Aargauer Industrie: Perspektiven der Ohnmacht
Der Aargau ist einer der wichtigsten Industriestandorte der Schweiz. Ein riesiges Sparprogramm bei General Electric rüttelt nun am Selbstverständnis des Kantons. Tausende Angestellte verlieren ihre Jobs, Politik und Gewerkschaften sind machtlos.
Im aargauischen Oberentfelden befindet sich an der Carl-Sprecher-Strasse 3 eine Zweigstelle des gigantischen US-amerikanischen Mischkonzerns General Electric (GE). Der Name der Strasse erzählt viel über diesen Ort – über die Vergangenheit und die Zukunft gleichermassen. Das Werk an dieser Adresse, in dem Schaltanlagen für Stromnetze hergestellt werden, war einst Teil des längst filetierten und ausverkauften Aargauer Elektrotechnikunternehmens Sprecher und Schuh. Heute gehört es zum Portfolio von General Electric.
Noch ist das grosse Parkfeld vor der riesigen Produktionshalle gut gefüllt; in den kommenden Monaten wird es jeden Tag leerer werden. Noch brummt es in der Halle; bald wird es still sein. Von den 619 Stellen sollen nur 119 übrig bleiben und sich auf die übrigen Standorte verteilen. Das Geschäftsfeld wechselt nach Frankreich.
Es ist die vierte Massenentlassung bei General Electric im Aargau in den letzten fünf Jahren. 2016 übernahm der US-Konzern die Energiesparte des französischen Konkurrenten Alstom, darunter die Standorte in Baden, Birr und Oberentfelden. Und damit auch Arbeitsverträge mit 5300 ArbeitnehmerInnen. Nun verbleiben noch gut 2000 Angestellte.
Für den Kanton Aargau ist das ein gewaltiger Schlag, ein weiteres Stück industrielles Erbe, das zertrümmert wird. Mehrere Phasen der Deindustrialisierung hat der Kanton schon hinter sich. Erst verschwand in den siebziger Jahren die Textilindustrie, dann traf es die mächtige Elektrotechnikbranche. BBC, ABB, Alstom und nun GE heissen die Riesen, die erst wuchsen, zukauften, ausbauten; sich irgendwann überhoben oder den Anschluss verpassten. Und sich dann restrukturierten, aufsplitterten und verkleinerten. Die Konzerne schufen Stellen und vernichteten sie. Tausende MitarbeiterInnen bauten sich eine Existenz auf und sahen diese dann gefährdet. Das Beispiel General Electric bietet dabei ein Lehrstück über die Hilflosigkeit der Politik im Umgang mit internationalen Konzernen, über die Schwäche der Gewerkschaften und das Ausgeliefertsein der Angestellten.
Drei Perspektiven auf diese Ohnmacht: Urs Hofmann, ehemaliger Präsident des kantonalen Gewerkschaftsbunds, SP-Nationalrat von 1999 bis 2009 und bis vor kurzem Aargauer Volkswirtschaftsdirektor, kämpfte vergeblich, um das Schlimmste zu verhindern. Die ehemalige Gewerkschaftssekretärin Silke Treusch kritisiert die Versäumnisse der Unia: «Sie glauben, den Industriearbeiter gebe es nicht mehr.» Und eine langjährige Angestellte in Oberentfelden erzählt, wie ihr Hoffnung gemacht und genommen wurde.
WOZ: Herr Hofmann, haben Sie sich als Politiker schon einmal derart machtlos gefühlt wie bei diesem Kahlschlag?
Urs Hofmann: Ja, solche Situationen gab es schon vorher. 1991 – ich war damals Vizestadtpräsident von Aarau – wurde die Traditionsfirma Kern Knall auf Fall geschlossen, mehr als 400 Arbeitsplätze verschwanden. Oder die BBC: Sie befand sich zweimal in einer schwierigen Situation. Ende der achtziger Jahre rettete sie sich in die Fusion mit Asea zur ABB. Über die Jahre hinweg gingen Tausende Stellen verloren. Auch Alstom hatte schon vor dem Verkauf an General Electric grosse Probleme. Wenn wir mit Ingenieuren vor Ort sprachen, äusserten sie die Befürchtung, dass die Löhne wohl nächstens nicht mehr bezahlt werden könnten.
Trotzdem kaufte General Electric die ganze Sparte für zehn Milliarden Dollar.
