Das neue SP-Programm: «Die rote Seele braucht das»
Der Verfasser des Programmentwurfs und ehemalige SP-Präsident Hans-Jürg Fehr spricht mit der WOZ über Wahlniederlagen, Wirtschaftsdemokratie und die künftige Ausrichtung der Partei.
WOZ: Herr Fehr, die SP verliert Wahl um Wahl, zuletzt vor zwei Wochen im Kanton Bern. Was macht Ihre Partei falsch?
Hans-Jürg Fehr: Man könnte jetzt sagen, die Verluste seien auf personelle oder programmatische Gründe zurückzuführen. Aber die eigentliche Frage ist doch: An wen verlieren wir? Nicht an die Grünliberalen, nicht an die Rechten, sondern an die Grünen. Haben die also ein attraktiveres Spitzenpersonal? Ein besseres Programm? Ich glaube nicht. Wir verlieren nicht, weil die Grünen anders sind als wir, sondern weil sie ähnlich sind.
Warum wählen die Leute dann Grün – und nicht Rot?
Für die Minderheit, die zu den Grünen wandert, steht das Ökologische an erster Stelle, aber sie sieht nicht, dass die SP realpolitisch ebenso grün politisiert wie die Grünen. Die Grünen haben den Vorteil, dass Grün en vogue ist. Darum ist die Abwanderung eher ein innerfamiliäres Problem. Insgesamt hat Rot-Grün in den vergangenen zwanzig Jahren zugelegt. Aber die SP verliert, das ist unbestritten.
SP-Ständerätin Simonetta Sommaruga hat letzte Woche in einem Interview gesagt, die SP habe in den letzten zehn Jahren wichtige Entwicklungen verschlafen ...
Ich kann diese Kritik nicht teilen. Simonetta Sommaruga hat die Ökologie angesprochen. Genau hier stimmt der Vorwurf nicht. Die SP – inklusive ihr dafür zuständiger Bundesrat – steht seit fünfzehn Jahren für eine grüne Verkehrspolitik. Wir haben die Ökofrage sehr früh erkannt und zu einem Teil sozialdemokratischer Politik gemacht. Der Hauptgrund, warum wir uns diesen Vorwurf eingehandelt haben, ist die Ausländerfrage ...
... und wegen anderer gesellschaftspolitischer Themen ...
Kriminalität, Ausländer, Jugendgewalt, ja. Aber das erklärt nicht, warum wir an die Grünen verlieren. In diesen Bereichen agieren die Grünen nicht viel anders als wir und bestimmt nicht repressiver.
Diese Fragen haben die SP verunsichert ...
... und die sich fortsetzenden Wahlniederlagen. Da fragt man sich: Warum verliert die SP ständig? Ich glaube, es gibt nicht einfach den einen Mangel, wie ihn Frau Sommaruga diagnostiziert hat, aber es gibt eine gewisse Ratlosigkeit in der Analyse.
Allerdings kann man uns – wohl zu Recht – vorwerfen, dass wir zu lange auf gewisse Entwicklungen nicht adäquat eingegangen sind und uns so den Vorwurf der Verharmlosung eingehandelt haben. Wir haben uns zu wenig darum gekümmert, was real an der Basis abgeht und was die Rechte politisch daraus machen kann.
Welche Rolle spielen dabei die Medien? Die SP ist im Gegensatz zu früher kaum noch präsent. Und wenn, dann wird sie heftig kritisiert.
Ich stelle diesen Wandel auch fest, besonders beim «Tages-Anzeiger». Die Ausrichtung, die personelle Besetzung der Redaktion, die Themenwahl, die Kommentare – da konnte die SP-Wählerschaft früher zu Recht immer sagen: Das ist unsere Zeitung. Aber der «Tagi» hat einen vom Konzern angeordneten fundamentalen Kurswechsel vollzogen. Der «Tagi» ist keine linksliberale Zeitung mehr. Er hat auf eine dezidiert antisozialdemokratische Position gewechselt.
Ein immer wieder vorgebrachter Vorwurf lautet: Die SP hat kluge Köpfe, aber sie hat sich von der Bevölkerung entfernt ...
Wenn man uns vorwerfen kann, dass wir in einem Einfamilienhaus leben, dann gilt das doch viel mehr für die Rechten, die in ihrer Villa in Herrliberg wohnen oder auf dem Bauernhof im Toggenburg. Wir haben wesentlich mehr Kontakt zur Bevölkerung als diese Herren. Gerade deshalb sehen wir etwa gewalttätige Jugendliche nicht einfach als Brutalos, sondern erkennen ihre reale Rolle als Underdogs. Aber wenn man differenziert, ist man in dieser Diskussion schnell abgemeldet. Das ist unser Dilemma.
