«Swissness»: Ein Bild der Schweiz, das alle einschliesst

Nr. 23 –

Die wiederbelebte Folklore boomt, auch in der Kultur. Haben die Kulturschaffenden es verpasst, einem falschen Selbstbild ein positiveres entgegenzuhalten, fragt der Autor Martin R. Dean.


Kaum ist die Aufregung über das Ergebnis der Minarett-Initiative verebbt, kommt mit dem Burkaverbot die nächste fragwürdige Initiative bezüglich des Islam, ohne dass eine Auseinandersetzung über den Kanon des Eigenen stattgefunden hätte. Wie viel Fremdes im Eigenen Platz hat, hängt jedoch vom Selbstbild von uns SchweizerInnen ab. Das Unbehagen, dass die Globalisierung das Eigene auslöscht, hat nicht nur breite Teile der Bevölkerung, sondern auch viele Kulturschaffende ergriffen.

Die mächtige Nostalgie, die die Wunden der Globalisierung mit der Wiederbelebung von Heimat als Folklore heilen will, ist aber keine Antwort. Der Rückgriff auf Trachtentum und Bauerngeist, von dem sich viele eine Verschnaufpause von der Entfremdung erhoffen, reanimiert eine reaktionäre Bildersprache, die ein neues Schweizbild eher verstellt als eröffnet. Grundsätzlich geht es weltweit darum, wie das Eigene im Prozess der Globalisierung zu bewahren ist. Wie beispielsweise unsere Traditionen belebbar sind, ohne dass sie dem Kitsch der Selbstfolklorisierung verfallen. Heimat wird zum Unort, wenn sie gegen die Globalisierung ins Feld geführt wird.

Heimatmarketing

Warum muss beispielsweise der Reisende am grössten Schweizer Flughafen Zürich von Glockenklang und Muhen begrüsst werden? Eine Antwort darauf haben die WerberInnen, die mit ihrer stereotypen Sprache die Schweiz auf einen Heimatreflex schrumpfen lassen, der in Schanghai wie in Seattle die nötige Kauflust erzeugt. Prägt dieses museale Heimatbild nicht auch unser Selbstverständnis?

Seit längerem wird das Heimatmarketing von einer Partei unterstützt, die die Refolklorisierung des schweizerischen Selbstverständnisses wie keine andere bedient. Trachten- und Jodlervereine erleben eine Wiedergeburt, denn Alphornklänge bedeuten «Heimat», mittlerweile auch für viele Kulturschaffende, die die alten Bräuche ihres rechtskonservativen Images befreit wähnen. Bilder, Stimmungen, Atmosphärisches bestimmen unsere kollektiven Vorstellungen. Auch Medienbilder: Zwischen dem latent fremdenfeindlichen Bodensatz einer Gotthelfschweiz und dem Beliebigkeitsbetrieb gesichtsloser internationaler Castingshows scheint es im Schweizer Fernsehen DRS zurzeit nichts Drittes zu geben.

Zirka dreissig Prozent der inländischen Bevölkerung sind AusländerInnen oder SchweizerInnen mit ausländischen Wurzeln. Sie sind von einem Schweizbild betroffen, in dem sie nicht vorkommen – oder nur als Schreckensmeldung. Die Nachkommen der Eingewanderten sind vom helvetischen Blick in den Spiegel betroffen, selbst wenn sie nicht gemeint sind. Sie leben seit Generationen in einem Land, das sich kein Bild von ihnen macht. Und das doch seine Identität in der Abgrenzung zu ihnen sucht. Gibt es eine atmosphärische Politik, die sich auf diese dreissig Prozent der Bevölkerung einliesse? Bilden diese MitbewohnerInnen nicht auch im schweizerischen Kulturschaffen, dem Theater, dem Film und der Literatur, eine unsichtbare Menge? Wo werden ihre Biografien, ihre Lebensbedingungen und ihre Räume verhandelt? Haben wir Kulturschaffenden es verpasst, einem vergifteten Klima ein anderes, günstigeres entgegenzuhalten?

