Antwort der Woche: Der lebendige Hang zur Vielfalt
Die Vereinten Nationen haben das Jahr 2010 zum Jahr der Biodiversität erklärt. Aber was ist das eigentlich – Biodiversität? Und warum nimmt sie laufend ab?
Die meisten wohlhabenden Länder haben schon eine. Manche armen auch. Die Schweiz hingegen hat noch keine Biodiversitätsstrategie. Darum ist sie vor drei Jahren von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gerügt worden. Auch sonst war das Zeugnis für die Schweiz schlecht: Hierzulande sind mehr Arten bedroht als in vergleichbaren Ländern. Inzwischen hat die Ausarbeitung der Schweizer Biodiversitätsstrategie begonnen. Sie soll 2011 ins Parlament kommen.
Aber lässt sich damit das heutige Massenaussterben von Tieren, Pflanzen und Kleinlebewesen verhindern?
Biodiversität wird oft mit Artenvielfalt gleichgesetzt. Das ist aber nicht ganz richtig: Zur Biodiversität gehört auch die genetische, von Erbanlagen bedingte Vielfalt. Wie gross die Unterschiede innerhalb einer Art sein können, zeigen Nutzpflanzen: Aus einer einzigen Art wie der Kartoffel sind Hunderte von Sorten gezüchtet worden. Teil der Biodiversität ist auch die Vielfalt von Lebensräumen und Ökosystemen, biologischen Prozessen und Beziehungen zwischen Lebewesen.
Doch letztlich sind diese Begriffe nur ein Versuch, etwas festzunageln, was nie ganz begreifbar sein wird. Das Lebendige hat einen Hang zur Vielfalt, und die Vielfalt macht es stärker – wie ein unendlich feines und dichtes Gewebe. Das Ganze ist viel mehr als die Summe seiner Teile. Das hat das westliche wissenschaftliche Denken lange nicht begriffen. So richtig auf die Biodiversität aufmerksam geworden ist die Wissenschaft erst, als die Löcher im Gewebe unübersehbar waren.
Grosse Bestände einer einzigen Pflanze sind in der Natur selten. Eintönigkeit ist verletzlich. Ein grosses Maisfeld lädt gefrässige Insekten und Pilzkrankheiten geradezu ein. Wenn endlich die Feinde der Schädlinge einmal eingewandert sind, ist es schon zu spät. Darum empfehlen landwirtschaftliche Lehrmittel heute eine «massvolle Verunkrautung». Denn Unkraut ernährt Pflanzenfresser, und diese ernähren Fleischfresser, die dann auch einsatzbereit sind, wenn sich Pflanzenfresser auf die Nutzpflanzen stürzen. Auch Hecken oder Krautstreifen beherbergen Nützlinge.
Dass Vielfalt Nutzen bringt, ist schon lange bekannt. Die indianischen Bäuerinnen in Nord- und Mittelamerika pflanzten Mais, Bohnen und Kürbisse zusammen: Der Mais bildet das Gerüst, an dem die Bohnen emporwachsen können. Diese nehmen Stickstoff aus der Luft auf und düngen damit Kürbisse und Mais, die viele Nährstoffe brauchen. Die Kürbisse schützen mit ihren Blättern den Boden vor dem Austrocknen.
Solche Beispiele von klugen Verbindungen gibt es auf der ganzen Welt. Darum trugen Menschen lange zur Biodiversität bei: Sie züch-teten neue Nutzpflanzen und -tiere, und sie schufen neue Lebensräume: Hecken, Steinmäuerchen, Reisterrassen, Bewässerungskanäle, lichte Wälder oder Mähwiesen. Erst als die Landwirtschaftsplaner dem Vorbild der Industrie folgten und die BäuerInnen zur Effizienz erziehen wollten, kam die Eintönigkeit.
Natürlich sind es nicht nur die Veränderungen in der Landwirtschaft, die die Biodiversität bedrohen. Häuser und Strassen zerstückeln die Lebensräume, begradigte Gewässer bieten Fischen nichts mehr. Hormone und ähnliche Stoffe im Abwasser stören den Stoffwechsel von Tieren, Schneeschuhläuferinnen die Ruhe des Auerhuhns. Der wachsende Anteil CO2 in der Luft bringt nicht nur das Klima durcheinander, sondern sorgt auch für eine Düngung aus der Luft. Viele Pflanzen ertragen sie nicht. Die Klimaerwärmung bedroht die Biodiversität im Gebirge: Wärme liebende Arten wachsen in immer grösseren Höhen und bringen dort die angestammten Pflanzen unter Druck. Diese weichen ebenfalls nach oben aus – bis es nicht mehr weitergeht. Ganz zu schweigen von den Gefahren, die anderswo die Vielfalt bedrohen: Abholzung, Ölförderung, Bergbau, Bodenzerstörung, Gentechnologie. Sie alle sind mit einer Wirtschaftsweise verbunden, die die Vielfalt nur als Rohstoffbasis betrachtet.
Da aber diese Wirtschaft immer noch nicht angetastet werden darf, wird weltweit auf eine andere Karte gesetzt: Naturschutzgebiete. Dort soll die Natur Platz haben, während es auf dem Rest der Fläche weitergeht wie bisher. Auch die meisten ökologischen Ausgleichsflächen, die in der Schweizer Landwirtschaft die Biodiversität fördern sollen, funktionieren nach diesem Prinzip: Hier wird genutzt, dort wird geschützt. «Wie könnten unter heutigen Bedingungen ökologisch wertvolle Kulturlandschaften durch Nutzung entstehen?» Diese Frage hat der Agrarhistoriker Peter Moser vor einigen Jahren gestellt. Sie bleibt bis heute unbeantwortet.
In den letzten Wochen erschienen viele Pressemitteilungen zum Biodiversitätsjahr. Darin wird gern wirtschaftlich argumentiert: Die Leistungen der Biodiversität sollen weltweit 16 bis 54 Billionen US-Dollar wert sein. Doch was bedeuten diese Zahlen eigentlich? Sie schätzen, wie viel es kosten würde, wenn die «Arbeit» der Lebewesen durch Technik ersetzt werden müsste. Die Idee, dass so etwas möglich wäre, ist ungeheuer absurd. Sie zeigt vor allem eines: Solange so über Biodiversität geredet wird, steht es nicht gut um sie.