Durch den Monat mit Brigitte Kühni (4): Der Glaube als Rezept?

Nr. 34 –

Ein Gespräch mit Brigitte Kühni, die seit ihrer Geburt an einer Muskelerkrankung leidet.

Brigitte Kühni: «Meine Beziehung zu Gott ist vergleichbar mit der zu einem ­Menschen, aber unendlich intensiver.»

WOZ: Frau Kühni, Sie kämpfen seit Jahren um eine höhere Rente und haben, wie Sie uns letztes Mal sagten, von den Gerichten Recht bekommen. Hat Ihnen die IV Ihre neue Rente inzwischen ausbezahlt?
Brigitte Kühni: Nein, ich warte immer noch und weiss nicht, wie lange es noch dauert.

Ihr Alltag ist durch die Behinderung nicht einfach, dazu diese jahrelangen Scherereien mit der IV – geht das an die Psyche?
Dieses Auf und Ab ist Teil meines Lebens. Es kommt und geht. An die Grenzen bringen mich manchmal die Schmerzen beim Gehen, diese Krämpfe in den Beinen sind dann kaum zu ertragen.

Wie halten Sie das alles durch, ohne verbittert zu werden?
Meine Familie trägt mich praktisch und emotional ganz fest. Und ich habe einen guten Freundeskreis, auf den ich bauen kann. Sie beten für mich. Auch ich finde Trost im Gebet. Meine Beziehung zu Gott ist sehr wichtig, sie hilft mir, mein Leben gut zu leben.

Wie ist Ihre Beziehung zu Gott?
Wie soll ich das beschreiben? Sie ist vergleichbar mit der zu einem Menschen, aber unendlich intensiver. Ich lese die Bibel und nehme sie ernst. Ich versuche, aus ihren Botschaften zu lernen.

Haben Sie durch die Krankheit zum Glauben gefunden?
Nein, ich war eine Jugendliche, als mein Glaube intensiver wurde. Ich war von Haus aus in der evangelischen Landeskirche. Doch seit langem gehöre ich einer Freikirche an, der methodistischen Kirche der Schweiz. Wir besuchen jeden Sonntag den Gottesdienst und nehmen auch sonst Anteil am Gemeindeleben.

Ist der Glaube an Gott ein Rezept für andere Behinderte?
Ich möchte Mut machen, sich mit Gott und der Bibel auseinanderzusetzen. Aber ich will niemandem Ratschläge erteilen. Das muss jeder für sich entscheiden. Es gibt auch andere Möglichkeiten, mit Krankheit umzugehen.

Was hilft Ihnen ausser Ihrem Glauben, der Familie und den Freundinnen und Freunden?
Wenn ich mich mit meinem neuen Rollstuhl in der Natur bewege, tritt meine Krankheit in den Hintergrund. Gerade am letzten Sonntag habe ich mit meinem Mann einen solchen Ausflug unternommen – er mit dem Velo, ich im neuen Rollstuhl mit Lenkvorrichtung. Und ich lese gerne – querbeet. Zeitungen, Zeitschriften, Biografien, Sachbücher und Romane. Spannend muss es sein, dann vergesse ich die Mühsal. Handarbeiten und lange Gespräche mit Freundinnen und Freunden bereichern mein Leben.

Haben Sie einen grossen Traum?
Mein Mann und ich möchten mit einem Wohnmobil oder einem Wohnwagen Skandinavien bereisen. Die Natur in diesen Ländern muss eindrücklich sein.

Das machen Sie dann nach der Pensionierung?
Wir hoffen, dass es vorher klappt.

Sie sind soeben aus den Ferien aus dem Wallis zurück. Auch dort sind Sie auf Hindernisse gestossen, die Sie im Alltag immer wieder Ihre Behinderung spüren lassen.
Ja, in einem Einkaufszentrum. Die Behindertenparkplätze sind weit vom Eingang entfernt, und der Weg dorthin ist durch das Einkaufswagendepot verstellt, da war mit dem Rollstuhl kaum ein Durchkommen. Es ist die Gedankenlosigkeit der Planer. Behindertenparkplätze gleich neben dem Eingang würde uns Handicapierten das Leben erleichtern, und sie wären nicht teurer. Es ist ohnehin ein Märchen, dass behindertengerechtes Bauen teurer sei.

Hätten Sie zum Schluss dieses Gesprächs einen Wunsch an die IV offen: Was würden Sie sich wünschen?
Dass die IV weniger bürokratisch funktioniert. Da wird sehr viel am Schreibtisch entschieden. Diese Leute sollten praxis- und lebensnäher entscheiden. In meiner Karriere als Behinderte habe ich zwei IV-Angestellte erlebt – eine Frau und einen Mann –, bei denen ich das Gefühl hatte: Die blicken durch. Sonst habe ich den Eindruck, dass die IV behindertenfremd und bürokratisch entscheidet. Man sollte uns Behinderte und unsere Anliegen ernster nehmen und nicht von vornherein sagen, es sei zu teuer oder nicht machbar. Bürokratie braucht es, aber sie sollte nicht überborden.

Wie geht es Ihnen, wenn die 6. IV-Revision in der geplanten Form durchkommt?
Das gäbe mir ein schlechtes Gefühl. Aber Jammern bringt nichts. Es gibt Dinge, die muss man einfach akzeptieren in einer Demokratie.

Ist die IV-Politik von Nächstenliebe geprägt?
Schwer zu sagen. Ich finde, die Menschlichkeit leidet auf alle Fälle, wenn Schwächere keine Chance mehr haben.

Käme Jesus wieder auf diese Welt – auf welcher Seite stünde er?
Er hat sich schon vor 2000 Jahren für die Schwächsten starkgemacht. Und er hat sich schon damals mit der politischen Elite angelegt. Ich bin überzeugt, das würde er auch heute tun.

Brigitte Kühni (51) leidet seit ihrer Geburt an einer Muskelerkrankung. Zusammen mit ihrem Mann, einem Schreiner, hat sie vier Pflegekinder grossgezogen. Mittlerweile ist die gelernte Krankenschwester aus Langnau im Emmental auf einen Rollstuhl angewiesen.