«Bei der Minarett-Initiative ging es um Integration», schreibt die «Basler Zeitung» vom 16. Februar 2010. Drei Viertel der zum Abstimmungsverhalten Befragten befinden, AusländerInnen müssten sich besser anpassen. Integration, die früher Assimilation hiess, ist eine Leerformel, die gegenwärtig von der Forderung nach immer grösserer Anpassungsleistung der Eingewanderten dominiert wird. Über die Sprachkompetenz und die Befolgung der eidgenössischen Gesetze hinaus aber bleibt vage und weithin beliebig, woraus Integration besteht.

Zulassung als Abwehr

1968, zur Zeit der Überfremdungsinitiativen, verfasste Marc Virot, damaliger Präsident der Vereinigung kantonaler Fremdenpolizeichefs der Schweiz, ein Büchlein mit dem Titel «Vom Anderssein zur Assimilation». Virot beschreibt darin, welche Eigenschaften und Haltungen von Eingewanderten schweizkonform sind und also für die Einbürgerung prädestinieren. Zu den assimilationsbejahenden Umständen gehört es zum Beispiel, Schweizer Radiosender zu hören, Schweizer Zeitungen zu lesen und nicht ausschliesslich Olivenöl zum Kochen zu benutzen. Ein Assimilisationswille muss grundsätzlich verneint werden, so Virot, wenn sich jemand nur heimatliche Filme anschaut, wenn er innerhalb der Familie nur seine Muttersprache benutzt, einen unseriösen Lebenswandel führt oder wünscht, in der Heimat begraben zu werden.

Im eidgenössischen Ausländergesetz steht an der Stelle, wo von «Einwanderung» die Rede sein müsste, das Wort «Zulassung». Diese Vokabel ist kein Willkommensgruss, zugelassen wird, wer nicht mit letzter Kraft abgewehrt werden kann.

Chianti oder Cola

«Sie» (die Fremden), schrieb Max Frisch 1965, «müssen sich schon tadellos verhalten, besser als Touristen, sonst verzichtet das Gastland auf seine Konjunktur.»

Ein Ausländer sollte also lernen, im Tram aufzuschliessen, den Kehrrichtsack zur rechten Zeit am rechten Ort abzustellen, keine Wäsche ins Fenster zu hängen, keinem Arbeitskollegen ohne fremdenpolizeiliche Bewilligung die Haare zu schneiden, Busbillette nicht auf den Boden zu werfen. «Ja», schreibt Virot, «er ist in dieser Beziehung erst assimiliert, wenn er wie wir das Gefühl hat, ein Wahrer der öffentlichen Ordnung zu sein, der das Recht hat, den anderen auf sein vorschriftswidriges Verhalten aufmerksam zu machen, und manchmal strenger als die Polizei.» «Wir dürfen nicht verlangen, ein Ausländer soll statt Chianti oder Rioja wie wir französischen Wein oder Coca Cola trinken. Wenn er aber Vogelfallen aufstellt, so bleibt er ein Fremder.»

Vogelfallen? – Wären wir, tierschützend und ökologiebewusst, nicht auch heute noch dagegen? Wogegen sind wir, wogegen nicht und mit welcher Begründung? Wo greift ein Gesetz ins Private ein? Einiges von dieser virotschen Neutralisierungswut schwingt noch heute in der Integrationsdebatte mit.

