Immer und ewig: In Flandern

Nr. 4 –


Im Mai 1940 trifft eine deutsche Kugel den französischen Dragonerhauptmann de Reixach. Das – und die Frage, ob es nun Mord oder doch Selbstmord war – ist der Kern des Romans «La Route des Flandres», den der französische Schriftsteller Claude Simon (1913–2005) 1960 veröffentlichte. Simon erzählt diese Begebenheit, ihre Vorgeschichte und das Danach nicht linear, chronologisch und leicht nachvollziehbar. Sein Text bildet vielmehr ein «Erinnerungsgewebe», wie es der Romanist Lucien Dällenbach formulierte. Simon beschränkt sich dabei auf sinnlich Wahrnehmbares: Sichtbares, Geräusche, Stimmen, Gerüche, Temperaturen.

In diesem «nouveau roman» wird man keinen einzigen psychologisierenden oder sonst wie erklärenden Satz des Erzählers finden. Überhaupt, der Erzähler: Claude Simon, der Literaturnobelpreisträger von 1985, lässt keinen allwissenden Erzähler auftreten, aber auch das Ich, das öfter vorkommt, vertritt mehrere Personen. So vibriert und schwankt die Perspektive: Wer erzählt jetzt? Wessen Gedanke ist das? Was war vorher, was nachher? Auch das macht die Lektüre der «Strasse in Flandern» besonders aufregend: Die LeserInnen sind gefordert, setzen die Bilder selbst zu einem Ensemble und einer Reihenfolge zusammen. Und die freie Struktur dieses Romans macht das Wiederlesen nach Jahren zu einer jener wunderbaren Erfahrungen, bei der man eine Geschichte erneut das allererste Mal entdeckt.

Eine Geschichte? Dieser Roman ist eine raffinierte Sammlung von Bruchstücken, Fetzen, halben und abgebrochenen Sätzen, von gesprochener Sprache und grammatikalischen «Konstruktionsfehlern» – ein kunstvoller Ausdruck der zerschossenen, zertrümmerten Wirklichkeit, ein Sprachstrudel voller kräftiger, unschöner Bilder. Und welchen Rhythmus dieser Text hat: lange Satzperioden, ausgedehnte Sprachgebilde, die an Partizipien aufgehängt sind, seitenlang ohne Punkt und Abschnitt. Musik als Sprache. Sprache als Musik.

Claude Simon: La Route des Flandres. Editions de Minuit. Paris 1960. Vergriffen

Claude Simon: Die Strasse in Flandern. Übersetzt von Eva Moldenhauer. Dumont Verlag. Köln 2003. 335 Seiten. Fr. 42.90