«Jung und jenisch»: «Es zieht uns einfach»

Nr. 36 –

Bis in die siebziger Jahre wurden Kinder von Fahrenden ihren Familien entrissen. Heute sind viele junge Jenische wieder mit ihren Wohnwagen unterwegs. Zwei Filmemacherinnen haben sie dabei ein Jahr lang begleitet.


Wer sind die Jenischen? Diese Frage steht am Beginn des Dokumentarfilms «Jung und jenisch» von Karoline Arn und Martina Rieder über junge Fahrende in der Deutschschweiz. «Wenn ich nicht sagen würde, dass ich ein Jenischer bin, könntest ja du eine Jenische sein. Und ich könnte dich befragen. Ich kann es ja in meinem Ausweis nicht beweisen», sagt Daniel Huber, Präsident der Radgenossenschaft der Landstrasse, der Dachorganisation der Schweizer Jenischen, die seit 1975 deren Interessen in der Schweiz vertritt, ins Off. Nur in der Aufarbeitung der je eigenen Leben der Fahrenden könne ein Sesshafter begreifen, wer die Jenischen seien.

Arn und Rieder machten dies zum Prinzip ihres Films: Ein Jahr lang begleiteten sie die jungen Fahrenden Pascal und Miranda Gottier, Franziska Kunfermann und Jeremy Huber auf ihren Fahrten im Sommer von Durchgangsplatz zu Durchgangsplatz und besuchten sie in den Wohncontainern auf ihren Standplätzen, wo sie überwintern.

«Ebe chli jännisch»

Die üblichen Zigeunerklischees, die das sesshafte Denken in seinem Drang zur Schublade ansteuert, werden in diesem Film schnell widerlegt, ohne dass die Filmemacherinnen oder die Fahrenden selber darum viel Aufhebens machen. Wenn zufällig, wie bei einem Kammermusikduo an einem Fest, ein schnurrbärtiger Bassist ins Bild rückt, dann spielt er nicht irgendeine Gipsy-Polka, sondern begleitet das Schwyzerörgeli.

Umso genauer schaut die Kamera von Rieder hin, wenn etwa die 17-jährige Franziska Kunfermann auf ihrer ersten Sommerreise den sehr langen Wohnwagen akribisch putzt. Und die Autorinnen lassen ihr und dem 19-jährigen Jeremy Huber Zeit, wenn sie das Publikum durch deren mobiles Heim der Marke Dethleffs, Modell Beduin, führen: im Heck ein weisses Ledersofa mit Leopardenkissen vor weissen Rüschenvorhängchen, vorne ein Doppelbett, auf dem Franziska grad Herzchenkissen drapiert. Jeremy sagt: «Das isch ebe chli jännisch, echli e schöns Deckbett.» Offenbar ist nicht alles, was jenisch ist, nur jenisch.

Gut, Pascal und Miranda Gottier hören vielleicht lieber neuere deutsche Volksmusik als viele ihrer sesshaften AltersgenossInnen. Aber jenische Musik ist das deswegen nicht. Es tätowiert sich auch nicht jeder seinen Familiennamen auf den Unterarm wie Pascal (25), und nicht jede sagt wie Miranda, sie gelte manchmal schon als «alte Schachtel», weil sie mit einundzwanzig noch nicht Mutter sei. Spätestens mit fünfzehn, sagt sie, könne eine fahrende Frau den Haushalt selbstständig führen: «Der Mann bringt das Fleisch, die Frau kochts.» Bei ihnen sei die Rollenverteilung halt noch wie in den Fünfzigern.

Es wird noch enger

«Jung und jenisch» streicht auch enge Bande unter den Männern der Familien heraus: Pascal Gottier ist Daniel Hubers Neffe, Jeremy sein Sohn, Beni Huber sein Bruder, und alle sitzen sie in der Geschäftsleitung der Radgenossenschaft und gehen miteinander im Herbst auf die Jagd. Der Ehrenpräsident der Radgenossenschaft ist Robert Huber, Grossvater von Beni, Pascal und Jeremy. Soeben ist über ihn eine Biografie mit dem Titel «Zigeunerhäuptling» erschienen.

