SP-Parteiprogramm : Vom Elend der Praxis
Die SP diskutiert gegenwärtig ein neues Programm, das einem Parteitag Ende Oktober zur Abstimmung vorgelegt wird. Hätte die SP nicht Dringlicheres zu tun?
Parteiprogramme dienen der internen Selbstverständigung, aber sie sollen auch nach aussen wirken und die politische Arbeit anleiten, um mehr Mitglieder und mehr Macht zu gewinnen. Bislang ist die interne Diskussion über den Entwurf überraschend lebhaft verlaufen, die externe nach ersten ignoranten bis hämischen Kommentaren ausgeblieben.
Das gegenwärtig gültige Programm von 1982 war von Enthusiasmus getragen, und es stellte ein Konzept in den Mittelpunkt: die Selbstverwaltung. Die ist aus der aktuellen Debatte gefallen. Der neue Entwurf versucht immerhin, mit dem Begriff der Wirtschaftsdemokratie daran anzuknüpfen. Aber über weite Strecken argumentiert er aus der Defensive. Verständlich: Seit 1982 haben sich die Verhältnisse radikal verändert. Insgesamt nicht zu Gunsten der SP.
Deshalb stellt sich eine einfache Frage: Kann das neue Programm der SP eine Antwort auf die gesellschaftlichen Umbrüche der letzten dreissig Jahre geben? Kann dies zumindest die bisherige Debatte?
Die war bisher von zwei Gegensätzen geprägt. Theorie versus Praxis. Und Radikalität versus Realismus.
Bezüglich des ersten Gegensatzes wird die Forderung laut, die Theoriedebatte sei endlich abzuschliessen, und es sei zur wichtigeren politischen Praxis überzugehen. Theorie wird in dieser Sichtweise reduziert: auf die akademische Betrachtung aus dem Elfenbeinturm, auf des Gedankens Blässe, von der das Handeln angekränkelt wird. Das ist ein Missverständnis. Jeder Mensch denkt, bevor er handelt. Ja, jeder Mensch hat eine Lebensphilosophie. Sie mag einfach, unvollständig, widersprüchlich sein, aber Politik muss deren Existenz anerkennen und damit umgehen können. Dazu ist ein theoretisches Verständnis dafür nötig, was da abläuft. Dann muss Politik daran anknüpfen können. Die SP hat in dieser Hinsicht in letzter Zeit viel Boden preisgegeben. Theorie-, Bildungs- und Medienarbeit sind reduziert oder ganz aufgegeben worden.
Der zweite Gegensatz ist derjenige von Realismus versus Radikalität. Er begleitet jede innerlinke Diskussion. In der veröffentlichten Meinung hat kleinere Wellen geschlagen, dass die Rede von der «Überwindung des Kapitalismus» aus dem ersten Programmentwurf in der zweiten Fassung aufgegeben wurde. Sie war von rechts als zu radikal und von links als zu unbestimmt verworfen worden. Aber das ist ein Nebenschauplatz. Die SP braucht keine Worthülsen, sie braucht positive Konzepte. Die Betonung der Wirtschaftsdemokratie ist ein richtiger Ansatz. Er muss weiterentwickelt werden.
Radikalität braucht es zuerst einmal in der Selbsteinschätzung. Paul Rechsteiner, Präsident des Gewerkschaftsbundes, hat sich kürzlich an einer Podiumsdiskussion dagegen verwahrt, die Abstimmungsniederlage bei der Arbeitslosenversicherung als Schlappe für die Linke zu sehen, denn 47 Prozent Ja-Stimmen seien durchaus ein Erfolg. Das ist allzu genügsam realistisch gedacht, da geht die Analyse der eigenen Schwächen nicht genügend weit. Das gilt auch für die kommende Abstimmung zur Ausschaffungsinitiative, bei der Teile der SP ein Ja zum Gegenvorschlag empfehlen, weil er das «kleinere Übel» sei. Dieser «Realismus» entspringt einem falschen Verständnis davon, wo und wie die SP um die viel beschworene Deutungshoheit kämpfen soll.
1:12-Initiative und Steuergerechtigkeitsinitiative: schön und gut. Aber die Macht des herrschenden Denkens wird damit nicht gebrochen. Warum glaubt trotz Finanzmarktkrise weiterhin eine Mehrheit, mit diesem System sei der individuelle soziale Aufstieg erstrebenswert und möglich? Darüber braucht es eine Grundsatzdiskussion, die Solidarität als Grundwert rekonstruiert und mit individuellen Bedürfnissen verbindet.
Radikalität besteht darin, eine Analyse zu entwickeln, die das Entstehen von Denkformen erklärt und zeigt, wie daraus Haltungen werden und daraus wiederum Handeln. Dann kann und muss von der Theorie zur Praxis geschritten werden.