Religion und Staat: «Die Gefahr der Gewalt besteht»

Nr. 18 –

Wie stark darf sich die Politik in religiöse Fragen einmischen? Ein Gespräch mit Saïda Keller-Messahli, der Präsidentin des Forums für einen fortschrittlichen Islam.


Wo über den Islam gestritten wird, ist Saïda Keller-Messahli nicht weit. Seit die gebürtige Tunesierin 2004 das Forum für einen fortschrittlichen Islam ins Leben rief, steht sie an vorderster Front für jenen Islam ein, an den sie glaubt: einen fortschrittlichen Islam, der die Menschenrechte respektiert und sich nahtlos in die hiesige Gesellschaft fügt.

Kurz vor der Minarettabstimmung war sie noch Tag und Nacht damit beschäftigt, auf Podien, am Radio und im Fernsehen ihren Glauben vor ScharfmacherInnen aus der SVP zu verteidigen; doch seit Kurzem haben Keller-Messahli und die SVP einen gemeinsamen Feind: den Islamischen Zentralrat Schweiz rund um den muslimischen Konvertiten Nicolas Blancho, der mit seinen Aussagen über Steinigung und Frauenzüchtigung seit Wochen die Gemüter in der Schweiz erhitzt. Keller-Messahli war die Erste, die ein Verbot des Zentralrats forderte.


WOZ: Frau Saïda Keller-Messahli, warum wollen Sie den Islamischen Zentralrat verbieten?

Saïda Keller-Messahli: Ich habe diese Forderung in meinem eigenen Namen gestellt, nicht im Namen unseres Forums. Bei uns gibt es auch Juristen, die sagen: So etwas darf man nicht fordern. Weil ein Verbot gegen das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit verstossen würde. Doch man muss nicht immer rechtlich argumentieren. Ich bin aus Prinzip dagegen, dass eine solch fanatische Vereinigung ungehindert Muslime anwirbt. Das Gedankengut des Zentralrats ist der Wahhabismus. Und wir sind weltweit viele, die gegen die Ausbreitung dieser religiösen Strömung kämpfen.

Und was in diesem Gedankengut rechtfertigt in Ihren Augen ein Verbot?

Wahhabiten reduzieren den Koran auf den Buchstaben. Sie wollen einen Text aus dem siebten Jahrhundert unverändert auf unser heutiges Leben anwenden. Doch heute besitzt das Individuum einen ganz anderen Stellenwert als im siebten Jahrhundert. Das zu negieren, ist ein massiver Verstoss gegen alle Rechte, die die Menschheit erkämpft hat, um das Individuum vor anderen zu schützen.

Welche Rechte werden von den Vertretern des Zentralrats negiert?

Die Menschenrechte – auch wenn Herr Blancho etwas anderes behauptet.

Konkret?

Der Wahhabismus wird in Saudi-Arabien praktiziert: Dort werden Menschen gesteinigt, Dieben wird die Hand abgehackt. Auch Nicolas Blancho sagt, die Steinigung sei «ein Wert» seines Glaubens.

Gleichzeitig sagt er, die Steinigung habe im hiesigen Rechtsstaat und auch in der übrigen Welt keinen Platz. Seine Argumentation ist der Versuch, die eigene Integrität vor Gott zu bewahren – ohne für die Steinigung einstehen zu müssen.

Was heisst das: Wenn ich könnte, würde ich diese Frau dort steinigen? Solche Aussagen will ich nicht akzeptieren.

Auch die Meinungs- und die Glaubensfreiheit sind Grundrechte ...

Keine Freiheit ist unbeschränkt. Ich weiss, dass ein Verbot rein juristisch nicht geht, dass wir uns in einem Rechtsstaat bewegen. Aber manchmal darf man auch eine Meinung vertreten, die nicht so korrekt ist. Ist es nicht auch legitim, ein Verbot von rechtsextremen Gruppen zu fordern?

Die Vertreter des Zentralrats tun aber nichts, was den Rechtsstaat verletzt.

Bis jetzt nicht. Doch es zeichnet sich immer mehr ab, dass die Gesinnung des Zentralrats eine gewalttätige ist. Sie werden beweisen müssen, dass sie sich an den Rechtsstaat halten.

