Mobiler Alltag: Das Gesicht sehen wir nicht
Irgendwann hatten alle ein Handy – auch jene, die nie eins wollten. Warum? Und wie hat das die Gesellschaft verändert? Die letzte handylose Journalistin sucht nach Antworten.
«Eine aufgeladene Prepaid-Karte macht noch keinen eingeladenen Freundeskreis.»
Die Goldenen Zitronen, «Mila» (2006)
Sie lagen daneben. Nicht nur ein bisschen, sondern um den Faktor zwanzig: 1985 hatte ein Expertengremium im Auftrag der PTT geschätzt, wie viele Mobiltelefone die Menschen in der Schweiz um die Jahrtausendwende besitzen würden. Sie prognostizierten 235 000. Fünfzehn Jahre später gab es die PTT nicht mehr – 1997 hatte sie sich aufgetrennt in Post und Swisscom. Dafür klingelten im Land mehr als viereinhalb Millionen Handys.
Wer sich über die konservative Einschätzung von damals wundert, sollte das Museum für Kommunikation in Bern besuchen. Dort kümmert sich der Konservator Kurt Stadelmann seit siebzehn Jahren um den Bereich der Telekommunikation. Gerade bereitet er die Ausstellung «Wo bisch? Handy macht mobil» vor, die am 15. Oktober in Bern eröffnet wird. Im Museum ist das erste Handy ausgestellt, das keineswegs «handy» war: «Hier haben wir das Natel A von 1978», erklärt Stadelmann. «Es ist fünfzehn Kilo schwer und kostete etwa 15 000 Franken.» Ein unförmiges Ding, aber dank Metallkoffer tragbar. Das ausgestellte Exemplar gehörte dem Bundesamt für Energiewirtschaft, genauer der «Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen» in Würenlingen.
Mehr Handys als Menschen
«Funktelefone gab es schon früher: ab den dreissiger Jahren in SAC-Hütten, später in Autos eingebaute Anlagen, etwa für Taxifahrer», erzählt Stadelmann. «Das Natel, abgekürzt für Nationales Autotelefon, wurde dann 1978 eingeführt. Manager oder Bauführer benutzten es.» Das Natel B, schon etwas handlicher, gleicht einem Schulthek mit Antenne. Von diesen Modellen gingen die Prognostiker vor 25 Jahren also aus – von teuren Luxusgeräten, die erst noch extrem störungsanfällig waren. In den ersten Jahren häuften sich die Beschwerdebriefe bei der PTT: «Leider muss ich heute feststellen, dass ich die Fr. 11'000.– je Gerät zuzüglich Gebühren für den Anrufummelder zum Fenster hinausgeworfen habe», schrieb etwa ein erzürnter Geschäftsmann.
Das Natel C von 1988 war schliesslich auf die Grösse eines Funkgeräts geschrumpft. Danach nahmen Mobiltelefone langsam die Form an, die wir heute kennen. Mitte der neunziger Jahre begann der Boom: 1996 waren es noch weniger als 10 Handys pro hundert EinwohnerInnen, 2001 bereits 73. Dann verlangsamte sich das Wachstum, zeitweise stagnierte es sogar. Ab 2004 stieg die Kurve aber wieder an, und seit 2007 gibt es in der Schweiz mehr Handys als Menschen.
Warum eigentlich? Warum wollen alle so ein Gerät? Die wenigen übrig gebliebenen Handylosen wissen auf diese Frage auch keine Antwort. «Ich brauche es einfach nicht», sagt ein Schüler. «Wenn ich eins hätte, würde dauernd meine Mutter anrufen», erklärt eine Soziologin. Und ein Typograf meint: «Ich muss nicht immer erreichbar sein. Ich sehe nicht ein warum.» Er habe «null Lust auf so ein Leben».
Auch die Schriftstellerin und Übersetzerin A. hat es lange ohne Handy ausgehalten – bis vor etwa zwei Jahren. «Dann ging es einfach nicht mehr. Ich habe kurzfristige Sitzungen an meinem damaligen Arbeitsort nicht mehr mitbekommen. Und ich bin extrem abhängig von anderen Medien geworden, von Mail und Telefonbeantworter.» Einerseits wurde die Organisation des Alltags mit mehreren Jobs ohne Handy immer schwieriger. Anderseits kommunizierten viele FreundInnen fast nur noch per SMS: «Bei spontanen, schnellen Treffen war ich irgendwann nicht mehr dabei. Ich bin aus dem Kommunikationsnetz gefallen.»
Handylosigkeit bedroht also einen empfindlichen Punkt der meisten Menschen: das Gefühl von Zugehörigkeit.