Ein genialer Deal – für Alstom, nicht jedoch für die Amerikaner. Kurz nach dem Kauf verkündete GE die erste Abbaurunde. Rund 900 Stellen wurden in Baden gestrichen. Die meisten hatten das erwartet und akzeptierten es auch. Parallel dazu gab es sehr optimistische Aussagen von GE-Kaderleuten. Der damalige Chef von GE in der Schweiz, Paul McElhinney, schwärmte in einem Interview vom Schweizer Standort, vom Potenzial, das darin schlummere. Das hörten wir natürlich gerne, auch wenn wir immer skeptisch blieben. Kurz darauf wurde ein weiterer massiver Stellenabbau bekannt gegeben, auch der Betrieb in Oberentfelden stand vor der Schliessung. Das war ein Schlag ins Gesicht.
Wurden Sie belogen?
Es gab immer wieder Versprechungen, die nicht gehalten wurden. Angesichts der häufigen Wechsel im oberen GE-Management muss offenbleiben, ob die jeweiligen Akteure uns bewusst hinters Licht geführt haben oder ob sie selbst konzernintern ausgebremst wurden.
Die Schweizer Politik mühte sich nach Kräften, blieb aber letztlich ohne jeden Einfluss.
So absolut stimmt das nicht. Den Standort Oberentfelden gäbe es ohne unsere Bemühungen bereits seit Jahren nicht mehr. Auch sollen immerhin noch über 100 Stellen in Oberentfelden bestehen bleiben.
Von rund 500 Stellen werden 119 gerettet. Und wer weiss schon, für wie lange.
Der Staat hat keine Zwangsmittel, das ist die Realität. Wenn in den USA oder in Paris Abbaumassnahmen beschlossen werden, können wir einzig protestieren und die betriebswirtschaftlichen Vorteile des Standorts aufzeigen. Solche Entscheide hoheitlich verhindern können wir nicht. Die Kantone sowieso nicht, aber auch dem Bund fehlen Möglichkeiten.
Weil die Schweiz keine aktive Industriepolitik betreibt?
Was heisst schon «Industriepolitik» im Umfeld globalisierter Konzerne? In der Regel höre ich hier vor allem «man sollte» – was genau, bleibt schwammig. Erfahrungsgemäss sind solche Kahlschläge die Folge von Fehlentwicklungen während Jahren und Jahrzehnten und dem Verlust der Konkurrenzfähigkeit auf den internationalen Märkten. Unter einer für die Zukunft wirksamen Industriepolitik verstehe ich vorab eine aktive Innovationspolitik für die ortsansässige Industrie. Eine Industriepolitik in diesem Sinn hat der Aargau in den letzten zehn Jahren entwickelt: Wir haben das Hightech-Zentrum in Brugg geschaffen und beim Paul-Scherrer-Institut einen Innovationspark aufgebaut.
Frankreich wird oft als Beispiel für eine aktive Industriepolitik genannt. Die teilweise in Staatsbesitz stehende Alstom wurde dennoch in die USA verkauft, und in Frankreich sind trotzdem nur noch rund 10 Prozent der Beschäftigten in der Industrie tätig, gegenüber mehr als 25 Prozent im Aargau. Ich zweifle daran, dass es in unserem Kanton mehr Industriearbeitsplätze gäbe, wenn der Bund der BBC seinerzeit die Fusion mit Asea oder den Verkauf der Energiesparte an Alstom untersagt hätte.
Rovena Argast* arbeitet seit über zehn Jahren in Oberentfelden, zuerst unter dem Management der Alstom und jetzt als Mitarbeiterin von General Electric. Historisch betrachtet, sind das nur zwei der vielen Besitzer dieses Werks. Ein kurzer Exkurs in die Welt der Mergers, der strategischen Zu- und dringenden Notverkäufe: 1986 kaufte Alstom dem Aargauer Industriepionier Sprecher und Schuh den Produktionsstandort für Hochspannungstechnik ab. Sprecher und Schuh hat sich seither durch Aufteilungen und Verkäufe längst in alle Himmelsrichtungen zerschlagen.
2004 geriet Alstom in Geldnot und verkaufte das Werk in Oberentfelden an den französischen Energieriesen Areva. Dieser wiederum veräusserte 2010 die gleiche Sparte zurück an Alstom und mit ihr denselben Fleck Land, die gleichen Hallen und dieselben MitarbeiterInnen und deren Bürostühle.
«Es gab Kolleginnen und Kollegen, die haben das alles mitgemacht», sagt Argast. Die letzten Jahre seien schwierig gewesen. «Bis zuletzt hat man uns Hoffnung gemacht, dass es uns nicht trifft.» Alle hätten mitgedacht, wie die Ziele erreicht werden könnten, sagt sie. «Wir haben gespart, wo wir konnten.» Immer in der Hoffnung, den Job zu behalten. «Aber dann hiess es doch wieder, das Budget könne nicht eingehalten werden, die Finanzen seien düster.»
