Medientagebuch: Medien und Mob

Nr. 23 –


Als die Lehrerin Rana Abu Marhi an einem Mittwoch Ende April nach der Arbeit nach Hause kam, empfingen sie nicht wie üblich ihre beiden Töchter Seina (9) und Amina (7). Schliesslich entdeckte Rana in ihrem Elternhaus ein schreckliches Blutbad: Ranas Vater Jussif (75) und ihre Mutter Kaussar (70) sowie ihre beiden Mädchen lagen erstochen und blutüberströmt im Haus – allein die kleine Seina hatte 27 Messerstiche erlitten. Ein derartiges Verbrechen hatte das Dorf Ketermaia im Schufgebirge, dreissig Kilometer südwestlich von Beirut, noch nie gesehen.

Noch am gleichen Abend wurde ein Nachbar verhaftet: der ägyptische Metzger Mohammed Musallem (38), bei dem man ein blutverschmiertes Messer und blutgetränkte Kleider fand. In der Nacht legte er offenbar ein Geständnis ab. Ausgerechnet als am nächsten Morgen das Dorf versammelt war, um die Opfer der Untat zu beerdigen, brachte die Polizei den Verdächtigen an den Tatort, um das Verbrechen nachzustellen. Die wutentbrannte Menge entriss den Ägypter den sechs Polizisten und verprügelte ihn. Mit Mühe gelang es den Beamten, den Schwerverletzten zum nahen Spital zu bringen. Dort bemächtigte sich der Mob erneut des Verdächtigen, er wurde totgeschlagen, auf den Dorfplatz geschleift und entblösst mit einem Metzgerhaken an einen Elektrizitätsmast gehängt. Die Polizei ward nicht mehr gesehen.

Ein fürchterliches Ereignis – und ein gefundenes Fressen für die libanesischen Medien. Das sind nicht weniger als elf TV-Stationen und noch etwas mehr Tageszeitungen. Tagelang waren die Bluttat und die Lynchjustiz Thema, dank Handys gab es ausführliches Bildmaterial, das noch und noch über den Äther flimmerte, dazu Spekulationen und zahlreiche Diskussionsrunden.

Das führte zu doppelter Medienkritik: Die BewohnerInnen von Ketermaia klagten, die Medien würden ihre Selbstjustiz als verwerflicher darstellen denn die Untat des Ägypters. Die Behörden hingegen und ägyptische Stimmen rügten die Veröffentlichung der blutigen Bilder des halbnackten Gelynchten, die grossenteils aus den Händen des Mobs stammten. Nur zwei Zeitungen hatten auf eine Publikation der Fotos verzichtet.

Auch die Medien hielten nicht zurück mit Kritik und Fragen: Wie steht es mit der Unschuldsvermutung? Wieso führt die Polizei den Verdächtigen im derart falschen Moment der Menge vor? Doch entlassen wurde niemand, Rücktritte gab es weder bei der Polizei noch im Justizministerium. Die Suche nach den Anführern des Racheaktes dauert noch an, das Dorf versucht, ihre Verhaftung zu hintertreiben. «Was in Ketermaia geschah, zeigt, wie sehr die Autorität des Staates zerfallen ist», sagt Omar Naschabe, Gerichtsexperte und Redaktor der Tageszeitung «al-Achbar». Tatsächlich sah Libanon zu viele ungesühnte Verbrechen, als dass die Bevölkerung vom Staat noch Gerechtigkeit erwarten würde. Beim spektakulärsten Mord, jenem an Premierminister Rafik Hariri vom Februar 2005, gab die Regierung ihre Unfähigkeit zur Verfolgung der Täter selber zu und rief nach einem internationalen Gericht.

Hiesige JournalistInnen kennen das Problem: Nach Hariri wurden zwei Journalisten im Abstand von wenigen Monaten Opfer von Bombenanschlägen, deren Urheber bis heute nicht eruiert sind. Daher wird in Libanon der Internationale Tag der Pressefreiheit als «Gedenktag für Märtyrer der Medien» begangen – am 3. Mai, dieses Jahr nur Tage nach der Bluttat von Ketermaia.

Ein anderer Aspekt der grauslichen Geschichte wurde hingegen weniger diskutiert: der Rassismus der libanesischen Gesellschaft, den Tausende äthiopischer und philippinischer Hausangestellter ebenso zu spüren bekommen wie ArbeiterInnen aus Ländern wie Sudan und Ägypten. Ein einheimischer Tatverdächtiger wäre kaum so brutal zum Opfer des Volkszorns geworden. Dabei gaben die Behörden erst kürzlich bekannt, dass der ägyptische Metzger im Auftrag einer libanesischen Verwandten der Opfer gehandelt habe. Daraus wurde aber nur noch eine kurze Meldung, ohne drastische Bilder.

Werner Scheurer berichtet für die WOZ aus Beirut.