Fahrende: Die Freiheit zu gehen

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Im Abstimmungskampf zur Personenfreizügigkeit werden Sinti und Roma aus Südosteuropa zu gefrässigen Raben degradiert. Wie denken Jenische in der Schweiz über trennende Volks- und sich öffnende Landesgrenzen?


Jasmin Wyss und ihr Partner Adam Huser sitzen in der Küche ihres Fertighauses am äussersten Rand von Zürich Seebach. Die automatische Kaffeemaschine produziert Latte macchiato. Draussen, hinter der geschlossenen Tür zum Garten, bellt heiser ihr weisses Schosshündchen. «Du bleibst draussen, du beisst bei Fremden», ruft Jasmin Wyss ihm durchs Fensterglas zu. Es kläfft und kratzt trotzdem weiter, offenbar hat es genug vom nasskalten Tauwetter, das den Schnee in den Vorgärtchen von den farbigen Plastiktierchen tropfen lässt.

Klein und dem Winter zum Trotz wohl geschmückt liegen die Gärten vor den meist fundamentlosen, volkstümlich oder mediterran anmutenden Retortenhäusern. Dahinter zischt die Autobahn trotz Lärmschutzwand. Über die dreissig Gebäude in Reih und Glied, die jenischen Fahrenden als Winterunterkünfte dienen, brummen grosse Flieger vom nahen Flughafen hinweg. Auf den Zufahrtswegen stehen ziemlich teure Autos. «Dem heutigen Jenischen ist das Auto, was seinen Vorfahren das Ross war», sagt Adam Huser, der mit den schwungvoll nach hinten gewachsten Haaren und seinem fein geschnittenen Bärtchen, das Kinn und Lippen umrahmt, ein wenig an Harry Hasler erinnert. Galant überlässt er im Übrigen seiner Partnerin beim Reden den Vortritt.

Sie erzählt ausführlich von ihren gegenwärtigen Sorgen als fahrende Jenische. Selbstverständlich ist das nicht: Die meisten Haustüren auf dem Standplatz Eichrain fielen nämlich schon vor der ersten Frage ins Schloss. Jasmin Wyss kennt das: «Alle hier beklagen sich über die Situation der Fahrenden und sagen, dass wir damit an die Öffentlichkeit müssten. Aber wenn sie dann könnten, ziehen alle den Schwanz ein, und die Einzige, die hier im Eichrain den Mund aufmacht, bin ich.»

Die meisten Fahrenden in der Schweiz leben noch heute, wie die beiden Gastgeber auch, von traditionellen Handwerksberufen: Adam Huser ist Messer- und Scherenschleifer, Jasmin Wyss hausiert mit Textilien, Lebensmitteln und Haushaltswaren, andere betreiben Altmetallhandel oder sind Spengler oder Näherinnen. Voraussetzung für diese Lebensweise sind Stand- und Durchgangsplätze, die den Fahrenden meist von Gemeinden, seltener von Privaten, zur Verfügung gestellt werden. Im Winterhalbjahr belegen die Fahrenden einen festen Standplatz, auf dem sie ihre Wohnwagen stationieren, in kleinen Blockhütten wohnen oder - seltener - wie in Zürich Seebach über feste Häuser verfügen. Das Zürcher Winterquartier wurde vor drei Jahren eröffnet. Hier mieten die fahrenden Jenischen für 500 bis 700 Franken monatlich von der Stadt eine Parzelle und bauen darauf ihre eigenen Häuser. Mithilfe einer Hypothek konnte Jasmin Wyss für ihres 150 000 Franken aufbringen. Wyss’ drei Kinder besuchen im Winter die Schule im Quartier. Hier ist die Familie auch behördlich angemeldet.

Im Sommer dienen Durchgangsplätze als vorübergehende Aufenthaltsorte für höchstens einen Monat. Fahrende ziehen zwischen März und Oktober handelnd und werkend von einem Platz zum nächsten. Fahren würden sie nicht zum Spass, sagt Jasmin Wyss: «Unsere Berufe zwingen uns dazu, ich kann nicht ein ganzes Jahr in Zürich hausieren, auch Adam hat Kunden in der ganzen Schweiz. Deshalb ziehen wir umher.»

