Schulstart: «Stören tun immer die Kinder der anderen»
Die Zürcher Lehrerin und Gewerkschafterin Sophie Blaser erklärt, warum eine Rückkehr zum Förderklassenmodell falsch wäre – und was die tatsächlichen Herausforderungen im Lehralltag sind.
WOZ: Frau Blaser, in vielen Kantonen hat die Schule bereits begonnen, in Zürich geht es am Montag wieder los. Haben Sie sich für das neue Schuljahr etwas vorgenommen?
Sophie Blaser: Ich versuche durchzuhalten, ohne dass es mir ablöscht. Als Gewerkschafterin ist das manchmal schwierig, weil es so lange dauert, Dinge zu verändern. Als Lehrperson finde ich es herausfordernd, schon wieder eine neue Schulleitung zu haben. Ich arbeite an einer grossen Schule mit zwei Schulleiter:innen. In den letzten zweieinhalb Jahren gab es sieben Mal einen Wechsel, weil immer wieder jemand krank war oder kündigte. Sich ständig auf jemand Neues einzulassen, das ist sehr anstrengend.
Sie unterrichten auf Stufe Kindergarten – kommt es bei Ihren Klassen auch zu einem Wechsel?
Ja, es ist immer so, dass eine Hälfte der Klasse bleibt und eine Hälfte neu dazukommt. Das ist ein spannender Übergang, weil die Kinder im zweiten Jahr den Neuen helfen können – etwa wenn ein jüngeres Kind traurig ist und ein älteres es trösten kann. Es sind interessante gesellschaftliche Funktionen, die hier erlernt werden. Das Schöne an dieser Stufe ist auch, dass die Kinder hier zum ersten Mal in ein nichtfamiliäres Umfeld kommen, für das ihre Eltern nicht bezahlen.
In diesem Frühling und Sommer hatte das Thema Bildung Hochkonjunktur, besonders in Zürich, wo Ende Mai eine grosse Demonstration stattfand, die Sie mitorganisiert haben. Sie forderten ganz unterschiedliche Massnahmen, die für bessere Lehr- und Arbeitsbedingungen sorgen sollen. Gab es Reaktionen aus der Politik?
Mir sind keine bekannt. Bei der Demonstration ging es aber abgesehen von den Forderungen vor allem um einen kollektiven Moment. Es war ein Zusammenraufen, bei dem man gleichzeitig seinen Ärger zum Ausdruck brachte. Sonst sind oft alle einzeln wütend, geht es allen einzeln schlecht.
Was ist denn aus Ihrer Sicht aktuell das drängendste Problem im Bereich Bildung?
Dass das System für die Schüler:innen unfair ist. Denn die Mär von der Meritokratie, dieses «Du kannst alles schaffen, wenn du nur willst», die existiert nach wie vor. Gleichzeitig wissen wir, dass nicht alle Kinder ausreichend gefördert werden. Den einen wird Begabung zugesprochen, den anderen Faulheit, je nachdem, was die Eltern für einen Abschluss haben. Akademiker:innen erwarten, dass ihr Kind bitte schön auch einen akademischen Weg einschlägt – und dass wir Lehrpersonen das möglich machen.
Die Schule sorgt also nicht für mehr Chancengleichheit?
Nein. Und es ist eine ziemlich harte Einsicht, dass wir ein so teures System haben und so viel Aufwand betreiben, nur um schliesslich die bestehenden gesellschaftlichen Normen zu reproduzieren. Die Kinder derjenigen, die schlechte, unterbezahlte Jobs haben, sollen dereinst die Nachfolge ihrer Eltern antreten, denn die Wirtschaft ist darauf angewiesen. Zudem wird die Hierarchisierung der Gesellschaft durch unsere Bildung auch legitimiert: Du hast einen schlechten Schulabschluss? Klar verdienst du wenig.
Gleichzeitig gibt es aber durchaus ein Bewusstsein für dieses Problem und Bemühungen, mehr Bildungsgerechtigkeit herzustellen, Stichwort «integrative Schule». Laufen diese alle ins Leere?
Ich würde nicht sagen, dass die Bemühungen alle erfolglos bleiben, aber der Pisa-Bericht 2022 für die Schweiz hat gezeigt, dass Kinder aus sozioökonomisch schwierigen Verhältnissen im Vergleich zu früheren Erhebungen schlechter abschneiden. Die aus dem obersten Viertel sind dagegen in der Leistung relativ stabil geblieben. Ich glaube, wir schaffen es zu wenig, zu benennen, woran das liegt.
