Der elektronische Raum: Rasend schnell durchs Netz

Nr. 20 –

Musik wird immer öfter nicht mehr über physische Tonträger vertrieben, sondern erreicht das Publikum auf digitalen Wegen als Datenmenge in Mega- und Gigabytes.


Das Materielle ist dabei, sich aus der Musik zu verabschieden. Die Musik verschiebt sich immer stärker in den virtuellen, elektronischen Raum. Die Digitalisierung hat die Klänge in eine Datenmenge verwandelt, deren Umfang sich in Mega- (MB) und Gigabytes (GB) misst. Im digitalen Markt ist das Greifbar-Fühlende völlig verschwunden. Megabytes sind abstrakt. Allerdings hatte bereits der Erfolg der CD seit Mitte der achtziger Jahre diese Entkörperlichung eingeleitet: Das langweilige Hartplastikschächtelchen mit Cellophan-Ummantelung, das die Branche in ihrem Jargon als «Jewel Box» schönzureden versuchte, geht leicht kaputt, verkratzt schnell und ist so angenehm anzufassen wie ein sprödes Plastiksalatsieb.

Mit der Digipack genannten aufklappbaren Kartonausgabe der CD versuch(t)en ästhetisch orientierte MusikherausgeberInnen immerhin, diesen Nachteil wettzumachen. Manchmal gelingt das fast. Der Reiz der grossformatigen LP-Hülle jedoch, die Freude beim Entnehmen der elektrostatisch geladenen Zwölfzollscheibe aus der als Gestaltungsfläche ebenfalls zur Verfügung stehenden Innenhülle, das Interesse beim Lesen des Kleingedruckten, das Betrachten der im Licht schillernden Rillen, das beinahe ein Vorhören der Musik ermöglicht und zumindest die sofortige visuelle Unterscheidung von härteren und weicheren, von schnelleren und langsameren Passagen – all diese Qualitäten des Vinyltonträgers erreichte die CD nie. Und jetzt der Sprung zum Wachstumsformat der Gegenwart: Die «unberührbaren» elektronischen Audiodateien sind ohnehin von einem anderen Stern, sie sind aseptisch.

Ein Kulturwandel

Die leichte elektronische Verfügbarkeit der Musik hat das Kaufverhalten der MusikliebhaberInnen grundlegend verändert: Für viele KundInnen war die Expedition in «ihren» Stammplattenladen ein Ritual. Sie kannten den Verkäufer, er kannte sie und wusste über ihre Vorlieben Bescheid. Verkäufer legten ihren Kundinnen eine Perle auf die Ladentheke, und diese zogen mit der Platte ab, ohne sie sich erst anzuhören. Ein Erfolgserlebnis für die Verkäuferin, ein Vertrauensbeweis der Konsumenten.

Mit dem faktischen Zusammenbruch des Tonträgerfachhandels, der sich nur noch in Marktnischen hält, sind diese KäuferInnen heimatlos geworden, und die kompetenten VerkäuferInnen verschwinden allmählich. Kein wohliges und manchmal sektiererisches Fachsimpeln mehr, kein überraschender Griff mehr in die soeben aus England oder den USA eingetroffenen Kisten. Nur noch redaktionell mehr oder eher weniger gut betreute Onlineshops, die irgendwo auf dem Globus angesiedelt sind. Sie sind ohne Bezug zu «meiner» Stadt, zu «meinem» Quartier. An die Stelle von Empfehlungen sind computergenerierte Hinweise getreten. Die lokale Anbindung, die ein guter Nährboden für lokale Produkte und Spezialitäten war, hat sich mit der Hinwendung zu digitalen Musikformaten vom Plattenladen auf die Konzertbühne verlagert.

Nähe und Beziehung

Durch die Verbreitung der digitalen Musikformate sind die MusikerInnen in weite Ferne gerückt. Früher waren die Werke einer bestimmten Band zu Hause im Wohnzimmer sichtbar. Die MusikerInnen waren in Form ihrer Tonträger materiell präsent. Platten wurden so oft gespielt, bis sie dünn und durchsichtig waren, die Hüllen, die Songtexte, jedes Brummen, jeder Kratzer; alles wurde Teil des Werks, liess eine Beziehung entstehen. Das klingt etwas esoterisch, aber Musik besass emotionale und intellektuelle Bindung. Musik war nicht nur Klang, sondern auch Inhalt, Text, Bild, grafische Darstellung, Farbe und Form, ein Gegenstand, der zum Leben gehörte wie ein Stuhl und ein Suppenlöffel.

Diese Nähe zwischen Hörenden und KünstlerInnen löst sich langsam auf. Dies schadet der Branche: Musik ist nur noch eine Audiodatei im Computer, abschaltbar und wegzuklicken. Sie hinterlässt keine handfesten Spuren im Alltag mehr. Pop gaukelt aber immer Nähe und persönliche Beziehung vor.

Eine Band machte eine neue Platte, um etwas mitzuteilen. Der Tonträger wurde für einen gemeinsamen Abend nach Hause getragen. Heute ist der Kauf ein Datenbezug, meist von Einzelsongs, denn das Albumformat gehört aufgrund der Digitalisierung zunehmend der Vergangenheit an (siehe WOZ Nr. 9/10). Daten sind unsichtbar. Was man nicht sieht, vergisst man leicht. Der Handwechsel von Milliarden heruntergeladener Titel wickelt sich ohne menschlichen Kontakt ab. Das ist schnell und praktisch, aber unmenschlich. Es fehlt an Nähe, und die Vereinzelung nimmt zu.

