Durch den Monat mit Brigitte Kühni (1): Angst vor dem Leben?

Nr. 31 –

Ein Gespräch mit Brigitte Kühni, die seit ihrer Geburt an einer Muskelerkrankung leidet.

Brigitte Kühni: «Beim Wandern bin ich oft gestürchelt. Der Vater ermahnte mich dann: ‹Lauf richtig, gib dir Mühe!› Mehr nicht.»

WOZ: Als Sie neunzehn waren, sagten die Ärzte, mit dreissig sässen Sie im Rollstuhl. Wie reagierten Sie darauf?
Brigitte Kühni: Ich war schockiert, ich hatte überhaupt Angst vor dem Leben. Und ich fragte mich, ob ich als Krankenschwester den richtigen Beruf ergriffen hatte. Dann lebte ich einfach weiter. Pläne machte ich keine. Meine Eltern dachten über meine Lage nach, ganz nüchtern. Wir lebten in einem Bauernhaus. Der Einbau einer rollstuhlgängigen Wohnung war ein Thema.

Sie leiden seit Geburt an Spinaler Muskelatrophie. Was bedeutet das?
Es ist eine Schädigung des untersten Rückenmarks. Die Nervenbahnen sind schlecht ausgebildet. Das wirkt sich bei mir nachteilig auf die Beinmuskulatur, den Darm und die Blase aus. Es ist ein schleichender Prozess, im Laufe des Lebens wird es immer schlimmer.

Ihr Geburtsgebrechen blieb lange unentdeckt.
Das war so. Heute untersucht man das Rückenmark von Neugeborenen routinemässig. Entdecken die ÄrztInnen einen Schaden, kann man einiges reparieren.

Bemerkten Ihre Eltern nichts?
Nicht wirklich. Ich hatte einfach erhebliche Schwierigkeiten beim Laufenlernen, ich entwickelte einen seltsamen Gang, rennen fiel mir schwer, Sport hasste ich, weil ich ungelenk war und nirgends hinkam, ich war immer die Letzte. Beim Wandern bin ich oft gestürchelt. Der Vater ermahnte mich dann: Lauf richtig, gib dir Mühe! Mehr nicht.

Fühlten Sie sich benachteiligt?
Für meine Spielkameraden war mein etwas anderer Gang kein Thema. In der Schule fühlte ich mich manchmal hintangesetzt, weil mich die Kinder bei Spielen immer als Letzte wählten. Aber wirklich gelitten habe ich darunter nicht.

Erkannten Sie Ihre Behinderung als solche?
Nein. Es war einfach so. Als ich mit fünfzehn einen Ohnmachtsanfall hatte, untersuchte mich der Hausarzt ­eingehend und ahnte, dass ­neurologisch mit mir etwas nicht in Ordnung sein könnte. Aber eine klare Diagnose konnte er nicht stellen. Er bemerkte immerhin meine Spitzhochfüsse. Diese wurden operiert, die Achillessehnen wurden verlängert, damit ich besser laufen konnte. Ich trug drei Monate einen Gips, es gab keine Physiotherapie, ich musste danach selbst schauen.

Und wie kam es zur Diagnose Spinale Muskelatrophie?
Das war am Anfang meiner Lehre als Krankenschwester. Die Personalärztin der Klinik am Zollikerberg erkannte gleich meinen seltsamen Gang. Sie bestand darauf, dass ich an der ­Universitätsklinik Zürich abgeklärt werden musste. Dort stellten die Ärzte die Diagnose und sagten mir, ich sässe mit dreissig im Rollstuhl und könne meine Zahnbürs­te nicht mehr selber halten.

Haben Sie wegen Ihrer Behinderung Krankenschwester gelernt?
Das glaube ich nicht. Ich war ja nicht so stark behindert, dass es mich schwer beeinträchtigt hätte. Das kam erst später. Ich habe zuerst eine Handelsschule absolviert, weil ich nach der Schule noch zu jung war für die Lehre. Kindergärtnerin oder Kinderkrankenschwester hätte ich mir auch vorstellen können.

Mit dreissig im Rollstuhl, keine Kraft mehr, die Zahnbürste zu halten – lähmte Sie diese Aussicht nicht?
Nein, das dann doch nicht. Ich träumte trotzdem von einer eigenen Familie, von Kindern. Nach der Lehre suchte ich zusammen mit einer Kollegin eine Stelle im Bernbiet. Wir fanden in Langnau im Emmental am Spital Arbeit. Dann lernte ich meinen Mann kennen und blieb im Emmental ­hängen.

Wann klärten Sie ihn über Ihre Krankheit auf?
Ich erzählte ihm rasch davon. Ich dachte: Verheimlichen bringt nichts. Irgendwann wäre es ohnehin offensichtlich gewesen, und dann wären wir womöglich vor einem Scherbenhaufen gestanden. Er fand damals, wir machen diesen Weg zusammen, und so ist es bis heute.

Haben Sie Kinder?
Wir haben 1985 geheiratet und wollten auch Kinder. Aber wir können keine ­eigenen Kinder haben. Künstliche ­Befruchtung kam für uns nicht in ­Frage. Als wir uns dann eine Adopti­on überlegten, wäre ich schon zu alt ­gewesen angesichts des langwierigen ­Prozesses. So haben wir uns für ­Pflege­kinder entschieden. Die vier sind auch unsere Kinder geworden, die ­jüngeren beiden sind noch in der Ausbildung.

Und: Sassen Sie mit dreissig im Rollstuhl?
Nein, das hat viel länger gedauert als prognostiziert. Selbst heute kann ich mich in der Wohnung zu Fuss bewegen, auch wenn es mühsam ist. Sonst benötige ich einen Rollstuhl.

Brigitte Kühni (51) leidet seit ihrer Geburt an einer Muskelerkrankung. Zusammen mit ihrem Mann, einem ­Schreiner, hat sie vier Pflegekinder grossgezogen. Mittlerweile ist sie auf einen Rollstuhl angewiesen.