Massenentlassung bei Clariant: Machtlos in Muttenz
Der Spezialchemiekonzern entlässt bis 2013 ein Drittel der Belegschaft in Muttenz. Hoffnung gibt es wenig, doch die Angestellten wollen kämpfen. Letzte Woche haben sie damit begonnen.
Beinahe hätten sie ihn vergessen, «den wichtigsten Mann hier», wie er eben genannt wurde. Jörg Studer verlässt das Regierungsgebäude in Liestal. Aber vor der Tür wartet niemand, keine Freunde, keine Journalistinnen, keine Demonstranten, nur die eisige Kälte.
Bevor er das Parlament besuchte, hatte Studer, der Präsident der Betriebskommission von Clariant, vor knapp 250 DemonstrantInnen eine flammende Rede gehalten. «Seid ihr bereit, für eure Arbeitsplätze zu kämpfen?», hatte er gefragt. Lautes Gejohle, Pfiffe, Applaus. «Die Herzen der Bevölkerung», wird Studer später sagen, «die schlagen für uns.»
Aber jetzt, als Studer das Regierungsgebäude mit dem Megafon in der Hand verlässt, steht er ziemlich einsam da. Er nimmt es mit Humor. «Stopp, Stopp Stellenabbau», sagt er ein letztes Mal und schmunzelt. Dann suchen wir die DemonstrantInnen. Sie sind aber bereits auf dem Weg zurück nach Muttenz, zum Hauptsitz von Clariant. «Wie fandest du meine Rede?» – «Ist gut bei den Leuten angekommen. Vielleicht etwas zu gut, so euphorisch, wie sie losgelaufen sind und uns hier vergessen haben.» Studer lacht. «Dabei habe ich erst heute Morgen ein paar Stichworte notiert. Mehr nicht.»
Viel Vorbereitung benötigte Studer ohnehin nicht. Seit Wochen treibt ihn nur noch ein Thema um: der Stellenabbau beim Chemieunternehmen Clariant. CEO Hariolf Kottmann kündigte vor einem Monat an, bis 2013 400 Angestellte am Standort Muttenz zu entlassen, ein Drittel der gesamten Belegschaft. Die Produktion von Farbstoffen und Chemikalien für die Textilindustrie rentiere in Europa nicht, sie soll nach China verlagert werden. «Ausgerechnet nach China», ruft Studer empört aus. «In eine Diktatur, die sich weder um Menschenrechte noch Umweltschutz kümmert.» Aber nicht nur am Hauptsitz in Muttenz baut der Chemiekonzern Arbeitsplätze ab. Im französischen Huningue, keine fünfzehn Kilometer entfernt, schliesst Clariant das ganze Werk. 260 Menschen verlieren ihren Job.
Einige kommen aus Huningue
Es ist der 11. März, kurz nach sechs Uhr in der Früh. Die Nachtschicht ist soeben zu Ende gegangen. Vor dem Haupteingang des Clariant-Sitzes in Muttenz steht ein Zelt. Drinnen gibt es Kaffee und Gipfeli. Draussen drängen sich die RaucherInnen um einen Heizpilz. Transparente werden ausgerollt und an die Zäune des Firmengeländes gehängt. Kurz nach fünf Uhr haben sich die ersten besammelt, jetzt stehen knapp hundert Angestellte und GewerkschafterInnen hier. Einige stammen aus Huningue. «Es werden noch mehr kommen. Aber sie stecken im Stau», sagt ein stämmiger Mann mit Schnauz. Er trägt eine Leuchtweste der französischen Gewerkschaft CGT, er arbeitet hinter der Grenze. «In Huningue schliessen sie das ganze Werk. Seit November streiken wir immer wieder: mal zwei Stunden, mal einen ganzen Tag. Heute streiken wir, um in Muttenz gegen Kottmann zu protestieren.»
«Kotzmann, nicht Kottmann!»
Es ist das einzige Mal an diesem Tag, dass er den Namen des CEO so ausspricht. Später wird er andere immer wieder korrigieren, wenn sie den Namen des Clariant-Chefs in den Mund nehmen: «Kotzmann, nicht Kottmann!» Die Lacher sind ihm sicher. Er sagt: «Es heisst, in Huningue fehlten dreissig Millionen Franken. Aber die Schliessung des Werks kostet sechzig Millionen. Warum schliessen sie es dann?»
