Musikindustrie: Ade, du schönes Album

Nr. 9 –

Der digitale Markt wirft das Geschäft mit der Popmusik auf ein Format zurück, das man längst tot glaubte: die Single. Das Album wird zum Nischenprodukt.


Das Internet hat das Konsumverhalten der MusikhörerInnen grundsätzlich verändert: Der Umsatz der Tonträgerbranche hat sich weltweit drastisch reduziert, in Deutschland, Österreich und der Schweiz in zehn Jahren gar halbiert – auch wegen der illegalen Downloads, die 95 Prozent der heruntergeladenen Musik ausmachen. Genauso einschneidend ist die Veränderung, welche die legalen digitalen Onlineshops und die illegalen «Peer-to-Peer»-Netzwerke (Tauschbörsen) bewirkt haben.

Der Fachhandel leidet

Die Verkaufseinheit im digitalen Geschäft ist nicht mehr das Album, wie wir es auf LP, MC und CD kannten, sondern zunehmend das Einzelstück. Vierzig Milliarden Songs sollen es laut Francis Gurry, dem Präsidenten der WIPO, der Uno-Organisation für geistiges Eigentum, 2008 im dominierenden illegalen Markt gewesen sein. Wie sich diese Monsterzahl auf Alben und Einzelstücke verteilt, lässt sich nicht beziffern – auch nicht im legalen digitalen Markt, wo die Wachstumsraten beträchtlich sind, den Verlust aber längst nicht ausgleichen. Die Vermutung liegt nah, im Kopf vieler KonsumentInnen sehe es aus wie in einer iTunes-Tabelle: Die Albumstruktur ist in ihre Bestandteile zerlegt, die Funktion namens iTunes DJ mischt die persönliche Musikdatenbank durcheinander.

Das digitale Musikformat ist dabei, das Albumformat zu sprengen, das in den vergangenen vierzig Jahren Standard war. Das einzelne Stück, der einzelne Song, die Single oder der Hit treten in den Vordergrund. Das bedroht das Geschäftsmodell der Musikindustrie. Tim Renner, Chef von Motor Music in Berlin und ehemaliger Leiter von Universal Music Deutschland, formuliert es so: «Jahrzehntelang verkaufte die Industrie Bündel mit zwölf Titeln für zwanzig Franken, während der Kunde eigentlich nur drei davon haben wollte. Die Angebote im Internet bieten dagegen die flexible, konsumentenfreundliche Alternative. Das Geschäftsmodell der Plattenfirmen bricht im Internet zusammen.»

Renner spricht damit das Geschäftsgebaren der kommerziell orientierten Tonträgerfirmen an. Sie leiden, denn wer nur noch drei Songs à 1.50 Franken oder ein Album à 15 Franken herunterlädt und nicht mehr das physische Album zum Ladenpreis von 30 Franken kauft, lässt kein Geld mehr im Fachhandel liegen. Er bringt die Musikwirtschaft um 20 Franken, die der Einzelhändler der Plattenfirma für die CD bezahlen muss. Bezieht man die illegalen Downloads mit ein, die etwa ein Drittel des Umsatzeinbruchs der Branche ausmachen, erklärt sich die Erosion von selbst. Jüngste prominente Opfer des Zusammenbruchs des Fachhandels sind die Filialen des seit 2002 zu Musik Hug gehörenden Traditionsunternehmens Jecklin in Baden und an der Sihlporte in Zürich.

Konzentration auf vier Minuten

Auf der ästhetischen Ebene bedeutet die Fokussierung auf den einzelnen Song: Es verschwindet die Notwendigkeit, ein Album «füllen» zu müssen, weil ein, zwei, drei taugliche Songs ausreichen, um sich auf dem Markt zu positionieren. Diese Hits lassen sich später auf einer Sammelplatte zusammenfassen. Dass sich die Wahrnehmung des Publikums stärker auf den Hit konzentriert, könnte eine Verarmung der Musikproduktion zur Folge haben. Investiert würde vermehrt in vier erfolgversprechende Minuten. Der Druck, in Songlänge den Geschmack möglichst vieler Leute zu treffen, steigt. Der Abräumer könnte das dominierende Format der Zukunft sein. Mischrechnungen, etwa aus Soulballaden und schnelleren, härteren R-’n’-B-Stücken, sind aus Investorensicht Geldverschwendung.

