Wirtschaftsdemokratie: Muss die SP in den Untergrund?

Nr. 29 –

Vor drei Jahren hielt die SP in ihrem neuen Parteiprogramm an der Überwindung des Kapitalismus fest – hilft ihr die EU auf dem Weg zum Ziel – oder doch eher die Strasse?

Müsste man Europas Geschichte auf eine Frage reduzieren, um die sie sich gedreht hat, so wäre es diese: Wer ist der Souverän? Von wo aus wird regiert? Bis zur Französischen Revolution 1789 war es der König. Seither steckt der Kontinent in einem Patt: BürgerInnen und Kapital teilen sich die Macht. Seit der Finanzkrise spitzt sich der Streit um diese Frage jedoch erneut zu. Auch in der Schweiz.

Das Kapital als Souverän, das war die Idee des Wirtschaftsliberalismus, der ab 1848 auf dem Kontinent die Industrialisierung begleitete. Die Kapitalbesitzer sollten auf freien Märkten investieren und damit gleichzeitig die Welt regieren: Menschen zu Arbeitskräften machen, den Reichtum verteilen, neue Metropolen aus dem Boden stampfen. Ende des Jahrhunderts traten jedoch die BürgerInnen auf den Plan. Die Wirtschaftselite wollte das Parlament nur für sich, nun begann jedoch die aufstrebende ArbeiterInnenbewegung das allgemeine Wahlrecht zu fordern. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die Demokratie die Oberhand, um in den siebziger Jahren mit der Wiedergeburt des Wirtschaftsliberalismus zurückgedrängt zu werden. Die Entwicklung kulminierte in der aktuellen Schuldenkrise, in der das Kapital den Staaten durch Zinsaufschläge die Zerlegung des Sozialstaats diktiert.

Seit der Finanzkrise 2008 ist die Zukunft jedoch wieder offen. Nachdem auch die SP Schweiz in den neunziger Jahren dem «dritten Weg» des britischen Premiers Tony Blair gefolgt war, rang sie sich 2010 dazu durch, in ihrem neuen Parteiprogramm weiterhin die Überwindung des Kapitalismus zu fordern. Die Alternative? Wirtschaftsdemokratie. Fritz Naphtali, Journalist, Gewerkschafter und späterer israelischer Minister, hatte 1928 im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbunds ein gleichnamiges Buch publiziert. Die Idee: Bürger und Arbeiterinnen sollten das Kapital endgültig unter ihre Obhut bringen.

Kürzlich hat die SP an einer Tagung im Volkshaus Zürich gemeinsam mit der Denkfabrik der europäischen SozialdemokratInnen, der Foundation for European Progressive Studies, über Wirtschaftsdemokratie debattiert.

Demokratie? Ja, aber …

In ihrem Parteiprogramm fordert die SP, dass der Staat in die Freiheit des Kapitals eingreifen soll. Mit dem Ziel, den Reichtum unter den Menschen besser zu verteilen. Unter anderem sollen einzelne Betriebe verstaatlicht, der Service public gestärkt und gewisse Märkte strenger reguliert werden – an der Tagung war unter anderem vom Finanzplatz, dem Wohnungsmarkt und dem Boden die Rede. In dieselbe Richtung zielen auch aktuelle Volksinitiativen, die die SP mitträgt: die 1:12-Initiative, die Initiativen für eine Erbschaftssteuer, einen Mindestlohn, die Stärkung der AHV, eine Einheitskrankenkasse und gegen die Nahrungsmittelspekulation.

Der Eingriff des Staates in die Freiheit des Kapitals hat mit Demokratie jedoch erst einmal wenig zu tun. Demokratisch ist der Eingriff dann, wenn der Entscheid bei den BürgerInnen liegt.

Doch haben die BürgerInnen nicht bereits heute das letzte Wort? Wäre es nicht möglich, die von der SP geforderten Staatseingriffe schon morgen zu verwirklichen? Durch Abstimmungen und Wahlen? Fragt sich: Warum ist das bis heute nicht geschehen? Eine mögliche Antwort ist: weil die Mehrheit es nicht will. Wie ein König seinen Ministern überlassen sie das Regieren dem Kapital. Demokratie führt nicht zwingend in den Sozialismus. Dass ein Teil der Linken im 20. Jahrhundert dies nicht akzeptieren wollte, war der Grund, weshalb dieser im Autoritarismus endete: Die Parteiführung der russischen SozialdemokratInnen um Lenin hatte bereits auf ihrem Kongress von 1903 verkündet, dass nach der Revolution die demokratische Versammlung nur so lange toleriert würde, wie sie dem Marxismus folge. Ansonsten würde sie aufgelöst.