Die Gewöhnung an das Telefon dauerte lange. Heute ist kaum mehr vorstellbar, wie sehr dieser Apparat die Menschen um 1900 verwirrte. Viele brüllten bei den ersten Gesprächen ins Mikrofon – es konnte doch nicht sein, dass sich so weite Distanzen mit normaler Gesprächslautstärke überwinden liessen. Und dass man einander hören, aber nicht sehen konnte: In Abtwil bei St. Gallen soll eine Frau gewirtet haben, die ihren Gästen vergessene Gegenstände «durch das Telefon» zu zeigen versuchte. Die Angst vor den körperlosen Stimmen am Ohr war weitverbreitet. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts begannen Jugendliche beim ersten Telefongespräch zu zittern, zu stottern oder brachen sogar in Tränen aus.
Heute ist dagegen das fehlende Telefon ein Grund zum Weinen. Beat Schmitter, Kinder- und Jugendpsychiater aus Romanshorn, erzählt: «Jugendliche aus armen Familien können sich oft kein Abo, nur eine Prepaidkarte leisten. Wenn sie leer ist, sind sie nicht mehr erreichbar, fühlen sich ausgeschlossen. Da wächst der Druck, Geld zu stehlen.»
«Es geht mir gut!» – Stimmt das?
Früher stand das Telefon in der Stube, in Haushalten mit Teenagern ein umkämpftes und überwachtes Objekt. Dass das nicht mehr so sei, finde er gut, sagt Schmitter. «Dafür kontrollieren sich Jugendliche heute oft gegenseitig: ‹Wo bist du, mit wem, warum hast du das Telefon nicht abgenommen?› und so weiter. Das Handy hat den Umgang untereinander direkter gemacht, auch brutaler, wenn es etwa um das Beenden einer Beziehung geht.»
Der Psychiater interpretiert den intensiven Handygebrauch vieler Jugendlicher als Gegenstrategie zum Gefühl, in eine anonyme Welt geworfen zu sein: «Früher wussten die Menschen eines Dorfes oder eines Quartiers sehr viel übereinander: Wer gerade krank ist, wer immer spät nach Hause kommt ... Seit diese Gemeinschaften auseinandergefallen sind, ist ein Vakuum entstanden.» Mit dem Handy könne das ausgeglichen werden: «Wir wissen genau, was unsere Bekannten machen, auch wenn sie kilometerweit weg wohnen. Das ist eine Vernetzung wie früher. Allerdings ist sie virtuell: Wenn im SMS steht: ‹Es geht mir gut›, können wir der Person nicht ins Gesicht schauen, um zu sehen, ob es stimmt.»
«Mein Film ‹Handy-Generationen› ist heute schon fast ein historisches Dokument», sagt Elke Wurster. Die Zürcher Kulturwissenschaftlerin hat ihn 2002 als Lizenziatsarbeit gedreht. Sie hat den Handygebrauch von drei Generationen einer Familie festgehalten. Damals sei das Handy noch viel weniger selbstverständlich gewesen als heute, sagt Wurster und holt aus: «In der öffentlichen Debatte zu einer neuen Technik gibt es mehrere Phasen. In der ersten dominieren Faszination und Angst.»
In der zweiten Phase beginne sich die Technik zu etablieren, jetzt gehe es darum, wie man sie anwende. «Als ich den Film drehte, begann diese Phase», sagt Wurster. «Es gab intensive Diskussionen, ob Handys in öffentlichen Verkehrsmitteln stören oder ob Kinder auch Handys haben sollten, und in den Zeitungen erschienen ‹Handy-Knigges›.» Inzwischen seien wir klar in der dritten Phase: «Jetzt geht es um unbeabsichtigte Folgen der Technik, um das Eindämmen der Schäden. Aber die Technik wird nicht mehr generell infrage gestellt.»
«Was, du schreibst über Handys?», fragt Kollege C., 27. – «Was gibt es denn dazu zu sagen?»
«Für die Akzeptanz von Technik ist nicht das Lebensalter entscheidend», betont Elke Wurster, «sondern die Erfahrungen mit Technik, die eine Person in der Jugend geprägt haben. Ich merke das bei mir selber: Mit Jahrgang 1964 bin ich in einer technikkritischen Zeit aufgewachsen, während der Ölkrise und als die ersten Weltläden entstanden. Ich bin skeptischer als meine Eltern. Ihre Generation ist geprägt von der Fortschrittsbegeisterung der fünfziger Jahre.»
