Ölpest: Bohren im kalten Paradies

Nr. 22 –

Nach der Katastrophe im Golf von Mexiko hat die US-Regierung Bewilligungen für neue Meeresbohrungen vorerst sistiert. Doch in der Arktis hat der Ölkonzern Shell bereits Milliarden für zukünftige Tiefseebohrungen investiert. Der Fotograf Subhankar Banerjee beschreibt, was dabei auf dem Spiel steht.

Haben Sie etwas Geduld. Ich komme noch zum Öl. Aber zuerst möchte ich, dass Sie verstehen, wo ich war, wohin Sie vielleicht nie gehen werden und wo sich die Bohrinseln des Ölkonzerns Shell mit Sicherheit bald befinden – wenn sie niemand stoppt.

In den vergangenen zehn Jahren habe ich Alaska als Fotograf viele Male bereist und gut kennengelernt. Angefangen hatte es mit einer Reise quer durch das Arctic National Wildlife Refuge (ANWR), das nördlichste Naturschutzgebiet der USA – 6400 Kilometer in vierzehn Monaten, in jeder Saison, zu Fuss, mit dem Floss, Kajak oder dem Schneemobil. Meistens begleiteten mich dabei der Jäger und Umweltschützer Robert Thompson – ein Inupiat aus Kaktovik, einer kleinen Gemeinschaft von 300 Menschen an der arktischen Küste – oder die Jäger Charlie Swaney und Jimmy John vom indigenen Stamm der Gwich’in, die in Arctic Village leben, einem Dorf mit 150 EinwohnerInnen an der Südseite der Brooks-Range-Berge.

Im Winter 2002 campierten Robert und ich während 29 Tagen im Delta des Canning River an der Beaufortsee, um eine Eisbärenhöhle zu beobachten. Die Bedingungen waren hart: Wir hatten insgesamt nur vier ruhige Tage. Während der restlichen Zeit wehte konstant ein Schneesturm mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 100 Stundenkilometern. Die Temperaturen lagen bei minus 40 Grad Celsius, die gefühlte Temperatur gar bei minus 84 Grad Celsius.

Während der Sommermonate wiederum gab es anderes, das es mir erschwerte, in Alaskas arktischer Tundra Schlaf zu finden: Die Sonne scheint 24 Stunden am Tag und die Kakofonie von über 180 Vogelarten, die an diesem Ort zusammentreffen, um ihre Nester zu bauen und ihre Jungen aufzuziehen, hört niemals auf. Diese Vögel kommen aus der ganzen Welt und verwandeln das arktische Naturschutzgebiet für kurze Zeit in einen Ort, der mit der ganzen Welt verbunden ist. Und hört man dann auch noch das klappernde Geräusch von den Hufen der Zehntausenden Rentiere, die sich ebenfalls in dieser arktischen Küstenebene versammeln, um ihre Jungen zur Welt zu bringen, wird einem bewusst: Dies ist ein Ort von globaler Bedeutung, der nicht geplündert werden darf.

Bohren bei minus 40 Grad?

Ich habe diese Küstenregionen in der vergangenen Dekade gut kennengelernt und erfahren, was die Inupiats schon seit tausend Jahren wissen: Diese arktischen Randmeere sind wichtige ökologische Habitate für eine beachtliche Anzahl maritimer Spezies. Darunter finden sich die vom Aussterben bedrohten Grönlandwale und Eisbären, der Weisswal, verschiedene Robbenarten und ungezählte Fisch- und Vogelgattungen, nicht zu vergessen die riesige Bandbreite jener maritimen Kreaturen unter Wasser, die wir nicht sehen, wie der Krill, kleine, krabbenartige Wirbellose, die vielen Meerestieren als Grundnahrung dienen und so diese Vielfalt erst ermöglichen.

Doch wie Sie wohl bereits vermuten, habe ich diesen Text nicht geschrieben, um Ihnen von den schönen – und extremen – Seiten der alaskischen Arktis zu berichten. Vielmehr geht es um Öl. Denn unter all dem Leben und der Schönheit in der schmelzenden Arktis befindet sich etwas, nach dem unsere industrialisierte Zivilisation giert und worauf Ölkonzerne schon seit langem ein Auge geworfen haben.