Experimentellere Stücke fallen weg. Das Konzeptalbum mit seinem musikalischen, inhaltlichen und dramaturgischen Bogen hat auf dem digitalen Markt wenig Zukunft. Es gehört der moribunden Sphäre des physischen Tonträgers an. Weiterhin pflegen werden das Albumformat alternative AnbieterInnen und Independent-Labels, die im kostenintensiven Promotionskampf nicht mithalten können. Es bleibt ein Nischenprodukt. Nur Spinner, Freaks und Idealistinnen werden noch Alben aufnehmen, herausgeben – und kaufen. Da hilft es wenig, dass bei einigen Independent-Vinylplatten ein Code beiliegt, mit dem KäuferInnen das Album auch gratis herunterladen können. Die Zahlen des Branchenverbands IFPI weisen für 2008 im Schweizer Markt gerade noch 30 000 Vinyl-LP-Verkäufe aus. Auch wenn einiges an Importen dazukommt, ist das als Marktfaktor vernachlässigbar.

Auf dem digitalen Markt ist heute die als physischer Tonträger fast tote Single also enorm wichtig, denn ein einzelner Song ist nichts anderes als eine «Single on demand». Im kommerziellen Markt wird das Einzelstück die Visitenkarte der KünstlerInnen. Dieses müssen die Firmen jedoch stärker bewerben als bisher, denn das Gros der angebotenen Musik im Netz interessiert niemanden.

Was bleibt den KünstlerInnen?

Die Neuausrichtung weist Parallelen zu den fünfziger und sechziger Jahren auf: Elvis Presleys frühe Aufnahmesessions wurden nie als Ganze auf einer LP zusammengefasst, obwohl Elvis seit 1956 Longplayer veröffentlichte. Viele seiner frühen Hits wie «Hound Dog», «Heartbreak Hotel» und «Are You Lonesome Tonight» erschienen lediglich als Singles und später auf Hitkopplungen. Sie dienten nicht, wie in den siebziger Jahren, als Zugpferde, um ein Album zu «breaken». Auch Soulmusik existierte lange nur im Singleformat. Erst mit Isaac Hayes und seinem Album «Hot Buttered Soul» (1969) wurde die Black Music albummarktfähig. Bedenkt man, dass KundInnen zu jener Zeit in der Schweiz für eine LP im Laden um die zwanzig Franken bezahlen mussten, ein Fünftel eines Lehrlingslohns, lässt sich nachvollziehen, weshalb die Single bis in die späten siebziger Jahre ein wichtiges Format war. Sie hatte aber den Nachteil, dass man alle vier Minuten zum Plattenspieler wandern und die Scheibe umdrehen oder wechseln musste.

Als in westeuropäischen Ländern und in Nordamerika die Kaufkraft stieg, kam der Moment, dass die Plattenfirmen mehr abschöpfen wollten: Von der Wareneinheit Single à vier bis fünf Franken wechselte die Industrie zur LP, die Ende der Siebziger zwar immer noch um die zwanzig Franken kostete, was real viel weniger war als zehn Jahre zuvor. Die CD, deren Verkaufsspitze in der Schweiz im Jahr 2000 erreicht wurde (19,6 Millionen Stück), trieb den Preis für KonsumentInnen auf ungefähr dreissig Franken pro Album hoch. Das Internet hat diesen Preis wieder halbiert, ja gesiebtelt, wenn wir von den drei kaufwürdigen Stücken je Album ausgehen – oder gar auf null reduziert, wenn Angebote illegaler Anbieter genutzt werden.

Die Plattenfirmen sparen bei der Herstellung und im Vertrieb beim nichtphysischen Musikverkauf Geld. Alle übrigen Kosten bleiben sich gleich. Auch die Zerlegung der Musik in Einzelstücke, wie sie die digitalen Vertriebsmöglichkeiten des Internets verursacht haben, bedroht die Musikwirtschaft also aufs Schärfste.

Ganz am Schluss der Nahrungskette der Kulturwirtschaft stehen die KünstlerInnen. Den meisten von ihnen bleibt heute nichts mehr an Einkünften aus dem Tonträgerverkauf. Über die legalen elektronischen Vertriebswege verdienen sie nur wenig. Dafür klettern die Konzertgagen, und die Managements kümmern sich stärker ums Merchandisinggeschäft. Gut gemachte T-Shirts und das Konzerterlebnis lassen sich digital nicht reproduzieren.