Nur Schuld lässt sich beweisen, Unschuld aber nicht ...

Das ist genau das Problem. Doch aufgrund des geistigen Hintergrunds dieser Menschen kann ich sagen, dass die Gefahr der Gewalt besteht.

Doch gerade dem traditionellen saudischen Wahhabismus ist die Gewalt gegen den Staat vollkommen fremd. Nicht jeder Fundamentalist ist ein potenzieller Bombenleger.

Das stimmt. Aber man sollte diese Leute genau beobachten. Ich kenne das Klima des Islamismus. Es ist begründet, diesen Leuten zu misstrauen.

Sie haben Angst?

Das Ganze beunruhigt mich sehr. Ich habe auch anonyme Drohungen erhalten: Man solle mich umbringen, stand darin.

Sie können aber nicht beweisen, dass das Leute aus dem Zentralrat waren.

Nein.

Sie behaupten, der Zentralrat verfolge ein politisches Projekt. Wie meinen Sie das?

Aus ihrer buchstabengetreuen Lesart des Korans ziehen Islamisten Vorgaben, wie eine Gemeinschaft zu organisieren ist: welcher Platz der Frau zukommt und welcher dem Mann. Das sind politische Vorstellungen, keine Glaubensfragen.

Doch ihr Ziel ist es nicht, die Schweizer Gesellschaft zu verändern. Sie versuchen nur, sich innerhalb des bestehenden Rechtsstaates möglichst viele Freiheiten zu erkämpfen, um ihr privates Leben zu leben ...

Der Zentralrat verlangt islamische Schulen: Gehört der Schulunterricht wirklich zum privaten Leben? Wenn Sie den Zentralrat mit den christlichen Sekten vergleichen wollen, die es in der Schweiz gibt: Diese sehen mich nicht als Irregeleitete, sie schreiben nicht vor, wie sich Frauen zu kleiden haben, dass Mädchen einen separaten Schwimmunterricht besuchen und sich total verhüllen müssen.

Im Berner Oberland beispielsweise werden Sie auf Familien treffen, die Ihre Aussagen – mit Ausnahme der Verhüllung – widerlegen.

Für mich gibt es einen Unterschied.

Vielleicht weil Sie als Muslimin den Druck der islamischen Fundamentalisten stärker spüren?

Gut möglich.

Wie unterscheidet sich Ihr Islam von jenem, den der Zentralrat propagiert?

Der Zentralrat will zurück ins Mittelalter, wir sind Menschen des 21. Jahrhunderts: Wir berufen uns auf die Menschenrechte – vor allem auf das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen. Für uns liegt die Wahrheit nicht im Buchstaben der heiligen Schrift. Damit fühle ich mich mit all den Denkern verbunden, die seit Jahrhunderten versuchen, eine menschenfreundliche Interpretation der heiligen Schrift voranzubringen – um die Schrift mit unserer Zeit zu versöhnen.

Wie gehen Sie da vor?

Der Prophet Mohammed erhielt seine Eingebung über eine Zeitspanne von über zwanzig Jahren. Und er hat nichts aufgeschrieben – er war Analphabet. Es waren seine Nachfolger, die den Koran geschrieben haben. Der Koran ist also von Menschenhand erschaffen, was uns die Möglichkeit der Interpretation gestattet. Wir sehen den Koran im Kontext seiner Entstehungszeit und ziehen nur die wesentlichen Aussagen daraus. Die meisten Muslime glauben aber, der Koran sei von Gott geschaffen. Damit zwingen sie den Text in ein Korsett.

Wie argumentieren Sie gegen die Steinigung?

Im Koran steht nichts von einer Steinigung geschrieben, sie steht in der Sunna, den Überlieferungen über das Leben des Propheten. Und das einzige Verbindliche für einen Muslim ist der Koran.

Das ist jetzt Ihr Verständnis vom Islam, andere haben ihr eigenes.

Nein. Wodurch wurde der Islam begründet? Durch den Koran. Dort steht geschrieben, dass man die Frau oder den Mann, der Ehebruch begangen hat – und um das zu beweisen, braucht es vier Zeugen –, in ein Haus einsperren soll, bis die Person entweder stirbt oder zur Einsicht kommt. Die Steinigung kam erst später hinzu.