Wenn Sie die zunehmende ökologische Zerstörung im Golf von Mexiko beobachten, die sich vor unseren Augen abspielt, seit die von BP gemietete Ölsuchplattform Deepwater Horizon zuerst in Flammen auf- und später unterging, dann sollten Sie auch wissen, dass Shell bereits diesen Sommer in Alaskas arktischer Ozeanregion – besonders in der Beaufortsee und der Tschuktschensee, die nördlich der Nahtstelle des amerikanischen und asiatischen Kontinents liegen – mit Erkundungsbohrungen beginnen wollte.

Bereits seit den siebziger Jahren kam es im US-Kongress immer wieder zu Kontroversen über eine mögliche Ausbeutung der Ressourcen im ANWR – zuletzt 2008, als die Regierung von Präsident George Bush andeutete, das Gebiet für die Gas- und Ölförderung erschliessen zu wollen. Nur dank der massiven Aufmerksamkeit der Medien und den Bemühungen verschiedener Umweltschutzorganisationen, indigener Gemeinschaften und von AktivistInnen im ganzen Land konnte verhindert werden, dass die Bush-Regierung das Schutzgebiet in eine Industriebrache verwandelte.

Doch am 31. März dieses Jahres hatte US-Präsident Barack Obama bekannt gegeben, dass weite Strecken der US-Küstenlinien für die Erschliessung von Gas- und Ölvorkommen freigegeben würden – so auch in der Arktis. Am 13. Mai überreichte das für die Region zuständige Bundesberufungsgericht Shell dann eine Siegesurkunde: Das Gericht hatte sämtliche Klagen einer Gruppe von Umweltschutzorganisationen und Inupiat-Gemeinden abgelehnt, die Shell sowie die US-Behörde für nationale Bodenschätze (Minerals Management Service, MMS) verklagt hatten, um die Ölsuchbohrungen in den arktischen Meeren zu stoppen.

Bevor Shell sein 170-Meter-Bohrschiff Frontier Discovery für drei Probebohrungen in den Norden schicken kann, braucht der Konzern nun nur noch eine Erlaubnis der US-Umweltschutzbehörde sowie die abschliessende Bewilligung des US-Innenministers Ken Salazar. Zwar hat die Regierung vergangene Woche ein Moratorium, das sie am 14. Mai für die Vergabe von neuen Bohrbewilligungen verhängte, um sechs Monate verlängert. Doch im Hinblick auf die von derselben Regierung stets betonte Notwendigkeit von neuen Bohrungen, um die Energieversorgung zu sichern, scheint es unwahrscheinlich, dass die Erfahrungen im Golf von Mexiko ein Ende der Tiefseebohrungen bedeuten.

Nichts funktioniert

Wie es der Zufall wollte, war ich just im August 2006 an der Beaufortsee, als ein erstes kleines Schiff von Shell ankam. Ich fotografierte es, als es den Meeresboden genau vor der Küste von Kaktovik untersuchte. Seine Aufgabe war es, Vorbereitungen für ein grösseres Forschungsschiff zu treffen, das kurz danach eintreffen sollte.

Seitdem hat der Umweltschützer Robert Thompson immer wieder Fragen gestellt. Und er stellte sie an zahlreichen Orten: so an der Generalversammlung von Shell in Den Haag 2008 oder im selben Jahr an der Arctic Frontiers Konferenz im norwegischen Tromsø. Denn in Tromsø hatte Larry Persily – der damalige Vizechef des Washingtoner Büros von Alaskas Gouverneurin Sarah Palin und seit Dezember 2009 Koordinator in Obamas Regierung für die nationalen Gaspipelines – eine Rede über die Bedeutung der Öleinnahmen für Alaskas Wirtschaft gehalten.

Roberts Fragen lauteten: «Kann der Arktische Ozean von einer Ölverschmutzung gereinigt werden? Und wenn nicht, weshalb verpachten Sie dann dieses Land? Zudem möchte ich wissen, ob Studien über die Toxizität von Öl im Arktischen Ozean existieren, und wie lange es in diesem Umfeld dauern würde, bis sich Öl so weit in seine Bestandteile zerlegt hat, dass es für die maritime Umwelt nicht mehr schädlich ist.»