Swissness – fragwürdig

Einen bemerkenswerten Beitrag zum Selbstbild der letzten Jahre liefert der Begriff «Swissness», mit dem ein unverkrampfteres Verhältnis zu den Schweizer Symbolen angestrebt wird. Ein Label, das bewusst mit schweizerischen Eigenheiten wie Präzision, Zuverlässigkeit und Sauberkeit arbeitet. Swissness entwirft Selbstbilder aber nicht nur im Exporthandel, sondern auch im Alltag. Die Migros forciert die Eigenmarke «Heidi», das Modelabel «Alprausch» vermischt eidgenössisches Kolorit mit dem James-Bond-Stil der Sechziger. Die nationalen Symbole schwindeln eine Heileweltschweiz vor, die alles Widersprüchliche einebnet. Swissness steht plötzlich auch für eine weltoffene und weltläufige Schweiz. Für den Historiker Jakob Tanner ist «Swissness» der Gegenbegriff zum politischen Schlagwort vom «Sonderfall Schweiz», der von Bedrohungskomplex und Überfremdungsangst geprägt sei.

Steckt in der Swissness der Ansatz zu einer neuen Selbstbeschreibung? Ist mit diesem leichtfüssigen Patriotismus, gemäss dem Soziologen Kurt Imhof, die Unvereinbarkeit von Fremdenabwehr und Selbstbestimmung tatsächlich aufgelöst? «Ein Verweis auf Swissness ermöglicht es, Assoziationen von heiler Welt, Spitzenleistung und Weltläufigkeit zu wecken», ist dazu in einer St. Galler Studie aus dem Jahr 2004 zu lesen.

Ein Blick in die Realpolitik, in der die Grenzen zusehends enger gezogen werden, macht auf einen anderen Aspekt aufmerksam: Swissness lässt sich auch als Teil einer breit laufenden Renationalisierung unseres Lebensgefühls deuten.

Gegen die vom Bund verabschiedete Swissness-Vorlage gingen zumindest die WurstverkäuferInnen wie die Föderation der Schweizerischen Nahrungsmittel-Industrien (Fial) auf Distanz, denn ihre Produkte, sollen sie als «schweizerisch» gelten, müssen zwingend einen achtzigprozentigen Anteil schweizerischen Rohmaterials aufweisen. Die Fial fordert dagegen einen sechzigprozentigen Anteil, und der Fleischverband kritisiert die «diskriminierenden Regeln» des neuen Markenschutzgesetzes. Wie viel Prozent Schweizerisches muss ein Produkt haben, um schweizerisch zu sein? (In Hinblick auf die bevorstehende Grillzeit gibt der Fleischverband Entwarnung bei den Cervelats; es sind genügend Rinderdärme aus Uruguay und Paraguay vorhanden.)

Swissness präludiert leider kein neues Schweizbild, sondern verkauft nur neue Inhalte mit einer alten, belasteten Sprache. Die Frage bleibt: Wie ist das Eigene vor der Folklorisierung und der Globalisierung zu retten?

Realität eines Einwanderungslands

Voraussetzung dafür wäre ein Selbstbild, das nicht von der Utopie einer konfliktfreien Multikultigesellschaft ausgeht, sondern von der Realität eines Einwanderungslandes, das Arbeitskräfte benötigt. Als Kulturschaffende entwerfen wir Bilder der Schweiz, die nicht nur Teil eines kollektiven Unbewussten, sondern auch Teil eines Selbstverständnisses sind. Als Kulturschaffende prägen wir die Atmosphäre und stiften ein Klima. Unser Schweizbild wird sich daran messen lassen müssen, ob darin alle, auch die Unsichtbaren, Platz haben.


Martin R. Dean

Der Autor und Gymnasiallehrer Martin R. Dean kam 1955 als Sohn einer Schweizerin und eines karibischen Vaters aus Trinidad zur Welt. Er wuchs im Aargau auf und lebt heute mit seiner Frau und seiner Tochter in Basel, wo er unter anderem als Schriftsteller, Journalist und Essayist tätig ist. Sein 2003 erschienener Roman «Meine Väter» wurde mit dem Schillerpreis ausgezeichnet.

Der abgedruckte Text ist eine Rede, die Dean an der Solothurner Landhausversammlung am 29. Mai hielt. Über 200 Personen waren im Landhaus anwesend, um mit der Solothurner Erklärung die Grundpfeiler der direkten Demokratie und die Grund- und Menschenrechte zu stärken.

www.landhausversammlung.ch