Fürs Urheberrecht sind die digitalen Musikformate und ihre weltweite Verbreitung Gift: Raubpressungen physischer Tonträger, sogenannte Piratenplatten oder Bootlegs, waren Material, einfach zu verfolgen und Corpus Delicti im stofflichen Sinn. Heute zirkulieren Dateien praktisch unkontrolliert und unkontrollierbar. Das Vollzugsproblem des Urheberrechtsgesetzes in Sachen Musik ist eklatant. Schickten einst die Plattenfirmen ihre Leute in die Plattenläden, um illegale Waren aufzuspüren, führt heute die Weite des elektronischen Raums die KontrolleurInnen ins Nichts.

Illegale Downloads haben einen riesigen Umfang angenommen. Sie stehlen Künstlerinnen und Produzenten ihr Brot. Die Situation wird mitverursacht und verschärft, weil entmaterialisierte digitale Audiodateien nicht mehr als Werke von Personen empfunden werden. Es bleiben Datenmengen, die von einer molochgleichen Industrie zum Kauf angeboten werden oder die man ihr entreissen kann. Das Feindbild Musikindustrie scheint für viele den Klau geistigen Eigentums zu rechtfertigen. Vor allem unter den Jüngeren schwindet das Unrechtsbewusstsein. Der Datenklau wird als Gentlemandelikt gesehen. Das ist fatal: Musik wird so zum Wegwerfartikel, der sich einfach runterladen und ebenso einfach wieder im Papierkorb versenken lässt. Was nichts kostet, ist nichts wert. Immerhin geschieht es schadstoffarm, wenn auch nicht CO2-neutral.

Weltweite Tauschbörsen

Ein entscheidender Faktor der Informationstechnologie ist ihre Geschwindigkeit. Alles soll jederzeit greifbar sein! Niemand will drei Wochen warten, bis eine CD aus Japan eintrifft, Instantkonsum ist die Devise. Dieses Bedürfnis führt zu den hohen Wachstumsraten im legalen wie im illegalen Downloadgeschäft.

Musik, die im elektronischen Raum digital vorliegt, bringt auch Erfreuliches mit sich. Erstmals in der Geschichte lässt sich Musik problemlos und schnell weltweit verbreiten. Die Musik der neuseeländischen Band ist im Nu nach Liechtenstein gebeamt. Auch die obskursten MusikerInnen aus Jyväskylä lassen sich im Internet aufspüren. Sie können sich dort präsentieren und den Kontakt mit potenziellen HörerInnen weltweit herstellen. Interpreten, Komponistinnen und ProduzentInnen sind nicht mehr auf professionelle VermarkterInnen angewiesen. KonsumentInnen brauchen nicht mehr zu hoffen, dass eine gesuchte Platte in der Schweiz vertrieben wird.

Die Breite des Angebots im Internet ist physisch nicht einmal ansatzweise zu finden: Musik digital lieferbar zu halten, ist wesentlich einfacher und vor allem günstiger, als ein Lager mit physischen Tonträgern zu bewirtschaften. Auch deswegen wurde der Plattenladen, wie wir ihn ab den siebziger Jahren bis in die neunziger Jahre kannten, zum Dinosaurier. Ein umfassendes Sortiment vermag kein Laden mehr zu finanzieren. Die immer grösseren Lücken im Sortiment des CD-Ladens treiben KundInnen ins Internet, nicht nur zu den «physischen» Onlineshops, sondern vor allem zu den «Peer 2 Peer»-Netzen. Diese Tauschbörsen bieten neue Titel in der Regel wesentlich früher an als die legalen Downloadshops – und gratis.

Das Konsumverhalten wandelt sich drastisch, daher müssen die AnbieterInnen reagieren. Das digitale Denken und Handeln mit all seinen Folgen ist von viel grösserem Gewicht als die konservative Sichtweise vom Tonträger als Grundlage des Musikgeschäfts. Nicht nur die Grossfirmen, sondern auch die Kleinen und Kleinsten müssen Wege und Nischen finden, wie sie angesichts dieser Veränderungen überleben und weiter Musik produzieren können. Das Verhältnis zwischen den KonsumentInnen der Musik und ihren UrheberInnen wird umgekrempelt: Es wird funktionaler, kälter, volatiler. Das Papierkorb-Icon ist zum Symbol der neuen Flüchtigkeit geworden.


Schweizer Musikbranche

Laut dem Branchenverband IFPI erzielte die Schweizer Musikbranche vergangenes Jahr 23,7 Millionen Franken Umsatz mit digitalen Angeboten. Stimmt der aus einer staatlichen Erhebung der Justizministerien von Deutschland, Österreich und der Schweiz stammende Befund, dass in diesen Ländern 95 Prozent aller Musikdownloads aus illegalen Quellen stammen, belief sich der gesamte hiesige digitale Markt 2009 auf 474 Millionen Franken. Mit physischen Tonträgern hingegen setzte die Branche in der Schweiz lediglich noch 144 Millionen um, das schlechteste Ergebnis seit 1985. CD, LP, MC, DVD Audio und SACD sind im Markt mittlerweile marginale Formate.