Persilys Antwort: «Wir alle stimmen der Tatsache zu, dass es keine funktionierende Methode gibt, eine Ölverschmutzung in einem Gewässer mit Eisschollen zu beheben. Weshalb also die lokale und nationale Regierung diese Küstengewässer verpachten will, kann ich nicht beantworten.»

Einen Monat nach der Konferenz in Tromsø zahlte Shell an die MMS eine Summe von 2,1 Milliarden Dollar für Öl-Pachtverträge in der Tschuktschensee. Im Oktober und Dezember 2009 erteilte die MMS dann Shell die Erlaubnis für fünf Bohrlöcher zu Erkundungszwecken. In der Bewilligung hiess es, dass die Möglichkeit, dass es zu einem grossen Ölteppich kommt, «zu unwahrscheinlich und spekulativ» sei, um eine Analyse zu rechtfertigen – dies obwohl die MMS einräumte, dass ein solcher Unfall verheerende Konsequenzen hätte, und das Eiswasser des Arktischen Ozeans nur schwer zu reinigen sei.

Lampenöl und Korsett

Es wäre nicht das erste Mal, dass die US-amerikanische Arktis wegen Öl ausgebeutet wird. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wagten sich kommerzielle Walfangschiffe regelmässig in diese Gewässer, um den Grönlandwal zu jagen, aus dessen Fettgewebe Tran für Lampenöl und Kerzenwachs gewonnen wurde. Der Tran galt damals zudem als einer der feinsten Schmierstoffe für Uhren, Chronometer und andere technische Geräte. Doch auch als das Petroleum entdeckt und der Tran nicht mehr für Lampenöl verwendet wurde, ging die Jagd weiter: Aus den Barten der Wale stellte man nun Korsette her.

Als 1848 der erste Walfänger aus Neuengland in Alaska ankam, lebten schätzungsweise 30 000 Grönlandwale im Arktischen Ozean. Nur fünfzig Jahre später waren zwei Drittel davon abgeschlachtet. Erst 1921 wurde die kommerzielle Jagd auf den Grönlandwal eingestellt, da die Industrie keinen Bedarf mehr an ihnen hatte – weltweit gab es damals nur noch rund 3000 Grönlandwale.

Seither hat sich der Bestand etwas erholt. Heute zählt man etwas über 10 000 Grönlandwale und 60 000 Weisswale, die zwischen der Beaufortsee und Tschuktschensee migrieren. Inzwischen gilt der Grönlandwal offiziell als vom Aussterben bedroht. Es wäre Ironie, wenn diese Spezies, die den ersten Ölrausch in der Arktis nur knapp überlebte, nun dem zweiten zum Opfer fallen würde.

Die Inupiat jagen den Grönlandwal bereits seit über 2000 Jahren, sein Fleisch zählt zu ihren wichtigsten Nahrungsmitteln. In den vergangenen Jahrzehnten bewilligte die Internationale Walfangkommission eine jährliche Quote von 67 Walen für neun Inupiat-Dörfer in Alaska. Diese Quote gilt als ökologisch verträglich. Die kulturelle und spirituelle Identität der Inupiat, die für jeden erlegten Wal beten und ihm für sein Opfer danken, ist untrennbar mit den Walen und dem Meer verbunden. Es ist fraglich, wie lange diese Gemeinschaften überleben, wenn der Shell-Konzern erst einmal mit den Bohrungen begonnen hat.

Doch nicht nur die Wale und die indigenen Gemeinschaften sind in Gefahr. Ölbohrungen, wenn auch noch in anderen Gewässern, haben bereits ihren Tribut gefordert. Schliesslich ist das Überleben vieler arktischer Arten wie jene des Eisbären, der Walrosse, Robben und Seevögel gefährdet durch das weitreichende Abschmelzen des Meereises – eine direkte Folge des Klimawandels, der durch den Gebrauch von fossilen Brennstoffen mitverursacht wird.