Fahrend, aber schweizerisch

Seit Jahren herrscht auf den Stand- und Durchgangsplätzen für Fahrende ein grosses Gedränge. Entsprechend skeptisch beobachten Wyss und Huser, dass zunehmend auch ausländische Jenische, Sinti und Roma, vornehmlich aus Deutschland und Frankreich, die Schweiz befahren. Sie befürchten noch mehr Engpässe auf den Plätzen: «Die Zahl ausländischer Fahrender nimmt zu. Das hat sicher auch mit den offenen Grenzen in Europa zu tun», sagt Adam Huser. Vor allem französische Fahrende hinterliessen öfters verdreckte Durchgangsplätze. Die Öffentlichkeit mache dann die Fahrenden im Kollektiv dafür verantwortlich: «Wenn ausländische Zigeuner hier eine Sauerei hinterlassen, muss man definieren, wer das ist.» Sie scheuten sich nicht vor handwerklicher Konkurrenz aus dem Ausland, sondern befürchteten den Verlust ihrer Kultur: «Wir möchten unsere Kultur als Schweizer Jenische bewahren. Doch wenn jetzt auch noch rumänische und bulgarische Fahrende in grossen Sippen kommen, werden wir noch mehr diskriminiert», sagt Wyss.

Diese Befürchtungen seien nicht gerechtfertigt, sagt der Jurist Urs Glaus: «Zwischen den Engpässen auf Schweizer Durchgangs- und Standplätzen für Fahrende und der Erweiterung der Personenfreizügigkeit besteht nicht der geringste Zusammenhang.» Glaus vertritt die Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende, die vom Bund 1997 gegründet wurde mit dem Ziel, die Infrastruktur für Fahrende in der Schweiz zu verbessern. Die Personenfreizügigkeit regle nur Fragen der Arbeitsmigration. Bulgarische und rumänische StaatsbürgerInnen können schon seit 2004 ohne Visum in die Schweiz einreisen. Im Rahmen der Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien werden bis zum Jahr 2019 Kontingente und Schutzklauseln die Arbeitsmigration massiv beschränken. Zudem ist von den 700 000 bis 2,5 Millionen Roma in Rumänien (die Zahlen schwanken je nach Definition stark, denn nicht alle Roma bezeichnen sich selbst als solche) nur noch ein einziges Prozent fahrend, in Bulgarien leben insgesamt nur 370 000 Roma. «Wir müssen aufpassen, dass hier nicht die eine Minderheit gegen die andere ausgespielt wird. Schwarze Schafe gibts hüben wie drüben», sagt Daniel Huber. Er ist Altmetallhändler, Geschäftsführer und Vizepräsident der Radgenossenschaft, der Dachorganisation der Jenischen in der Schweiz, und hat sein Büro im Dokumentations- und Begegnungszentrum der Radgenossenschaft in Zürich Altstetten. Den Grund für Konflikte zwischen ausländischen und Schweizer Fahrenden sieht Huber etwa im unterschiedlichen Umgang mit der Umwelt, in der Körperpflege, in sozialen Belangen: «Bei den fahrenden Roma beispielsweise haben die Frauen eine andere Stellung als bei uns», sie seien weniger freizügig und lebten eher wie in traditionellen islamischen Gesellschaften. Huber ist überzeugt, dass die Eröffnung zusätzlicher Durchgangs- und Standplätze, die auch den unterschiedlichen Bedürfnissen der verschiedenen fahrenden Gruppen gerecht würden, die Lage entspannen könnte.