Robert Huber ist eines von 586 Opfern des Hilfswerks Kinder der Landstrasse der Pro Juventute, das zwischen 1926 und 1973 jenische Kinder und Jugendliche aus ihren Familien riss und unter Vormundschaft stellte. Er wuchs bei Sesshaften auf. Im Film wird deutlich, dass die Erinnerung an dieses Leid das Verhältnis der Jenischen zu ihrer sesshaften Umwelt bis heute prägt, es ist immer noch eines der Distanz und des Misstrauens, sogar der Angst: Mirandas Neffe Nico fürchte im Kindergarten, dass niemand mehr da sei, wenn er heimkomme, sagt Mirandas Mutter. Dass diese Angst bis heute noch in den Knochen auch der Jüngsten steckt, verwundert nicht, wenn Mirandas Mutter, Nicos Grossmutter, erzählt, dass sie Mirandas ältere Schwester noch 1985 fast zur Adoption freigeben musste.

Was aber ist am jungen jenischen Leben noch typisch jenisch, neben einer leidvollen Geschichte der Eltern und Grosseltern, die diesen die Sesshaften aufzwangen? Frauen am Herd, Jagdliebhaber und Patriarchen gibt es schliesslich nicht nur bei den Fahrenden. Arn und Rieder wollen darauf keine definitiven Antworten geben: Ihr Film bleibt immer in Bewegung, so wie es auch der gezeigte Alltag der jungen Fahrenden wenigstens im Sommer ist. Er ist von Unverbindlichkeiten, Unberechenbarkeiten, spontanen Aufbrüchen und Abbrüchen geprägt.

Vielleicht ist das jenisch: «Es zieht uns einfach», sagt Jeremy einmal. Jenisch ist auch der gegenwärtige Kampf der Jungen um die Erhaltung ihrer Lebensgrundlage, des Fahrens selbst: Wollen Hubers und Gottiers auch in Zukunft fahren, dann brauchen sie mehr Durchgangsplätze für die sommerlichen Zwischenhalte und mehr Standplätze zum Überwintern: Den 3000 fahrenden Jenischen (die anderen 32 000 SchweizerInnen, die sich zur anerkannten schweizerischen Minderheit zählen, sind sesshaft, sogenannte «Beton-Jenische») und den ausländischen Sinti und Roma, die durch die Schweiz ziehen, stehen zurzeit 12 offizielle Stand- und 44 Durchgangsplätze zur Verfügung. Da die Möglichkeiten spontaner Halte und die Anzahl informeller Plätze in den letzten Jahrzehnten ab- und gleichzeitig die Zahl der Fahrenden zunimmt, wird es auf den Plätzen immer enger.

Können die jungen Jenischen nicht mehr fahren, dann können sie auch nicht mehr so arbeiten, wie sie es heute tun – vielleicht das Althergebrachteste an ihrer Lebensweise: Sie sind Dachdecker, Maler, Spengler oder Scherenschleifer. Die Aufträge «schränzen» sie sich, wie Pascal Gottier sagt, beim Hausieren. Anerkannte Berufsabschlüsse besitzt niemand der Jenischen im Film. Müssten sie sesshaft werden, dann wäre auch ihre materielle Existenz gefährdet.

Die Abstimmung von Ibach

Die mangelhafte Infrastruktur in der Schweiz bringt die fahrenden Jenischen in eine Identitätsbredouille: Wollen sie Abstimmungskämpfe um neue Plätze im konservativen Schweizer Hinterland gewinnen, wie jenen am 26. September bei Ibach in der Gemeinde Schwyz, dann müssen sie «das Schweizerische» an sich betonen, um sich von den ausländischen Roma zu distanzieren, deren schlechter Ruf nicht nur diesen selber zum Verhängnis wird, sondern auch den Jenischen schadet. Damit aber das Stimmvolk die Notwendigkeit von öffentlichen Plätzen für Fahrende versteht, müssen die Jenischen die Eigenständigkeit ihrer Lebensweise gegenüber den sesshaften SchweizerInnen betonen.

So zielt der Satz auf dem Abstimmungsflyer des Pro-Komitees in Ibach am Kern der Sache vorbei: «Ja zum Durchgangsplatz, weil Schweizer Fahrende Schweizer Bürger sind.» Schweizer Fahrende brauchen nicht Durchgangsplätze, weil sie BürgerInnen sind, sondern weil sie Fahrende sind. Wer «Jung und jenisch» sieht, wird das begreifen.

Karoline Arn und Martina Rieder: «Jung und jenisch». Schweiz 2010.

Das Schweizer Fernsehen strahlt am Montag, 13. September, 22.55 Uhr, auf SF1 eine leicht gekürzte Fassung aus.

Filmvorführungen in: Schwyz MythenForum, Mo, 20. September, 17 Uhr. Bern Reitschule, Sa, 25., bis Mo, 27. September.

www.dschointventschr.ch