Elke Wursters Film ist noch auf VHS erschienen. Beim Versuch, ihn anzusehen, frisst das WOZ-Videogerät die Kassette. Und beim Versuch, das Ding zu retten, beginnt der Fernseher zu spinnen – der altehrwürdige WOZ-Fernseher, der seinen letzten grossen Auftritt bei der Blocher-Abwahl hatte. Er schaltet sich immer nach zehn Sekunden aus. Eine absurde Performance im Retro-Stil.
Das Handy als Körperteil
Als Kulturwissenschaftlerin bemühe sie sich, keine kulturpessimistische Haltung einzunehmen, sondern auch Chancen zu sehen, sagt Elke Wurster. «Man kann das Handy benutzen, um die eigenen Kinder zu kontrollieren oder um ihnen mehr Freiheit zu ermöglichen. In der Familie, die ich porträtiert habe, durfte die Tochter schon jung in den Ausgang. Dass sie ein Handy bei sich hatte, gab allen ein Gefühl von Sicherheit.»
Für Jugendpsychiater Schmitter ist das Handy im Arbeitsalltag eine grosse Hilfe: «Wenn Jugendliche selbstmordgefährdet sind, bin ich mit ihnen per SMS jeden Tag im Kontakt. Das hat sich sehr bewährt.»
Die Schriftstellerin A. erzählt: «Kürzlich hat mir eine Freundin aus Bangkok um vier Uhr morgens ein SMS geschickt. Diese Gleichzeitigkeit über grosse Distanzen hinweg gefällt mir. Das hat etwas sehr Verbindendes.» Gleichzeitig findet sie aber auch, die Kommunikation im Ganzen habe sich verschlechtert und verflacht. «Sie wird ungenau.»
«In einem beliebten Handyspiel muss man möglichst schnell eine WC-Rolle abspulen», sagt Telefonspezialist Stadelmann. «Was soll das? Ich weiss es auch nicht. Dieses Gerät ist kein Telefon mehr, aber was ist es dann? Manche nehmen es fast als Körperteil wahr.»
Wie gross das Suchtpotenzial sei, sehe er bei seinem zwölfjährigen Sohn. «Ich staune, wie unbedarft der Umgang nicht nur mit Technik, sondern auch mit vielem anderen ist», sagt er. «Das Markendenken beginnt früh. Man muss das Richtige haben. Das Snowboard der richtigen Marke, auch wenn es nur für einen Nachmittag gemietet ist. Eltern brauchen irrsinnig Energie, um damit umzugehen.»
Von jungen Menschen, die nicht genug bekommen, kann auch Beat Schmitter erzählen: «Es reicht nicht, mit bestimmten Menschen an einem bestimmten Ort zu sein. Viele Jugendliche müssen immer gleichzeitig noch mit Abwesenden kommunizieren.» Die psychischen Folgen davon: «Sie können sich auf die Gegenwart nicht wirklich einlassen. Sie sind immer auf dem Sprung, immer schon woanders. Das geht auf Kosten der Beziehungsfähigkeit.»
Ade, öffentlicher Raum
Schriftstellerin A. ist ebenfalls beunruhigt über schleichende Entwicklungen. «Alles passiert immer im Kleinen, ist entschuldbar. Die kleinen Teile summieren sich, bauen aufeinander auf. Der Handyfeind kauft ein Handy. Das ist ja nicht schlimm. Esse ich kein Fleisch oder habe ich kein Telefon? Was ist noch okay?»
Auch der Raum habe sich verändert. «Die Orte werden in kürzester Zeit gewechselt. Es gibt keine Treffpunkte mehr. Man weiss nicht mehr, wo die Leute sind. Der öffentliche Raum löst sich auf.»
Wir sprechen immer mehr mit Menschen, die nicht im gleichen Raum sind. Was macht das mit dem Raum, in dem wir sind? Welche Verantwortung haben wir noch für ihn? Für welchen Ort sind wir zuständig: für jenen, wo wir arbeiten? Schlafen? Wandern? Für den Raum auf dem Bildschirm? Was ist ein lebenswerter Raum?
«Ich bin selten an einem schönen Ort», sagt Kollege C. «Ich lebe im Beton. Den brauche ich, weil er mich antreibt.» Gibt es keinen schönen Ort in seinem Alltag? C. denkt lange nach. «Doch. Die Binz.» Das besetzte Fabrikgelände mit seinen Gemeinschaftsküchen, hängenden Zimmern, gewagten Treppenkonstruktionen aus Abfallholz, die irgendwo zwischen den Dächern ins Nichts führen, ist einer der letzten Ecken in Zürich, die der kapitalistischen Verwertung entzogen bleiben. Für eine Weile noch. Dort wohnen Menschen ohne Festnetzanschluss. Partys und Demos organisieren sie per SMS.