So nahm das US-Innenministerium 2008 den Eisbären auf seine Liste der gefährdeten Arten. Aber auch Millionen von Vögeln nutzen die küstennahen arktischen Gewässer, Düneninseln, Lagunen und Flussdeltas, um im Frühling zu nisten und um sich im Sommer die Reserven für ihre lange Reise in die südlichen Überwinterungsgebiete anzufressen. Der arktische Wind treibt in einer Richtung Süsswasser von den Flüssen in den Ozean und in der anderen Richtung Salzwasser vom Meer in die Lagunen. Diese Mischung schafft an der Küste ein nährstoffreiches ökologisches Habitat für Vögel, Fische und verschiedene Robbenarten.

Nichts gelernt

Im Golf von Mexiko sorgen sich die WissenschaftlerInnen inzwischen über den Beginn der Hurrikan-Saison, die am 1. Juni eingesetzt hat und offiziell erst am 30. November endet. Jeder Sturm in dieser Region wird die bereits gigantische Umweltkatastrophe weiter vergrössern, indem er das Öl noch mehr verteilen wird und Reinigungsaktionen behindert. Nun stellen Sie sich dasselbe Szenario im Arktischen Ozean vor, wo heftige Schneestürme kein saisonales Ereignis sind, sondern ganzjährig vorkommen – und aufgrund des Klimawandels in den vergangenen Jahren noch an Intensität zugelegt haben. Bei Windgeschwindigkeiten von 130 Stundenkilometern würde jeder lokale Ölteppich schnell auf eine ganze Küstenregion verteilt.

US-Innenminister Salazar wollte Anfang Mai von Shell wissen, mit welchen Massnahmen der Konzern einen ähnlichen Unfall wie jetzt im Golf verhindern wolle – und falls es doch passieren sollte, wie er in der Arktis darauf reagieren würde.

Mitte Mai gab Shell seine Antwort öffentlich bekannt: Der Konzern halte im Falle eines Ölaustritts eine vorgefertigte Kuppel bereit, mit der jedes Leck verschlossen werden könne. Zudem wolle man an der Quelle des Lecks unter Wasser chemische Dispergiermittel freisetzen. Beide Methoden sind von BP im Golf von Mexiko angewendet worden – ohne Erfolg.

Inzwischen gehen WissenschaftlerInnen von der Annahme aus, dass die dort eingesetzten giftigen Dispergiermittel bereits zu signifikanten ökologischen Schäden an Korallenbänken geführt haben und noch weitere Meerestiere und -pflanzen bedrohen. Nichts davon verheisst Gutes für die Arktis.

Den ungekürzten Text auf Englisch finden Sie unter www.tinyurl.com/arcticoils

Subhankar Banerjee ist Fotograf, Buchautor und Umweltaktivist. Er publiziert regelmässig auf der Webseite www.tomdispatch.com.

US-Moratorium: Auslegungssache

Die US-Regierung verlängerte vergangene Woche das am 14. Mai erklärte Moratorium für die Bewilligung neuer Offshore-Ölbohrungen um sechs Monate. Der Stopp gilt auch für die umstrittenen Verzichtserklärungen der Behörden auf Umweltverträglichkeitsstudien, sogenannte Waivers, die den Ölkonzernen in den meisten Fällen ausgestellt wurden – oder werden.

Laut US-Medien stellte die Regierung auch nach dem Untergang der Ölplattform Deepwater Horizon weiter Bewilligungen aus. Sie vergab mindestens neunzehn Waivers und bewilligte siebzehn Bohrungen, manche noch riskanter als die auf der untergegangenen Plattform – und ebenfalls im Golf von Mexiko –, obwohl dort seit Ende April täglich schätzungsweise zwei Millionen Liter Öl auslaufen.

US-Innenminister Ken Salazar sagte dazu gegenüber den Medien, dass die Behörden nicht die Absicht hätten, die Erschliessung aller neuen Öl- und Gasvorkommen im Golf zu stoppen. VertreterInnen des Innenministeriums sowie der Behörde für nationale Bodenschätze erklärten, die neuen Bewilligungen seien an Firmen vergeben worden, die bereits Bohrprojekte betreiben.