Während in Huningue die Kündigungen ausgesprochen sind und sich fast die ganze Belegschaft an Streiks und Protestaktionen beteiligt, ist man in Muttenz noch weit davon entfernt. «Wir müssen zusammenhalten, eine Bewegung werden. Nur so können wir etwas erreichen.» Das sagen fast alle hier. Bei den wenigsten tönt es überzeugend. Wie auch? Als die Angestellten von der Massenentlassung erfuhren, war sie bereits beschlossene Sache. Der Betriebskommission wurde der Stellenabbau am 15. Februar um 17 Uhr nach Börsenschluss mitgeteilt. Tags darauf informierte Clariant die Öffentlichkeit. «Und jetzt erst, rund einen Monat später, wurde die bei Massenentlassungen vorgeschriebene Konsultationsfrist eröffnet», sagt Jörg Studer. «Wo der Entscheid doch längst gefallen ist.»
Gegen halb neun bewegen sich die Anwesenden Richtung Bahnhof, wo sie mit Bussen nach Liestal gebracht werden. Rund 250 DemonstrantInnen ziehen vor das Regierungsgebäude. Janka Schmid (38, Name geändert) hat vorher noch gelacht, als ihr Kollege sagte: «Das machen wir wieder, auch wenn wir nicht mehr hier arbeiten.» Aber jetzt ist sie aufgebracht. Seit zehn Jahren arbeitet sie als Labortechnikerin in Muttenz. Sie wird ihren Job verlieren. Das weiss sie: «Wahrscheinlich bringt das hier nicht viel. Wir sind machtlos. Aber soll ich arbeiten, wie wenn nichts wäre?»
Als Schmid vor der Demo kurz ins Labor ging, waren da vier Leute, sonst seien es zwölf. «Die fluchen ständig über die Chefs, reden viel, aber dann stehen sie nicht mal hin, wenn es um ihren Job geht. Die schauten mich nur von oben herab an. Als ich meine Kappe holen wollte, lachten sie spöttisch: Ob ich schon genug hätte von der Kälte.» Janka Schmid ist enttäuscht, dass nicht mehr Arbeitskolleginnen gekommen sind. «Die haben Angst. Die Kündigungen sind ja noch nicht ausgesprochen. Sie hoffen, dass sie länger bleiben können, wenn sie schweigen.» Und sie? Hat sie keine Angst? «Bevor ich zu Clariant kam, arbeitete ich als Putzfrau. Ich habe alleine zwei Kinder grossgezogen. Ich habe keine Angst. Wir werden unseren Arbeitsplatz sowieso verlieren. Und dann gehe ich eben wieder putzen. Aber bis dann kämpfe ich.»
Die DemonstrantInnen versammeln sich alle vor dem Regierungsgebäude in Liestal, die ParlamentarierInnen gehen an ihnen vorbei, einige bleiben stehen und hören zu. Es folgen Reden, in denen gegen das Management gewettert und den Clariant-ArbeiterInnen Mut zugesprochen wird. Man fordert ein angemessenes Mitwirkungsrecht für die Betroffenen, eine Taskforce, die sich mit allen Beteiligten zusammensetzt, und einen Sozialplan, der diesen Namen verdient.
«Der muss mich raustragen!»
Und dann wird Jörg Studer angekündigt, «der wichtigste Mann hier». Grosser Applaus. Man kennt ihn. Er arbeitet seit Mitte der neunziger Jahre als Logistikassistent bei Clariant und sitzt seit über zehn Jahren in der Betriebskommission. «Wir müssen zusammenhalten, kämpfen, Druck von unten aufbauen», sagt Studer. Dann ruft er: «Der Kottmann, der kann mich rauswerfen! Aber meinen Stolz und meine Würde werde ich nicht verlieren. Der Kottmann kann mich nicht brechen! Der muss mich schon aus der Bude raustragen!»
Die anwesenden Labortechnikerinnen, Chemiker, Gewerkschafterinnen, Journalisten johlen, jubeln, pfeifen. Sie lassen 400 schwarze Ballone in den Himmel steigen, einen für jede gestrichene Stelle. Die DemonstrantInnen schreiten euphorisch in Richtung Bahnhof. Studer und eine kleine Delegation betreten das Regierungsgebäude. SP-Landrat Andreas Giger hat eine dringliche Interpellation zur Massenentlassung eingereicht. Studer will ein paar Worte ans Parlament richten. Er steht auf der Zuschauertribüne, ein Transparent wird über die Brüstung gehängt. «Kann ich jetzt etwas mit dem Megafon sagen?», fragt Studer. «Noch nicht. Sie behandeln die Interpellation erst am Nachmittag.»
Studer zuckt mit den Schultern. Dann zieht er ab. «Wir kommen später wieder.»