Europe in Brügge und Warschau. De Weck wuchs in Genf und Zürich auf und studierte in St. Gallen Volkswirtschaft.

Roger de Weck: «Nach der Krise – gibt es einen anderen Kapitalismus?». 
Nagel & Kimche. Zürich und München 2009. 112 Seiten. Fr. 17.90.