Sie haben Ihre Wahrheit, manche Muslime haben eine andere.

Nein, da kann man den Text zitieren.

Jetzt argumentieren Sie selbst mit dem genauen Wortlaut des Korans. Jeder kann doch seine Religion so interpretieren, wie er will.

Sicher, jeder darf sie interpretieren, wie er will.

Sie sagen, Ihr Glaube sei kulturell verankert, jener dieser Konvertiten nicht. Wo liegt das Problem?

Ich kenne auch Konvertiten, die ohne Zwang und Not zum Islam gefunden haben und damit harmonisch leben. Sie haben gewissermassen organisch konvertiert, ohne alles hinter sich zu lassen. Sie versuchen, ihre Religion in ihr bestehendes Leben zu integrieren. Doch ich bin skeptisch, wenn jemand in seiner Pubertät plötzlich das Gefühl hat, er habe die absolute Wahrheit gefunden, und einen radikalen Bruch macht mit seinem früheren Leben. Wenn er seinen Namen und sein Aussehen ändert und in eine völlig neue Identität schlüpft. Das ist unheimlich, eine solche Identität kann kein Zuhause sein. Ich kenne Herrn Illi, den Sprecher des Zentralrats, und seine Frau: Sie haben auch mit ihren Eltern radikal gebrochen.

Ihre Religion haben Sie behalten. Doch auch Sie mussten sich ein Stück weit von der tunesischen Kultur lösen. Ein schwieriger Prozess?

Ja, ein langer, schmerzhafter Prozess, vergleichbar mit einer Trauerarbeit. Ich habe mich von gewissen Dingen verabschieden müssen, habe aber gleichzeitig gewisse Dinge dazugewonnen, die ich in mein Leben integriert habe. Diese verschiedenen Elemente machen heute meine Persönlichkeit aus.

Im Dokumentarfilm «Babylon» aus dem Jahre 1994, in dem Sie porträtiert werden, wird Ihre Religionszugehörigkeit mit keinem Wort erwähnt – das wäre heute unvorstellbar.

Damals war der Islam kein Thema. Das hat mit der politischen Stimmung zu tun, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem Land herrscht: Als 2003 der Irak von den Amerikanern bombardiert wurde, sagte mir ein irakischer Freund, der in der Schweiz lebt: «Weisst du, seit im Irak Krieg herrscht, weiss ich, dass ich sunnitischer Muslim bin.»

Wissen Sie erst seit ein paar Jahren, dass Sie Muslimin sind?

Nein. Aber manchmal kommt eine politische Stimmung auf, die einen auf sich selbst zurückwirft und einen realisieren lässt, wo man steht. Der Einzelne wird gezwungen, eine Position einzunehmen.

Man fühlt sich dann plötzlich als Muslim?

Ja, gestern traf ich eine Frau türkischer Abstammung, die mir gesagt hat: «Vor zehn Jahren habe ich mich als Muslimin geoutet, vorher war das nie ein Thema.»

Hat diese gesellschaftliche Stimmung auch in Ihnen etwas bewirkt?

Nein, ich war immer mit dem Islam verbunden. Meine Eltern waren beide gläubig, auch wenn sie nie gebetet haben; mein Vater trank Wein, und meine Mutter hat erst jetzt mit achtzig Jahren zu beten begonnen – man könne ja nie wissen, hat sie gesagt. Wir waren acht Kinder, und keines wurde gezwungen, während des Ramadans zu fasten. Ich habe gelernt, was es heisst, religiös zu sein und trotzdem dem Leben zugewandt zu bleiben.

Auch Sie tragen zu dieser politischen Stimmung bei. Indem Sie sich als muslimische Vertreterin etwa zur Integration äussern, sagen Sie den Schweizern: Das Integrationsproblem ist ein religiöses Problem.

Vielleicht. Tatsache ist aber, dass ich Muslimin bin und die Schwierigkeiten der Integration kenne. Ich kenne sowohl die Befindlichkeit der eingewanderten Muslime als auch die Erwartungen, die die Gesellschaft an sie stellt. Ich kann zwischen beiden Seiten vermitteln.

Statt über theologische Fragen zu streiten, sollte die Schweiz besser über Sprachförderung oder Lehrstellen diskutieren.

