Schule in der Krise: «Ich bin dumm, ich bin nur Sek B»
Wie es ist, Kinder und Jugendliche, die aus einer Krisensituation vorübergehend ins Heim kommen, zu unterrichten, und was ihre schulischen Biografien über die Volksschule aussagen. Ein Erfahrungsbericht.
«Vier mal neun, vier mal neun, vier mal neun. Warte, ich weiss es. 32?» – «Nicht ganz. Wie hast du gerechnet?» – «Keine Ahnung. Ich weiss einfach, es ist etwas mit 30.»
Sandra* ist dreizehn Jahre alt. Sie geht in die erste Sek. Seit einigen Wochen besucht sie die interne Schule des Florhofs, wo sie auch wohnt. Der Florhof ist eine stationäre Einrichtung der Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime (ZKJ). Er nimmt Schulpflichtige zwischen sechs und sechzehn Jahren auf, die sich in einer Krisensituation befinden: Zu Hause, in der Pflegefamilie oder in der bisherigen Institution ist das Wohl des Kindes so akut gefährdet, dass eine Intervention für einen begrenzten Zeitraum nötig ist. Wer, wie Sandra, vom Florhof aus aus irgendeinem Grund nicht mehr in die angestammte Klasse der öffentlichen Schule kann, besucht die Florhof-Schule. Zwei Klassen mit je sechs Schulplätzen stehen bereit.
Von der Schule abgehängt
In einem kleinen Team unterrichte ich seit zehn Jahren an der Florhof-Schule. Jugendliche wie Sandra, die nach sechs Jahren Primarschule in einer Regelklasse das kleine Einmaleins, also Multiplikationen mit natürlichen Zahlen von eins bis zehn, nicht beherrschen, sind bei uns keine Ausnahme. Ihre schulische Biografie ist oftmals ein Abbild der Verwahrlosung, die sie zu Hause erlebt haben: von allem ein bisschen, aber nichts richtig und von nichts genug.
Im Zeugnis der Volksschule wird Sandra in Mathematik als ungenügend bewertet. Eine Zeugnisnote macht keine Aussage darüber, welche Anstrengungen die Schule unternommen hat, um der Schülerin zu gefestigten mathematischen Grundkenntnissen zu verhelfen. Demgegenüber hat das Instrument, mit dem die Leistung der Schule bewertet wird, kooperativen Charakter. Im Kanton Zürich werden Schulen alle fünf Jahre in einem aufwendigen Verfahren evaluiert. Am Ende steht es den Schulleitungen frei, ob und wie sie die Empfehlungen der Fachleute umsetzen wollen.
Diese Freiheit, eine Beurteilung als Chance zu sehen, haben Kinder wie Sandra nicht. Immer wieder kommt es zu Semesterende zu Neueintritten in den Florhof, weil sich Kinder mit ihrem Zeugnis nicht mehr nach Hause trauen – oder von dort geflüchtet sind, nachdem die Eltern sie körperlich bestraft haben, weil die Noten nicht genügten.
Tritt ein Kind neu in den Florhof ein und besucht die interne Schule, setzen wir uns an seinem ersten Schultag zusammen und schauen an, was es an Schulischem mitbringt: Lehrmittel, Hefte, Zeugnis, aber auch Erfahrungen, Vorlieben, Abneigungen. Bei Kindern oder Jugendlichen, die über längere Zeit den Schulbesuch verweigert haben, versuchen wir, an die letzte gute Erinnerung an die Schule anzuknüpfen. «Was hast du gern gemacht? Was kannst du gut? Womit möchtest du bei uns anfangen?»
Wir erleben kaum je Kinder oder Jugendliche, die von der Schule gar nichts mehr wissen wollen. Nahezu alle lassen sich innert kurzer Zeit auf unser stark individualisiertes Angebot ein. Womit wir uns aber auseinandersetzen müssen, ist das fehlende schulische Selbstwertgefühl bei einem Grossteil von ihnen. Während für einige die öffentliche Schule Ressource oder gar Rettung war, haben viele unter ihren Schulerfahrungen vor allem gelitten. «Ich bin dumm», behauptete neulich ein Mädchen. Als wir fragten, wie sie denn auf so etwas komme, antwortete sie überzeugt: «Ich bin ja nur in der Sek B.»
Für viele Florhof-Kinder ist die Schule ein Ort von Überforderung und Misserfolg. Wenn nicht bereits bei Schuleintritt, so verlieren sie irgendwann im Verlauf ihrer Schulzeit den Anschluss. Von da an stören sie im besten Fall nicht gross. Es macht den Anschein, als würden ab einem gewissen Zeitpunkt an die Ressourcen fehlen, um dem Kind zu jener schulischen Grundausstattung zu verhelfen, die unsere Volksschule gewährleisten soll. Wenn wir wie üblich telefonischen Kontakt suchen zur letzten Lehrerin, zum letzten Lehrer eines unserer Kinder, hören wir gelegentlich diesen Satz: «Wir haben halt geschaut, dass es irgendwie geht mit ihm.»