Können Sie es denn benennen?
Es ist Ausdruck einer strukturellen Benachteiligung.
Betrifft dies auch die Stufe Kindergarten, auf der Sie unterrichten?
Ich denke schon. Studien zeigen, dass man den Bildungsweg von Kindern im Kindergartenalter recht genau voraussagen kann. Das finde ich erschreckend. Man kann sich da als Lehrperson nicht herausnehmen. Auch wenn einige von uns sich sehr viel Mühe geben, müssten wir wissen, wie wir dieses Problem grundsätzlich angehen können. Denn sonst investiert man als Lehrperson viel Zeit, um einen Unterschied zu machen, Zeit, die wir nicht haben, Überstunden, die nicht bezahlt werden. Das Schulsystem ist also doppelt unfair: Es stimmt weder für die Kinder noch für die Lehrpersonen.
Im Juli hat der Zürcher Regierungsrat Anpassungen vorgeschlagen, die bessere Bedingungen für Lehrpersonen und Schulleitungen schaffen sollen. Versprechen diese Ihrer Meinung nach substanzielle Entlastungen?
Der Lektionenfaktor soll nun leider doch nicht erhöht werden, obwohl dies während der Vernehmlassung zur Debatte stand. Damit hätten alle Lehrpersonen zwei Stunden mehr Vor- und Nachbereitungszeit pro Lektion und Jahr bekommen, das hätte uns entlastet. Das ist nicht mehr vorgesehen, mit der Begründung, dass es die Gemeinden zu viel kosten würde. Stattdessen will die Politik den Schulleitungen dreissig Prozent mehr Ressourcen geben und sie einer neuen Lohnklasse zuteilen – das bedeutet mehr Geld fürs Management.
Ist der Regierungsrat denn in irgendeinem Bereich auf die Forderungen der Gewerkschaften und Verbände eingegangen?
Die Bildungsdirektion würde sagen, die Erhöhung der Arbeitszeitpauschale für Klassenlehrpersonen von 100 auf 120 Stunden sei ein Fortschritt. Diese Anpassung deckt den tatsächlichen Aufwand von über 200 Stunden aber bei weitem nicht ab. Die Erhöhung soll ausserdem nur schrittweise eingeführt werden, bloss nicht zu viel auf einmal. Ich fühle mich ehrlich gesagt verhöhnt. Und ich glaube, die Politik versteht einfach nicht, wer die Schulen trägt.
Ebenfalls in diesem Sommer entdeckte sich die FDP als Bildungspartei und erklärte das integrative Modell für gescheitert und mitschuldig an der Überlastung des Lehrpersonals. Was war Ihr erster Gedanke, als Sie davon erfuhren?
Ich gabe gedacht: Verdammt, wahrscheinlich glauben manche Leute das sogar noch. Wenn man die Forderungen der FDP liest, dann sind die zum Teil recht absurd. Wer das Papier geschrieben hat, hat offensichtlich keine Ahnung von Bildung. Gleichzeitig scheint das Vorgehen klar kalkuliert. Die FDP wittert ihre Chance, die Schule als «woke» abzutun.
Das formulierte FDP-Parteichef Thierry Burkart auch explizit so in einem Interview, das im Juni in den Tamedia-Medien erschien.
Der Diskurs von links hat in den letzten Jahren erreicht, dass mehr über Diskriminierung gesprochen wird. Das hat einen Effekt, und den bemerkt die FDP. Ich glaube, sie hat Angst, Privilegien zu verlieren. Angst davor, ihre Deutungshoheit darüber zu verlieren, wer ein Teil dieser Gesellschaft ist und wer nicht. Und wenn ihre Vertreter:innen von auffälligen und störenden Kindern sprechen, meinen sie damit immer die Kinder der anderen. Ihre Kinder haben keine Beeinträchtigung, ihre Kinder sind hochbegabt.
Im Kanton Zürich ist ein Komitee, bestehend unter anderem aus Exponent:innen der FDP, aber auch von SVP und GLP, schon einen Schritt weiter: Mit einer im Juli eingereichten Initiative fordert es eine Rückkehr zum Förderklassenmodell.
