Durch den Monat mit Uschi Waser (Teil 3): Warum ist «Fahrende» falsch?

Nr. 46 –

Um zu wissen, was in den Köpfen anderer Leute abgeht, liest Uschi Waser die Onlinekommentare des «Blicks». Und sie hat einen Vorschlag für neue Standplätze für Jenische.

 Uschi Waser draussen unterwegs mit Regenschirm
«Meine Mutter war sesshaft. Sie hatte keinen Wohnwagen, keine Pferde oder Wagen»: Uschi Waser. 

WOZ: Uschi Waser, wie geht die jüngere Generation der Jenischen mit der Geschichte der «Kinder der Landstrasse» um, jene Generation, die die Kindswegnahmen und die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen nur aus Erzählungen der Eltern oder Grosseltern kennt?

Uschi Waser: Die Jungen heutzutage haben allgemein ganz andere Probleme, auch die jenischen … Und was ihr Nichtjenischen nicht wisst, aber wichtig ist: Die Aktion «Kinder der Landstrasse» hat im jenischen Volk eine riesige Schneise hinterlassen. Da sind Familien getrennt worden, die nie mehr zueinandergefunden haben. Da sind Kinder weggekommen, die ihre Eltern später kennengelernt und dann gesagt haben: «Danke schön und tschüss» – und weg waren sie wieder. Jene, die die Akten gelesen haben, wissen auch, wer sie verraten hat: Man hat ja teilweise andere Familien beschuldigt, damit man seine eigene retten konnte. All das weiss man heute, und dementsprechend brodelt es. Ich sage immer: Das jenische Volk ist unheimlich verletzt. Und die Jungen tragen das Leid von uns Eltern mit.

Verstehen die Jungen Ihr Engagement?

Ja. Aber es gibt natürlich auch jene, die sagen: «Jetzt hört endlich mal auf mit euren alten Geschichten. Von dem, was du erzählst, Uschi, bekommen wir keine Standplätze für unsere Wohnwagen.» Und da muss ich sagen: Sie haben recht. Ich setze mich immer für Plätze ein, aber dieser Kampf steht auf einem anderen Blatt.

Sie können auch nicht für alles kämpfen.

Nein, kann ich leider nicht. Aber das Problem mit den fehlenden Standplätzen wäre relativ einfach zu bewältigen. Man könnte etwa im Herbst, wenn alle Schwimmbäder geschlossen werden, die frei werdenden Parkplätze zur Verfügung stellen. Zugang zu Wasser und Elektrizität besteht dort ja schon. So könnte man Plätze schaffen – zumindest für die Winterzeit. Denn sobald es um Geld für neue Standplätze geht, gibt es sofort heftige Diskussionen.

In den Diskussionen rund um die Standplätze tauchen immer wieder rassistische Stereotype auf: Jenische klauen, hinterlassen Dreck, leben auf Kosten des Staates …

Ja, das ist furchtbar. Und ich sage es ganz klar: Das ist der «Neid der Besitzlosen». Denn hey, wenn du für 80 000 Franken einen Wohnwagen inklusive Zugfahrzeug least, hast du ein super Heim. Bau dir mal ein Häuslein für 80 000 Franken. Vor noch nicht allzu langer Zeit gab es einen Text im «Blick» über einen Standplatz. Als ich die Leserkommentare las, war ich erschüttert.

Oh nein, die darf man nie lesen!

Das sagen mir immer alle, aber ich sage: Ich muss die lesen, um zu wissen, was bei den Leuten im Kopf abgeht. Und es ist erschütternd. Absolut erschütternd.

In den Diskussionen rund um Jenische fällt bis heute immer wieder das Wort «Zigeuner». Brauchen Sie selber dieses Wort noch?

Mich selbst nenne ich klar «jenisch». Mit zwölf im 21. Heim in Ibach nannte man mich «Fecker», erst auf meine Nachfrage erfuhr ich, dass das ein abschätziges Wort für «Zigeuner» ist. «Zigeuner» brauche ich nur dann, wenn ich an Veranstaltungen über alle rede – Jenische, Sinti, Roma – und merke, dass die im Saal keine Ahnung haben, was Jenische, Sinti und Roma sind. Das Wort «Zigeuner» kennen alle, auch die Jugendlichen. Ich frage mich manchmal schon, woher sie das Wort haben.

Vor zwei Jahren ist der Roman «Zigeuner» von Isabella Huser erschienen. Sie sagt, ihr Vater, ein Jenischer, habe sich selbst stolz «Zigeuner» genannt. Ausserdem sei «Fahrende» eine falsche Fremdzuschreibung: Die Jenischen seien zu Fuss, auf dem Rad oder mit Pferd und Wagen unterwegs gewesen – gefahren seien die wenigsten.

Ja, sie hat völlig recht. Wissen Sie, was mir die Journalistinnen und Journalisten jeweils antworten, wenn ich sage, ich will das Wort «Fahrende» nicht lesen? Sie sagen: «Aber wissen Sie, Frau Waser, dieses Wort kennen alle.» Aber das Wort ist eben nicht richtig.

Nur rund zehn Prozent der 30 000 Jenischen in der Schweiz sind fahrend unterwegs, die anderen neunzig Prozent leben sesshaft. Ist das Wort «Fahrende» auch deshalb falsch?

Ja. Meine Mutter war auch sesshaft. Sie hatte keinen Wohnwagen, keine Pferde oder Wagen – wie einige der Jenischen, denen die Kinder von Pro Juventute weggenommen wurden. Klar, dass die Aktion «Kinder der Landstrasse» überhaupt starten konnte, hatte mit den nichtsesshaften Jenischen zu tun. Man wollte sie zu Sesshaften umerziehen. Und nochmals: Ich sage, der Grund war schon damals der Neid, denn die Freiheit, so unterwegs zu sein, wie sie wollen, weiterzuziehen, wann immer sie wollen, war das, was diese Jenischen besassen und die Sesshaften nicht. Darum der Neid. Dass die Sehnsucht nach dem Unterwegssein noch heute bei vielen Sesshaften da ist, zeigt sich ja auch im Sommer auf unseren Campingplätzen.

Von 1926 bis 1973 nahm die von Pro Juventute gegründete Stiftung «Kinder der Landstrasse» rund 600 jenische Kinder ihren Eltern weg. Uschi Waser (71) war eines von ihnen. Heute lebt sie im Aargau. Einen Wohnwagen hatte sie nie.

Das Buch «Zigeuner» von Isabella Huser ist 2021 im Bilgerverlag erschienen.