Bloss noch ein blinder Fleck
Die Kompetenzorientierung, die mit Einführung des Lehrplans 21 in der Volksschule Einzug halten soll, ist vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen im Grunde zu begrüssen: Es wird definiert, wer auf welcher Stufe und in welchem Fach was wissen muss, und es wird geprüft, ob dieses Wissen abgerufen und angewendet werden kann. Kurz: Das Lernen wird verbindlicher.
Doch was heisst das für Kinder, die durch ihre Familiensituation stark belastet sind, deshalb unter sehr erschwerten Bedingungen lernen und die Grundanforderungen noch nicht erfüllen? Auf der Website des Lehrplans 21 heisst es: «Wie bereits heute bedarf es dann einer Beurteilung des Lernstands der einzelnen Schülerin oder des einzelnen Schülers und der Beobachtung von Fortschritten und Problemen in ihrem individuellen Lernprozess, so dass erfolgversprechende Fördermassnahmen eingeleitet werden können.» Mit anderen Worten: Für die, die es schwer haben, bleibt alles beim Alten.
Normal begabte Kinder wie Sandra, die in sechs Jahren Regelklasse nicht richtig rechnen lernen, sind ein inzwischen wissenschaftlich erhobener blinder Fleck der Volksschule im Kanton Zürich. Eine von der Bildungsdirektion in Auftrag gegebene und Anfang 2015 publizierte Längsschnittstudie, für die Hunderte Zürcher Schulkinder durch die gesamte Schulzeit begleitet wurden, hält fest, dass «Leistungsrückstände von Kindern aus sozial benachteiligten Verhältnissen» im Verlauf der obligatorischen Schulzeit nicht aufgeholt, sondern verstärkt werden: Gilt bereits bei Schuleintritt ein grosser Teil dieser Kinder als leistungsschwach, nimmt ihr Anteil im Verlauf der Schuljahre noch zu. Zugleich werden die ohnehin schon wenigen Leistungsstarken mit benachteiligter Herkunft über die neun Jahre noch weniger. Was das für die einzelnen Kinder bedeutet, erleben wir in unserer täglichen Arbeit.
Die Lehrerin ist die Schlüsselfigur
Malik*, ein vierzehnjähriger Jugendlicher aus dem Nahen Osten, kam aus einer Zürcher Vorortsgemeinde zu uns. Sein Familiensystem war geprägt von Entwurzelung, Traumatisierung, Gewalt. Malik besuchte die Sek C, was im Kanton Zürich dem tiefsten Niveau der Oberstufe entspricht (die Stadt Zürich führt nur noch zwei Abteilungen, A und B). Als ich mit ihm am ersten Schultag die Lehrmittel durchsah, bat er mich inständig, statt mit dem Sek-C-Mathebuch mit jenem der Sek B arbeiten zu dürfen. Er sei eigentlich ein Sek-B-Schüler, das C-Lehrmittel sei viel zu einfach für ihn. Wir vereinbarten, dass er eine Seite aus dem C-Buch lösen soll. Würde er die Aufgaben schnell und ohne Fehler erledigen, würden wir wechseln. Nach zehn Minuten gab er ab, mit einem Seufzer. Alles richtig.
Malik erzählte mir, wie er seinen siebten Geburtstag verbracht hat – im Auto, auf der Flucht über die Grenze ins sichere Nachbarland. Auf Google Earth zeigte er mir die Strasse, in der er aufgewachsen war. Maliks Lehrer erklärte am Telefon, die Herabstufung von der Sek B in die Sek C sei eine bewusste pädagogische Massnahme gewesen, «ein Schuss vor den Bug». Malik sollte dadurch lernen, endlich seine Hausaufgaben lückenlos zu erledigen und den Dummheiten seiner Clique zu entsagen.
Am letzten Schultag seines dreimonatigen Aufenthalts im Florhof beendete Malik in Überstunden seine fünfzehnseitige Forschungsarbeit zu Galileo Galilei. Er hatte das Thema selbst gewählt. Er hatte Bücher gelesen, sich Filme angeschaut, im Internet recherchiert. Er war motiviert, obwohl er wusste, dass wir die Arbeit nicht mit einer Note bewerten würden.
In der Statistik wird er als einer jener Schüler aus sozial benachteiligten Familien geführt werden, die im Verlauf ihrer Schulkarriere leistungsmässig einbrechen.