Rovena Argasts Arbeit war geprägt von Restrukturierungen. Das war schon vor der Übernahme nicht anders. «Ich war irgendwann nur noch damit beschäftigt, mir die neuen Namen einzuprägen», sagt sie. Jeder neue Chef, jede neue Chefin veränderte das Organigramm und die Zuständigkeiten. Die überholten Arbeitsprozesse habe nie jemand angetastet. Typisch sei auch gewesen, dass mit dem Kaderwechsel neue Software und neue Tools eingeführt worden seien. «Keiner hat gemurrt, alle haben die Weiterbildungen gemacht, jedes Mal wieder von neuem», sagt sie. An der Anpassungsfähigkeit habe es nie gefehlt. An der Loyalität ebenfalls nicht.
Genutzt hat es nicht viel: Argast hat vor ein paar Wochen die Kündigung erhalten. Sie ist jetzt zehn Monate lang im Sozialplan des Konzerns. In dieser Zeit muss sie monatlich zehn Bewerbungen schreiben; wenn sie diese Quote erfüllt, bleibt sie im Sozialplan. Um all die Entlassungen abzuwickeln, hat General Electric mit der Hilfe externer Firmen ein eigenes Büro aufgebaut. Dort gibt es auch Kurse, etwa wie man den Lebenslauf aufpeppt. Bis zu ihrem Austritt muss sie sich um die Übergabe ihrer Tätigkeiten und ihres Know-hows an KollegInnen in Frankreich kümmern, wohin GE das Geschäftsfeld zügelt. Sie sagt: «Ich mache das genauso pflichtbewusst, wie ich früher meine Arbeit erledigt habe.»
WOZ: Herr Hofmann, waren Sie überrascht, wie wenig Widerstand vom Personal gegen die Massenentlassungen kam?
Urs Hofmann: Für mich war es erstaunlich, wie ruhig die Angestellten blieben. Die Gewerkschaften haben sich zwar zusammen mit der Personalvertretung im Konsultationsverfahren sehr engagiert und ihre Vorschläge eingebracht. In Oberentfelden gab es auch eine Protestaktion vor dem Werk, allerdings ohne Einfluss auf die Entscheide von GE.
Wie erklären Sie sich diese Schwäche der Gewerkschaften?
Der Organisationsgrad der Gewerkschaften im Industriebereich ist meist gering. Dies gilt vor allem in einem Unternehmen wie GE, in dem sehr viele hoch qualifizierte Fachkräfte arbeiten, die traditionell nicht gewerkschaftlich organisiert sind. Wir vom Kanton hatten zwar bei GE eine sehr gute Zusammenarbeit sowohl mit der Personalvertretung als auch mit den Gewerkschaften Syna und Unia. Wirksam Einfluss nehmen konnten die Gewerkschaften ohne breite Verankerung in der Belegschaft jedoch nicht.
Als eingefleischter Gewerkschafter sind Sie enttäuscht.
Es ist sicher nicht so, dass Schweizer Gewerkschaften einem globalen Konzern Angst und Schrecken einjagen. In unseren Nachbarländern werden die Gewerkschaften aktiver wahrgenommen. Ein Beispiel: Die ABB plant, ein Geschäftsfeld in Oerlikon zu konzentrieren und in Deutschland einen Betrieb zu schliessen. Deswegen kamen deutsche Gewerkschafter – offenbar mit Sukkurs ihrer Schweizer Kollegen – nach Oerlikon, um zu demonstrieren. Die Belegschaft in Oerlikon hatte Bedenken, dass sich die ABB noch umentscheidet und Arbeitsplätze aus der Schweiz nach Deutschland verlagert, weil sie merkt, dass der Widerstand dort grösser ist. Dass sich deutsche oder französische Gewerkschaften für die Kollegen und Kolleginnen in Oberentfelden einsetzen, kann ich mir nicht vorstellen. Von internationaler Solidarität war hier nichts zu spüren. Die Franzosen wollten einfach ihre eigenen Arbeitsplätze retten.
Ein ehemaliger Gewerkschafter im Aargau hat mir erzählt, wie er oft in den Betrieben an dem angestossen ist, was er «Aargauer Facharbeiterstolz» nennt. Man war stolz, nie gestreikt zu haben. Von der Unia wollte man nichts wissen, lieber arrangierte man sich intern mit dem Chef. Und man glaubte, den Kollegen im Ausland überlegen zu sein, weil diese länger Mittagspause machten. Erleichtert diese Mentalität Abbauprogramme?