Im Jahr 2005 gab es in der Schweiz 12 Standplätze und 44 Durchgangsplätze für Fahrende. Von 30 000 bis 35 000 Jenischen in der Schweiz seien heute 3000 bis 5000 Fahrende, für die auf den Durchgangsplätzen gegen 500 Wagenplätze zur Verfügung stehen - dabei sind die ausländischen Fahrenden, also solche, die nicht am Ort ihres Winterquartiers in der Schweiz behördlich gemeldet sind, nicht mitgerechnet. Auf sechs bis zehn Personen kommt also ein Wagenplatz, das ist auch in lauen Sommernächten und mit Lagerfeuern - eine Tradition, die auf den Durchgangsplätzen im Sommer noch immer hochgehalten wird - schon zu eng. Prekär ist die Situation auch im Winter, obwohl ausländische Fahrende ihr Winterquartier fast ausschliesslich im Ausland beziehen. Huber, übrigens Jasmin Wyss’ Cousin, sagt: «Im Winter leben nur etwa 1000 von uns auf Standplätzen, die anderen 2000 bis 4000 fahrenden Jenischen versuchen allenfalls, in freien Ferienwohnungen unterzukommen. Die sind allerdings im Winter schwer zu finden, deshalb kommen die meisten um das Unterschreiben eines normalen Mietvertrages nicht herum.» Damit sei der erste Schritt in die Sesshaftigkeit getan.

Obwohl im Kanton St. Gallen, in Graubünden und im Aargau Standplatzprojekte lanciert oder bereits realisiert worden sind, hat sich die Situation in den letzten drei Jahren laut Huber nicht grundlegend verbessert. Dabei würde die Schaffung der nötigen zusätzlichen Plätze für Fahrende in der ganzen Schweiz nur gerade zwanzig Hektaren beanspruchen. Schuld am Engpass sei auch eine während langer Zeit verfehlte Raumplanung, sagt Huber: «Für alles hat man in der Schweiz eine Zone erfunden, nur nicht für die Fahrenden!» Stand- und Durchgangsplätze seien die wichtigste Voraussetzung, um die fahrende Lebensweise erhalten zu können: «Ohne Plätze gibts keine jenische Kultur, ohne Kultur aber auch keine Plätze.»

Gehen, wenn die Vögel pfeifen

Fahren sei für Jenische nicht einfach eine materielle Notwendigkeit, widerspricht Huber seiner Cousine Jasmin Wyss, sondern neben der jenischen Sprache die Grundlage der jenischen Identität: «Es ist die Basis für unsere sozialen Beziehungen, dabei pflegen wir unsere Freundschaften. Gehen, wenn die Vögel im Frühling zu pfeifen beginnen», das mache die jenisch-fahrende Lebensweise aus, denn finanziell lohnenswert sei das nicht. Seine Ämter im Dienste der Jenischen halten Huber selber allerdings seit zwei Jahren vom Losziehen ab. Er sitzt nicht nur in der jenischen Dachorganisation Radgenossenschaft, sondern unter anderem auch in der Stiftung Zukunft für Schweizer Fahrende des Bundes: «Weil ich schon überall bin, komme ich gar nicht mehr weg.»

Uschi Waser lebt im Kanton Aargau und führt einen Kinderhort. Obwohl sie eine sesshafte Jenische ist, definiert auch sie das Jenischsein über das Fahren: «Die Freiheit der Jenischen ist die Freiheit zu gehen.» Waser konnte während ihrer Kindheit viele Jahre überhaupt nirgendwo hingehen - und war trotzdem nicht sesshaft: 1953, noch nicht einjährig, wurde sie von den Behörden in ein Heim gebracht. Das geschah im Rahmen der Aktion «Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute, die zwischen 1926 und 1972 im Namen von sesshafter Sitte, Zucht und Ordnung über tausend jenische Kinder aus ihren Familien gerissen hatte. Bis in ihr achtzehntes Lebensjahr wurde sie von einer Anstalt in die nächste verfrachtet.

«Ich mag Raben», sagt Uschi Waser zum SVP-Plakat gegen die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit. Und sie versteht nicht, wieso die Befürworterseite im Abstimmungskampf diese Tiere nicht positiv umdeutet: «Diese Vögel sind mir sympathisch. Ein paar rotzfreche Raben mehr würden der Schweiz in jeder Beziehung guttun.»