Durch den Monat mit Brigitte Kühni (3): Ahnungslose Politiker?

Nr. 33 –

Ein Gespräch mit Brigitte Kühni, die seit ihrer Geburt an einer Muskelerkrankung leidet.

Brigitte Kühni: «Es wäre dringend nötig, dass sich Politikerinnen und Politiker von Betroffenen beraten liessen.»

WOZ: Wie begegnen Ihnen die MitarbeiterInnen der Invalidenversicherung?
Brigitte Kühni: Ich erlebe ihr Verhalten oft als mühsam und arrogant. Mich besuchen regelmässig IV-MitarbeiterInnen. Sie schauen dann, wie ich mich im Haushalt bewege. Bei fast allem, was wir verlangen, heisst es: Das ist nicht nötig. Es ist diskriminierend, was ich da erlebe.

Geben Sie uns ein Beispiel?
Wir beantragten einen schwellenlosen Balkoneingang. Für mich ist das eine der wenigen Möglichkeiten, spontan und ohne Hilfe an die frische Luft zu kommen und die Natur zu geniessen. – Und was sagte die IV? Wozu müssen Sie nach draussen! Selbst wenn ein Antrag jedem vernünftigen Menschen einleuchtet, kommt zuvorderst diese Frage: Wozu ist das nötig? Das ist der Stil der IV.

Was halten Sie von der öffentlichen Debatte um die IV, die zurzeit stattfindet?
Ich finde sie meistens völlig daneben. Ich könnte mich nonstop aufregen. Dabei bin ich noch privilegiert. Wenn ich im Einkaufszentrum etwas aus den höheren Regionen eines Regals nehmen muss, kann ich mich immerhin noch aus dem Rollstuhl erheben. Für MS-Patienten oder Paraplegiker ist das alles ungleich mühsamer. Für sie sind die Barrieren im Alltag noch viel höher. Das Leben als Behinderter ist ohnehin schwer. Darum finde ich diese selbstgerechte Debatte jenseits.

Und was halten Sie von der Diskussion über den Missbrauch der IV?
Mein Mann und ich haben uns oft gefragt, wie ein solcher Betrug überhaupt möglich sein soll. Wir jedenfalls sind von der IV immer wieder bis auf die Knochen durchleuchtet worden, ich wüsste nicht, wie ich da die IV hätte betrügen können, wenn ich das denn gewollt hätte. Es gibt immer wieder schwarze Schafe, in allen gesellschaftlichen Bereichen. Aber diese Missbrauchsdebatte ist gefährlich. Die Bevölkerung hört «Missbrauch» – dann kennt man jemanden, der IV bezieht, und sieht ihn beim Spazieren, und schon ist der Mist geführt. Diese Debatte erzeugt einen Generalverdacht und eine Misstrauensstimmung gegenüber allen Behinderten.

Sind Sie mit den aktuellen Vorschlägen zur IV-Revision einverstanden?
Nein, überhaupt nicht, auch wenn mir bewusst ist, dass die IV einen grossen Schuldenberg angehäuft hat. Ich bin für seriöse Abklärungen, ehe eine Rente gesprochen wird, ich bin für die Integration ins Arbeitsleben, wo es möglich und sinnvoll ist. Allerdings frage ich mich: Wer nimmt in der heutigen Arbeitswelt jemanden, der verlangsamt ist? Ausserdem leuchtet mir bei dieser Revision nicht ein, weshalb wieder bei den Benachteiligten gespart werden soll. Wenn Milliarden bereitgestellt werden für die Rettung einer Grossbank, dann ist doch Geld da! Die Revision ist ein Bumerang: Man kann die IV kürzen, man kann Leistungen einschränken und verweigern – dann kommen die Leute in die Fürsorge, und dann haben wir dort ein Loch.

Die Politiker scheinen es besser zu wissen.
Die haben nicht den Hauch einer Ahnung, wovon sie reden. Nur eine selbst betroffene Politikerin oder ein selbst betroffener Politiker, wie beispielsweise Marc Suter, weiss, wovon er spricht. Deshalb wäre es dringend nötig, dass sich Politikerinnen und Politiker von Betroffenen beraten liessen beziehungsweise deren Meinungen und Erfahrungen ernst nehmen würden.

Wovon haben sie keine Ahnung?
Ich begegne im Alltag Barrieren, von denen sich Gesunde gar keine Vorstellung machen.

Ein Beispiel?
Ein Gesunder steigt in den Zug, er steigt jede Treppe hoch, er kann jedes Haus betreten. Das ist die grosse Freiheit der Gesunden, die sie nicht einmal als solche wahrnehmen. Bei mir kann schon ein kleiner Absatz zum Problem werden. Bei jedem Ausflug ist der organisatorische Aufwand erheblich. Daher weiche ich oft aus, gehe gar nicht erst in Geschäfte, wo es eine Treppe hat. Manchmal stellt sich schlicht die Frage: Hat es ein rollstuhlgängiges WC? Ich kenne eine Bergbahn im Berner Oberland, da müssen sich RollstuhlfahrerInnen fünf Tage im Voraus anmelden. Aber weiss ich, ob es in fünf Tagen schön ist? Solche Übungen lasse ich gleich bleiben.

Kann man sich denn eine Schweiz ohne diese IV vorstellen?
Wenn wir mal vom Geld absehen: Ich habe das Gefühl, sie wäre sozialer. Heute gibt man Geld, aber echte Zuwendung, Verantwortung für Benachteiligte – das delegiert man an Profis. Selber fühlt man sich nicht mehr direkt verantwortlich. Wäre es aber so, gelänge die Integration und die Versorgung von Behinderten wahrscheinlich besser. Selbstverständlich ginge es auch dann nicht ohne Geld.

Brigitte Kühni (51) leidet seit ihrer Geburt an einer Muskelerkrankung. Zusammen mit ihrem Mann, einem Schreiner, hat sie vier Pflegekinder grossgezogen. Mittlerweile ist die gelernte Krankenschwester aus Langnau im Emmental auf einen Rollstuhl angewiesen. Mit der neuen IV-Revision will der Bundesrat auf Kosten der Behinderten 800 Millionen sparen.