Die zitierte Längsschnittstudie weist die soziale Herkunft – das Merkmal berücksichtigt den höchsten Bildungsabschluss der Eltern, die Anzahl Bücher im Haushalt sowie die Anzahl Zimmer pro Person – als entscheidenden Faktor für Schulerfolg aus. Kinder mit dem Stigma der bildungsfernen, unterprivilegierten Herkunft können deshalb in der Schule nur auf eines hoffen: einen guten Lehrer, eine engagierte Lehrerin.
Wie gross deren Einfluss ist, belegt die viel zitierte Studie des Erziehungswissenschaftlers John Hattie. Der Neuseeländer hat Hunderte von Bildungsstudien aus aller Welt zu einer gigantischen Analyse verarbeitet, um zum banal klingenden Schluss zu kommen, dass vonseiten der Schule zuallererst die LehrerInnen für den Lernerfolg der Kinder und Jugendlichen verantwortlich sind. Die Sprengkraft der Hattie-Studie besteht darin, dass sie Klassengrösse, Unterrichtsform oder freie Schulwahl zu Nebenaspekten degradiert.
Was es bewirkt, wenn ein traumatisiertes Kind aus einem von Armut, Sucht, Gewalt oder psychischer Erkrankung geprägten Umfeld auf eine verständnisvolle, fürsorgliche und gleichzeitig fordernde Lehrerin trifft, erleben auch wir. Nicht nur ist die Schule für dieses Kind ein sicherer, positiv besetzter Ort, es hat auch Vertrauen in seine Fähigkeiten gefasst, erkennt seine Möglichkeiten und erfährt sich als wertvoll. Und es hat jemanden, für den es sich lohnt, sich gut zu benehmen.
Nina*, deren Leben zu Hause hauptsächlich aus Verboten, Pflichten und Angst bestand, fand in der Mittelstufe eine Lehrerin, die das Potenzial des fremdsprachigen Mädchens erkannte und förderte. Nina mussten wir nie zum Arbeiten überreden. Vielmehr beschwerte sie sich, wenn wir ihr zu wenig auftrugen.
In der Volksschule des Kantons Zürich gibt es heute keine Kleinklassen mehr für Kinder mit erschwerten Lernbedingungen. Die Schule ist integrativ ausgerichtet, HeilpädagogInnen arbeiten mit den Kindern direkt in der Klasse. Trotzdem vermag die Schule, wie die Längsschnittstudie zeigt, die sozialen Unterschiede kaum auszugleichen. Ob der integrative Ansatz dabei eine Rolle spielt? Unsere Arbeit in der Florhof-Schule legt andere Schlüsse nahe.
Was für ein grauenhafter Ausflug
Wenn wir Kinder und Jugendliche fragen, ob sie gerne schreiben, zucken die meisten zusammen. «Schreiben? Meinst du Aufsätze und so? Nein, das kann ich nicht», heisst es dann. Im Gespräch erfahren wir, dass Schreiben von vielen mit Fehlermachen gleichgesetzt wird, mit mühsam beschriebenen A4-Blättern, die als rot markierte Schlachtfelder mit ungenügender Note zurückkommen. Schreiben ist mit Versagensangst verbunden, weil ein Text immer auch ein verkapptes Diktat ist.
Für die starke Gewichtung der Orthografie beim kreativen Schreiben gibt es keinen Grund – ausser jenem, dass damit die Bewertung erleichtert wird: «Inhaltlich zwar ansprechend, aber zu viele Fehler, Note 3–4». Was wird die Schülerin tun, um beim nächsten Mal besser abzuschneiden? Sie wird versuchen, keine Fehler mehr zu machen. Sie wird schwierige Wörter vermeiden, sich auf die Form konzentrieren, beim Inhalt nichts riskieren. Damit sie vielleicht genügend wird. Mit Systemfragen, mit Schulreformen, Kleinklassen, Integration oder Individualisierung hat so ein Vorgang wenig zu tun.
Dafür viel mit der Freiheit von uns Lehrerinnen und Lehrern, so zu unterrichten, wie wir es für richtig halten.
Sandra ist auch eine, die von sich sagte, sie könne nicht schreiben. Und völlig falsch lag sie damit nicht. Für einen Kürzesttext aus fünf Sätzen, dessen Struktur vorgegeben war («Wann habe ich was, wo und mit wem gemacht und wie ist es mir dabei gegangen?»), brauchte sie vierzig Minuten. Sie ächzte und wir mit ihr, und obwohl wir die Übung mehrmals wöchentlich für Berichte über Erlebtes wiederholten, wurde es nur unmerklich besser. Als sie am zweitletzten Schultag vor den Sommerferien etwas über unsere Schulreise schreiben sollte, war sie nicht erfreut. Dann gab sie das Blatt ab. Auf einer ganzen Seite, in flüssigem Stil und freier Form, war beschrieben, was für ein grauenhafter Ausflug es für sie gewesen war.
* Name geändert.