Schule im Sinkflug: «Für Bildung sind alle verantwortlich»

Nr. 20 –

Ein Team der Primarschule Allenmoos will den wachsenden Druck auf die LehrerInnen nicht länger hinnehmen


Seit an den Schulen im Kanton Zürich das neue Volksschulgesetz (vgl. Kasten) umgesetzt wird, steigt die Unzufriedenheit: Lehrpersonen berichten, vor lauter Reformen bleibe ihnen kaum noch Zeit für Unterricht und Kinder; Eltern monieren, dass die Schule den Bedürfnissen ihrer Kinder nicht mehr gerecht werde. Das Team der Primarschule Allenmoos in der Stadt Zürich wollte den ständig wachsenden Druck nicht einfach hinnehmen und initiierte deshalb die Aktion Schule im Sinkflug. Lehrerin Simone Mattli ist an der Aktion beteiligt.

WOZ: Ihr Schulhaus ist eines der ersten, die sich öffentlich gegen die wachsende Belastung wehren. Was ist passiert?

Simone Mattli: Seit Jahren sind wir mit immer mehr Reformen konfrontiert, und das Fass stand kurz vor dem Überlaufen. Die Einführung der integrativen Förderung (IF) im letzten Sommer war dann der letzte Tropfen.

Was bedeutet das konkret?

Bevor mit der integrativen Förderung gestartet wurde, hiess es, dass Kinder, die aus Kleinklassen in die Normalklasse integriert werden, genügend Hilfe von Heilpädagogen bekommen werden. Wir sind ja grundsätzlich für eine solche Integration, aber bitte zu Bedingungen, bei denen alle Kinder gewinnen.

Ist das jetzt nicht der Fall?

In meiner 5. Klasse habe ich 24 Kinder, die meisten brauchen in einem Fach Unterstützung, DaZ-Stunden [Deutsch als Zweitsprache] oder eine andere Förderung. Während drei Lektionen pro Woche unterstützt mich eine Heilpädagogin. Kürzlich wurde mir zum Beispiel ein Kind zugeteilt, in dessen Lernbericht steht: «Das Kind kann keinen Auftrag allein anfangen, es kann nicht selbstständig an einem Auftrag dranbleiben, es versteht die Aufträge nicht – weder auditiv noch visuell.» Gleichzeitig soll es in allen Fächern gefördert werden – ohne Unterstützung einer zusätzlichen Lehrkraft. Einmal pro Woche erhält es eine Psychomotoriklektion, die Kosten muss eine Stiftung übernehmen, weil die Schule dafür kein Geld gesprochen hat.

Viele Lehrpersonen klagen über die hohe Belastung, organisieren sich aber nicht. Was war der Auslöser, dass sich das Team an Ihrer Schule wehrt?

Viele Mitarbeitende laufen schon seit längerem am Anschlag. Die Initialzündung war dann die Mitteilung unserer Schulleiterin, dass sie kündigt. Sie macht einen Superjob, leitet die Schule seit sieben Jahren mit viel Herzblut und gibt alles für die Schule. Aber jetzt hört sie auf, weil sie unter diesen Umständen nicht mehr hinter ihrer Arbeit stehen kann. Wir bedauern das sehr. Und da wollten wir nicht mehr länger nur die Faust im Sack machen! Irgendjemand muss doch was tun, aus dem Hamsterrad aussteigen. Niemand redet darüber, dass durch unsere Arbeitsbelastung vermehrt die Kinder zu kurz kommen und die Schulqualität leidet. Die Eltern müssen sensibilisiert werden, schliesslich wählen sie die Politiker und Politikerinnen. Für Bildung sind alle verantwortlich, und sie sollen die Verantwortung auch übernehmen.

Was haben Sie unternommen?

Erst wollten wir einen Brief schreiben. Dann haben viele gemeint: Ein Brief reicht nicht, Papier ist geduldig – so ist aus dem Brief die Aktion Schule im Sinkflug geworden. Eine Kerngruppe hat die Initiative ergriffen, aber das Team steht geschlossen dahinter.

Wo sehen Sie die Ursachen für die Entwicklung? Ist die Schulreform gescheitert?

Nein, das würde ich nicht sagen, aber die Gesamtkoordination der Reformprojekte, ihre zeitliche Aufgliederung und die notwendigen finanziellen Ressourcen stimmen nicht überein. Bei der Volksabstimmung hat das Volk zur Schulreform Ja gesagt, aber es hat nicht gesagt, dass sie kostenneutral sein soll. Jetzt werden Reformen eingeführt unter dem Motto «Business Class fliegen, aber nur Economy zahlen» – das geht nicht!

Was fordern Sie?

Wir brauchen deutlich mehr Stellenprozente pro Klasse für Unterricht, Lernförderung und Sozialarbeit. Wir brauchen Lehrmittel und Räume, die die individuelle Förderung aller Kinder überhaupt erst möglich machen. Wir verlangen, dass Reformen sorgfältig geplant und eingeführt, begleitet und ausgewertet werden. Der Auftrag für Lehrpersonen muss klar definiert sein: Für alles, was an Mehrarbeit anfällt, müssen wir etwas anderes weglassen können.

Wie sind die Reaktionen auf die Aktion Schule im Sinkflug?

Unglaublich viele Leute solidarisieren sich mit uns, persönlich und auf der Website. Wir erhalten auch sehr viele Mails von Leuten, die uns Mut zusprechen und sagen, wir sollten unbedingt weitermachen. Demnächst werden wir mit den Verantwortlichen in den Behörden Kontakt aufnehmen und um ein persönliches Gespräch bitten. Wir wollen wieder durchstarten.


Die Schulreform

Mit grosser Mehrheit haben die StimmbürgerInnen im Kanton Zürich vor fünf Jahren das neue Volksschulgesetz angenommen. Wichtige Reformen betreffen die Einführung von Schulleitungen, die externe Evaluation von Schulen und die Institutionalisierung der Elternmitwirkung. Dazu kommt auf gesamtschweizerischer Ebene die integrative Förderung (IF). Gemäss IF werden seit dem Schuljahr 2009/10 keine Klein- und Sonderklassen mehr geführt, weil Schülerinnen und Schüler «mit besonderem Bildungsbedarf» (fremdsprachige Kinder, SchülerInnen mit Lernschwächen, Verhaltensstörungen oder psychischen Problemen, aber auch solche mit besonderen Begabungen) in die Regelklasse integriert werden. Vor allem die integrative Förderung wird von Lehrpersonen und Schulleitungen – obwohl sie sie grundsätzlich befürworten – als grosse Belastung empfunden, weil die notwendigen personellen und finanziellen Ressourcen fehlen.