Andererseits: Was hätten wir anders machen sollen? Auch auf die Sündenböcke einprügeln? Auch nach Ausschaffungen rufen? Nein. Die sozialdemokratische Antwort – auch wenn uns das politisch grosse Schwierigkeiten bereitet – muss lauten: Wir sehen die Probleme, und wir wollen sie lösen, indem wir die Ursachen bekämpfen.
Hat die SP weggeschaut?
Wir waren zu lange in einer defensiven Haltung. Wir haben es jahrelang zugelassen, dass das Thema Sozialstaat unter dem Vorzeichen des Missbrauchs diskutiert wurde – wegen einiger weniger Fälle im einstelligen Prozentbereich.
War das falsch?
Ich finde es bis heute richtig, dass wir uns dem Missbrauchsdiskurs verweigert haben. Aber wir hätten uns dem Thema auf eine offensivere Art stellen müssen. Dann hätten wir uns vielleicht weniger dem Vorwurf ausgesetzt, die Lage zu bagatellisieren. Aber deswegen müssen wir uns jetzt nicht in eine nationalistisch-konservative Ecke drängen lassen. Im Gegenteil.
Man muss den Mut zum Verlust haben, wenn man zu seinen Überzeugungen stehen will?
Die Verluste sind zu gravierend, als dass wir sie ignorieren könnten. Wir müssen selbstkritisch sein, aber nicht unsere Grundsätze über Bord werfen. Die sind ja nicht einfach vom Himmel gefallen, und wir passen sie mal so, mal so an wie CVP-Präsident Christophe Darbellay. Aber es gibt die Verunsicherung: Was machen wir falsch?
Wo führt die Antwort hin? In die Mitte?
Ganz klar nein. Die SP darf sich den Platz als linke Volkspartei nicht wegnehmen lassen. Ich sehe dazu keine Notwendigkeit. Unser Platz ist gesetzt. Die Frage ist: Womit füllen wir ihn?
Sie haben für die Partei ein neues Programm verfasst. Wird das die SP aus ihrem Tief holen?
Das Parteiprogramm von 1982 ist veraltet. Zu dieser Zeit existierte noch die Sowjetunion, es gab keine Computer. Das alte Programm ist unbrauchbar für die heutige Zeit. Parteiprogramme sind auf längere Sicht angelegt. Wir dürfen darauf nicht zu viel kurzfristige Hoffnungen setzen.
Im neuen Programm setzt die SP auf Freiheit, Grundrechte, Wirtschaftsdemokratie. Sie knüpft an die Französische Revolution an. Wird die SP zu einer linken FDP?
Nein. Die bürgerliche Freiheitsauffassung ist auf halbem Weg stehen geblieben. Sie hat die Freiheit des Menschen in die Welt gesetzt, die Grundrechte, die Menschenrechte. Das ist ein historisches Erbe, das wir vorbehaltlos verteidigen. Aber das sind schon alle Gemeinsamkeiten. Die bürgerliche Freiheit ist vor allem eine Eigentümerfreiheit. Die Sozialdemokratie aber sagt: Der Eigentümerbürger reicht nicht. Alle Freiheiten sind für alle – auch die wirtschaftlichen.
Viel Neues ist im neuen Parteiprogramm nicht zu erkennen.
Doch, einiges. Das ganze Kapitel Wirtschaftsdemokratie zum Beispiel. Andererseits sind wir keine Partei, die sich von Generation zu Generation völlig neu erfindet. Wir wurzeln in einer langen Tradition. Trotzdem haben wir uns immer mit dem gesellschaftlichen Wandel mitbewegt und ihn mitgestaltet.
Das Programm betont den Internationalismus.
Ja, wir wollen den nationalstaatlichen Blickwinkel aufmachen. Natürlich bleibt der Nationalstaat ein wichtiger politischer Handlungsraum. Aber darüber hinaus muss die SP angesichts der Globalisierung und der Europäisierung ihrer internationalistischen Tradition folgen. Die Grenzen des eigenstaatlichen Handelns werden immer deutlicher. Darum sind wir ja für den EU-Beitritt und für die Mitarbeit in internationalen Organisationen.
«Wirtschaftsdemokratie» ist der zentrale Begriff im neuen Programm.