Ich glaube, dem Komitee geht es vor allem um Aufmerksamkeit. Die Gemeinden hätten heute schon die Möglichkeit, Kleinklassen zu bilden, es nutzen sie einfach die wenigsten. Und die Rechnung, die die Initiant:innen anstellen, wenn es darum geht, Förderklassen mit den bestehenden Ressourcen zu bilden, würde zumindest in kleinen Schulhäusern gar nicht aufgehen. In grossen könnte man die Ressourcen aus den bestehenden Klassen abziehen. Dort würde sich dann aber das Problem stellen, dass man als Lehrperson in der Regelklasse gar keine Unterstützung mehr hätte. Es gäbe niemanden mehr mit einer Zusatzqualifikation. Gleichzeitig stigmatisiert man die Kinder, die in eine Förderklasse kommen. Man sagt: Dieses Kind hat geschlagen, dieses Kind stört. Und wenn es nach einem halben Jahr aus der Förderklasse zurückkommt, sollen sich die anderen darauf freuen?
Es gibt aber auch Lehrpersonen, die Kritik am integrativen Modell üben. Wie erklären Sie sich das?
Gewisse Lehrpersonen denken vielleicht, wenn ich diesen einen Fall nicht hätte, wenn ich die Koordination dieses einen integrativen Settings nicht machen müsste, ginge es mir besser. Ich sehe das als eine Art Hilferuf. Und es ist natürlich so, dass wir diejenigen sind, die die Belastung spüren. Auf dem Amt hast du keine Kinder, da hast du Zahlen.
Hatten Sie selber je Probleme mit dem Modell?
Ich hatte schon einige Kinder in einem integrativen Setting bei mir in der Klasse. Als Lehrperson ist es ein Vorteil, wenn ein Kind bereits abgeklärt und das Geld gesprochen ist. Dann ist es relativ angenehm. Ansonsten geht es zum Teil mehr als zwei Jahre, bis man Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommt; die Hürden sind wirklich hoch. Viele Gemeinden verfügen nur über beschränkte finanzielle Mittel für Sonderschulungen, was sich indirekt wie eine Quote auswirkt. Es kann noch so schwierig sein, es gibt dann einfach nichts. Eine andere Schwierigkeit ist, dass wir zu wenig ausgebildetes Personal haben. Wenn etwa die Heilpädagogin fehlt, die ein Kind bräuchte, hat man niemanden, der ein Bewusstsein für Störungen hat und Förderpläne erarbeiten kann.
Es fehlt also nicht nur an Lehrpersonen?
Genau. Wir haben zu wenig Logopäd:innen, Psychotherapeut:innen und Heilpädagog:innen. Ich hatte mal ein Kind mit einer damals undiagnostizierten Fütterungsstörung, das über ein Jahr lang auf eine Logopädin warten musste. Es ist unfair, zu sagen, ein Kind entwickelt sich nicht so, wie wir es erwarten, wenn wir ihm gleichzeitig die Ressourcen dafür nicht zur Verfügung stellen. Ressourcen, von denen wir als Gesellschaft selbst definieren, dass es sie braucht.
Haben Sie im Kindergarten eigentlich grundsätzlich die gleichen Probleme wie auf anderen Stufen?
Dreissig Jahre lang war der Lohn ein grosses Thema, aber diesen Kampf haben wir gewonnen: Seit Anfang 2023 sind Lehrpersonen im Kindergarten in der gleichen Lohnklasse eingestuft wie die der Primarstufe. Andererseits hat man sich vor ein paar Jahren dazu entschieden, den Namen «Kindergarten» beizubehalten. Ich finde es interessant, dass die Gesellschaft der Schule einerseits sehr viel Bedeutung beimisst und sie aber bei kleinen Kindern etwas abwertet. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass 95 Prozent der Lehrpersonen auf Kindergartenstufe Frauen sind.
Sophie Blaser (32) unterrichtet seit acht Jahren auf Stufe Kindergarten. Praktisch ebenso lang ist sie Mitglied der Gewerkschaft des Personals öffentlicher Dienste VPOD, inzwischen als Präsidentin der kantonalen Sektion Lehrberufe sowie der nationalen Verbandskommission für Bildung, Erziehung und Wissenschaft. Seit 2023 sitzt Blaser ausserdem für die Alternative Liste im Zürcher Gemeinderat.