Liao Yiwu: China von unten

Nr. 5 –


Nach der diesjährigen Frankfurter Buchmesse hatte man genug von China. Das Buch von Liao Yiwu sollte man trotzdem lesen – auch wenn einen China nicht sonderlich interessiert. Yiwu wurde hierzulande berühmt, weil die chinesische Regierung ihn nicht nach Frankfurt reisen liess. In den Zeitungen hiess es, er sei einer «der originellsten Schriftsteller»; das einzige Buch, das von ihm erschienen ist, hat aber nichts mit Schriftstellerei oder Fiktion zu tun: Es ist schlichter Journalismus, basierend auf Gesprächen mit gewöhnlichen Leuten.

Erste Texte Liao Yiwus konnte man schon früher in «Lettre International» lesen. Die Interviews erinnern sehr an den US-amerikanischen Radiojournalisten Studs Terkel, der die Oral History mitbegründet hatte. Terkel sprach zum Beispiel mit Dutzenden von Menschen, die die Depression Ende der zwanziger Jahre miterlebt hatten. Daraus entstand «Der grosse Krach», etwas vom Besten, das man über die grosse Wirtschaftskrise überhaupt lesen kann. Näher, klarer und eindrücklicher geht es nicht.

Das gilt auch für Liao Yiwus «Fräulein Hallo und der Bauernkaiser». Dreissig Menschen kommen darin zu Wort, von der ehemaligen Grossgrundbesitzerin über einen Menschenhändler bis hin zu einem über hundertjährigen buddhistischen Mönch. Sie erzählen, wie sie Maos Revolution, die Hungersnot in den fünfziger Jahren oder den kapitalistischen Aufbruch erlebt haben.

Manches ist kaum auszuhalten. So die Geschichte von den Bauern, die heimlich ihre Kinder gegessen hatten, um nicht zu verhungern, erzählt von einem, Mann der den Kannibalismus unterbinden sollte. Da erzählt ein Komponist, wie er als junger Mann eine Parteikarriere startete, «Rechtsabweichler» peinigte, dann aber in Ungnade fiel und selber als Abweichler schikaniert wurde.

Es ist ein Buch über die Abgründe der Menschen, und doch kommen sie einem dabei sehr nah – nichts von diesem flauen Gefühl, das einen oft bei westlichen AutorInnen beschleicht, die über die seltsamen ChinesInnen staunen.

Liao Yiwu: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Chinas Gesellschaft von unten. S. Fischer Verlag. Frankfurt/Main 2009. 539 Seiten. Fr. 39.90