Die Wirtschaftsmacht gehört in die Hände der Mehrheit, also der Arbeitnehmenden. Das bedeutet Wirtschaftsdemokratie. Wir versuchen im Programm generell, wirtschaftsdemokratische Wurzeln freizulegen und Fährten in die Zukunft zu legen.
Die SP hat nun die lange geforderte «Überwindung des Kapitalismus» durch den Begriff Wirtschaftsdemokratie ersetzt. Hat sie den Kapitalismus lieb gewonnen?
Selbstverständlich nicht, aber die «Überwindung des Kapitalismus» muss mehr sein als eine Floskel. Der Begriff Wirtschaftsdemokratie bildet die Grundlage für politische Projekte, die in der Realpolitik umgesetzt werden können. In den vergangenen dreissig Jahren haben wir diesen Aspekt vernachlässigt. Seit den siebziger Jahren war Wirtschaftsdemokratie kein Thema mehr.
Schauen wir die Pensionskassen an: Seit ihrer Entstehung hat es nie ein wirklich linkes Projekt gegeben, um aus dieser ungeheuren Kapitalmacht einen Hebel in den Händen des Volkes zu machen. Wir müssen in diesen Fragen wieder offensiver werden. Die rote Seele braucht den Blick in eine Zukunft, die nicht kapitalistisch ist.
Die SP sieht sich als Verteidigerin der Grundrechte. Wie geht das mit Forderungen nach Red-Bull-, Burka- und Killergame-Verboten oder Videoüberwachung zusammen? Ist die SP eine Verbotspartei?
Mit Sicherheit nicht. Die SP ist ganz entschieden eine freiheitliche Partei. Nicht alles, was ein SP-Mitglied sagt, darf man mit der Haltung der Partei gleichsetzen. Es gibt Ausreisser, die müssen in einer Volkspartei möglich sein. Für ein Burkaverbot hat sich ein einzelnes Mitglied der SP-Frauen ausgesprochen. Die Red-Bull-Geschichte inszenierte ein einzelner SP-Mann und sonst gar niemand weit und breit.
Politik und Gesellschaft reagieren auf Probleme zunehmend mit Repression. Wehrt sich die SP radikal genug gegen die Aushöhlung von Grundrechten?
Absolut. Eine Partei wie die SP muss sich aber auch das Recht vorbehalten, für Freiheitsbeschränkungen einzutreten, wenn es um die Freiheiten anderer geht. Ich wundere mich manchmal darüber, was sich die Leute bei der Videoüberwachung im privaten Raum gefallen lassen, etwa in Einkaufszentren. Kaum installiert die SBB Videokameras, ist das gleich eine unzumutbare Freiheitsbeschränkung. Das halte ich für bigott. Muss sich die SBB widerstandslos ihre Vorortsbahnen zertrümmern lassen?
Die Frage ist doch vielmehr, wie man die tatsächlichen Ereignisse darstellt und was man daraus ableitet.
Man muss genau hinschauen und die wahren Dimensionen der Ereignisse erkennen. Sonst kriecht man Problemaufblähern auf den Leim, die ganz andere Absichten als die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit verfolgen. Aber die öffentliche Sicherheit ist ohne Zweifel ein schützenswertes Gut, das die SP verteidigt, wie sie die Grundrechte verteidigt.
Das neue SP-Programm
Am Mittwoch dieser Woche hat die SP den Entwurf ihres neuen Parteiprogramms vorgestellt. Verfasser des Entwurfs ist der Schaffhauser Hans-Jürg Fehr (61), der bis 2008 Präsident der SP Schweiz war.
Das neue Programm, das in den vergangenen sechs Jahren ausgearbeitet wurde, ersetzt das Luganeser Programm von 1982. Die zentralen Punkte sind: Freiheit, Grundrechte, soziale Gerechtigkeit – und Wirtschaftsdemokratie. Vor allem Letzterem misst die SP grosse Bedeutung zu. Der Begriff «Wirtschaftsdemokratie» ersetzt quasi die alte Formulierung der «Überwindung des Kapitalismus». Die SP will den Service public stärken, das Genossenschaftswesen ausbauen und sich für mehr Mitbestimmung der Angestellten in den Betrieben einsetzen. Zudem spricht sich die SP in ihrem Programm für das Stimm- und Wahlrecht für AusländerInnen aus und für die Einführung einer allgemeinen Erwerbsversicherung anstelle verschiedener Sozialversicherungen (IV, AHV, ALV).
Der vorgestellte Entwurf ist der Vorschlag der Geschäftsleitung. Die endgültige Version soll am 31. Oktober am Parteitag in Lausanne verabschiedet werden.