Diese Grundhaltung ist keine Aargauer Spezialität, das findet man allenthalben in der Deutschschweiz. Tatsache ist, dass es die Gewerkschaften in der Industrie heute schwerer haben als vor vierzig Jahren. Der Smuv als Vorgängergewerkschaft der Unia war mit seinen Büros vor Ort. Tauchte irgendein Problem im Betrieb auf, kam der lokale Sekretär, den alle kannten, und regelte das. In Reinach im Wynental gab es früher das Volkshaus. Dort trafen sich die Arbeiter der Tabak- oder Metallindustrie. Diese oft selbstverständliche Zugehörigkeit zur Gewerkschaft, vielleicht verbunden mit einem gewissen Gruppendruck, ist verloren gegangen. Heute ist mit Ausnahme der Bauwirtschaft oft nur in der Gewerkschaft aktiv, wer besonders politisch denkt und tendenziell links steht. Und der typische Aargauer Facharbeiter wählt halt leider oft SVP oder sonst bürgerlich.
Wie gelang es dem Smuv, diese Leute anzubinden?
Der Smuv galt zwar meist als handzahm. Das schadete ihm allerdings bei der Mitgliederwerbung lange Zeit nicht. Es gab den Smuv-Sekretär Meier oder Müller vor Ort, der eine gewisse Gemütlichkeit ausstrahlte. Stumpen, Hosenträger: «Eine vo eus.» Aber eine kämpferische Stimmung gab es selten. Die Leute waren zwar beim Smuv, aber im Konfliktfall setzte man vorab auf internen Konsens. Bloss kein Streik. Arbeitskämpfe hat es in den letzten vierzig Jahren kaum gegeben, auch wenn es zu einem grossen Arbeitsplatzabbau oder zu Betriebsschliessungen kam.
Die Leute in den Betrieben hätten oft wahnsinnige Angst, sagt Silke Treusch, die viele Jahre lang für die Unia Gewerkschaftssekretärin im Aargau war: «Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, wenn sie aufbegehren, Angst vor der Repression. Das wird von Generation zu Generation weitergetragen.»
Diese Angst gehe zurück auf die alte Smuv-Mentalität. Der Schweizerische Metall- und Uhrenarbeiterverband entstand im Jahr 1888, später hiess er Gewerkschaft Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen, 2004 ging er in der Unia auf. Schon vor dem Zweiten Weltkrieg einigte er sich auf einen Arbeitsfrieden mit den Arbeitgebern, der bis heute verankert ist. Denn die Schweizer ArbeiterInnenschaft gehörte zu diesem Zeitpunkt zu den streikfreudigen. «Kein Zoff» lautete die Devise, sagt Treusch. Sie hat sich tief durch die historischen Akten gewühlt. Nicht für eine Forschungsarbeit, sondern um ihre Arbeit besser zu verstehen – und die Widerstände, auf die sie traf.
Mit dem Segen des Smuv zerschlugen die Unternehmen die autonomen Betriebsgruppen und ersetzten sie mit Personalkommissionen. Die Geschäftsleitung schickte dann auch ihre Vertreter in die Peko, «und dann hatte das Kapital Ruhe», sagt Treusch.
Treusch sagt aber auch, sie habe immer einen Zugang gefunden zu den IndustriearbeiterInnen. Man müsse ihn halt auch suchen und hartnäckig bleiben. Die Bedeutung der Industrie werde innerhalb der Unia unterschätzt. «Für eine Gewerkschaft ist die Industrie entscheidend, wenn du was erreichen willst. Stehen die Bänder still, verlieren die Besitzer viel Geld, da hören sie plötzlich zu.»
In Baden hatte die Unia direkt neben der ABB-Zentrale ein Büro. Es gab regelmässige Gespräche mit der Konzernspitze, mit den Mitarbeitenden. «Das Büro wurde dann aufgelöst», sagt sie. Der Fokus habe sich zunehmend in die politische Arbeit verlagert. Treusch ist ernüchtert: «Es gibt die Tendenz in der Unia, irgendwelche Referenden in den Fokus zu stellen, aber damit erreichst du die Leute in den Betrieben nicht. Sie glaubt, den Industriearbeiter gebe es nicht mehr. Das ist falsch, und die Folgen davon sind für die Beschäftigten dramatisch.»
WOZ: Herr Hofmann, wie wird die Geschichte bei General Electric weitergehen?
Urs Hofmann: Ich wage keine Prognose mehr. Man muss fast an Wunder glauben, wenn man meint, dass aus diesen Trümmern doch noch eine positive Dynamik entsteht. Aber man soll die Hoffnung nie aufgeben.
* Name geändert.