Sie haben eine zu mechanische Vorstellung von Integration: Demnach ist jemand integriert, wenn er einen Arbeitsplatz hat, eine Wohnung und jeden Donnerstag seinen Abfallsack vor sein Haus stellt. Mir geht es um eine zweite Dimension der Integration: Ich weiss, was es heisst, als Muslimin in einer säkularen Gesellschaft zu leben. Wenn eine Person äusserlich ihr Plätzchen in der Gesellschaft gefunden hat, heisst das noch lange nicht, dass sie integriert ist. Es gibt genug Beispiele, in denen solche Personen plötzlich zur Gewalt griffen.

Sie sprechen von scheinbar gut integrierten Männern, die sich dann plötzlich in der U-Bahn in die Luft sprengen?

Genau.

Die Aufgabe der Politik ist es aber, diese mechanische Integration zu fördern. Der Streit über religiöse Wertvorstellungen hat in der Politik nichts verloren.

Trotzdem finde ich es wichtig, dass man auch von Integrationsproblemen spricht, die sich im Kopf abspielen. Und die haben bei gläubigen Muslimen nun mal mit dem Glauben zu tun. Einige Muslime leiden daran, tagtäglich mit einer extrem liberalen Gesellschaft konfrontiert zu sein. Diese Freiheit bringt sie häufig mit ihrem Glauben in Konflikt. In dieser Spannung leben sie. Und indem wir ihnen sagen, dass sie ihre Religion kritisch hinterfragen dürfen, befreien wir diese Menschen ein Stück weit aus dieser Spannung. Das ist der beste Beitrag zur Integration, den man nur leisten kann.

Aber Sie tragen mit Ihren öffentlichen Äusserungen die Religion in die Politik.

Das Problem ist, dass die Religion Auswirkungen auf das gesellschaftliche Zusammenleben hat. Wenn Eltern aus religiösen Gründen ihrer Tochter verbieten, am Schwimmunterricht teilzunehmen, müssen wir dagegen Stellung beziehen.

Der Staat hat nur den rechtlichen Freiraum festzulegen, in dem der Einzelne seine Religion ausleben darf. Theologische Argumente brauchen ihn nicht zu interessieren.

Theoretisch ist das richtig, aber ich rede nicht vom Staat, sondern von der Zivilgesellschaft. Sie kommt nicht darum herum, sich für die fast eine halbe Million Muslime in der Schweiz zu interessieren.

Nun üben sich im Schweizer Fernsehen SVP-Politiker wie Oskar Freysinger in islamischer Textexegese. Das ist doch absurd.

Der Islam ist nun mal zu einem politischen Thema geworden. Darum müssen wir uns damit befassen.

Sie nehmen für sich in Anspruch, die grosse, sogenannt schweigende Mehrheit der Muslime zu repräsentieren. Vielleicht wollen die aber gar nicht vertreten werden.

Ich leide nicht an Grössenwahn: Ich erhalte viel Resonanz, ich kenne viele Muslime, und ich weiss, wie sie leben: Religion spielt für sie überhaupt keine Rolle in ihrem Leben. Und doch ärgert es sie, was alles im Namen ihrer Religion geschieht.

Gerade weil Religion für sie keine Rolle spielt, fühlen sie sich vielleicht besser durch eine politische Partei vertreten – als Schweizer Bürger.

Auf der Internetseite unseres Forums steht: Wir sind primär Schweizer Bürgerinnen und Bürger. Wenn uns die Leute als Muslime sehen, ist das ihre Freiheit. Doch wir definieren uns primär als Bürger.


Saïda Keller-Messahli

Geboren wurde Saïda Keller-Messahli (52) in Tunis. Mit acht Jahren kam sie zu Pflegeeltern in die Schweiz. Als sich diese scheiden liessen, wurde die mittlerweile Dreizehnjährige zurück in ihre Heimat geschickt. Erst als Keller-Messahli 22 Jahre alt war, floh sie zurück in die Schweiz. In Zürich studierte sie Romanistik, englische Literatur und Filmwissenschaft. Heute präsidiert Keller-Messahli das Forum für einen fortschrittlichen Islam und unterrichtet an einem Gymnasium Französisch. Sie hat zwei erwachsene Söhne, ist verwitwet und lebt in Zürich.