Mit einem klaren Bekenntnis zur Demokratie tut sich die Linke bis heute schwer: Heinz-J. Bontrup, Gastreferent und Wirtschaftsprofessor an der Westfälischen Hochschule, enervierte sich über die Abstimmung in Hessen, wo die Bevölkerung mit 77 Prozent Ja-Stimmen eine Schuldenbremse für den Staatshaushalt beschloss. «Eine Katastrophe!» Was, so Bontrup, sei also nun von der direkten Demokratie zu halten? «Ja, aber …»

Den Staat demokratisieren

Eine zweite mögliche Antwort ist: Die BürgerInnen haben die Wahl lediglich formal. Das Dilemma: Während die Demokratien nur bis an die jeweilige Nationalstaatsgrenze reichen, sind Europa und die Welt insgesamt seit den siebziger Jahren zu einem grossen Binnenmarkt geworden – Arbeitskräfte, Güter, Dienstleistungen und insbesondere das Kapital jagen frei um den Globus. Heinz-J. Bontrup: «Damit kann das Kapital die Staaten erpressen. Es sagt dem Parlament: ‹Lehnst du meine Wünsche ab, so geh ich.›» Dadurch gingen Staatseinnahmen und Arbeitsplätze verloren, also würden die Wünsche erfüllt: niedrigere Steuern, tiefere Löhne, flexiblere Arbeitsmärkte.

Die Entmachtung des demokratischen Nationalstaats geschah allerdings nicht aus Versehen: Das war der Plan der europäischen Elite.

Um den europäischen Binnenmarkt unter demokratische Kontrolle zu bringen, brauche es ein grosses Staatsgebilde, das diesen umspannt, so Michael Krätke, Gastreferent, Wirtschaftsprofessor an der Universität Lancaster und WOZ-Autor. Kurz: die EU. Das Argument hat innerhalb der SP derzeit jedoch einen schweren Stand, wie SP-Nationalrätin Jacqueline Badran mit ihrer Schelte gegen die «ultraneoliberale Bastion EU» bewies.

Tatsächlich steht die EU exemplarisch für ein weiteres Problem: Das Kapital kann nicht nur mit dem Wegzug drohen, sondern auch den Staat belagern: Den rund 20 000 EU-BeamtInnen in Brüssel stehen heute etwa gleich viele LobbyistInnen gegenüber, die sich in den gläsernen Hochhäusern niedergelassen haben, die sich im EU-Quartier um die Verwaltungsgebäude drängen. Hier liegt eine dritte mögliche Antwort: Der Staat gehört auch dem Kapital, nicht nur den BürgerInnen. Alex Demirovic, Gastreferent und Dozent für Sozialwissenschaften: «Es ist wie im alten Griechenland: Die Reichen herrschen, die Armen dürfen mitbestimmen.»

Und trotzdem: Eine Alternative zur EU hielt auch im Volkshaus Zürich niemand von den GenossInnen bereit.

Die vierte mögliche Antwort lautet schliesslich: Und selbst auf dem Papier ist die Mitbestimmung der BürgerInnen äusserst beschränkt. Das EU-Parlament ist so schwach wie die Aufmerksamkeit, die ihm von den Medien zukommt. Und auch in den repräsentativen Demokratien der Nationalstaaten beschränkt sich die Mitsprache darauf, alle paar Jahre einen Zettel mit KandidatInnen in die Urne zu werfen. Alex Demirovic zog jedoch auch die direkte Demokratie der Schweiz in Zweifel: «Ein direktdemokratischer Entscheid ist nicht immer Ausdruck des Volkswillens.»

Wie sonst, so Demirovic, sei zu erklären, dass sich die Schweizer StimmbürgerInnen an der Urne in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt gegen die Mieterinteressen ausgesprochen hätten, obwohl die Mehrheit von ihnen in Mietwohnungen lebe?

Auch in der direkten Demokratie beschränke sich die Wahl der StimmbürgerInnen auf ein Ja oder Nein zu einer Vorlage, zu deren Entstehung man nichts beitragen könne. Hinzu kämen Fragen wie: Auf welcher Seite liegt das Geld? Wie viel Einfluss hat es? Wie rational sind die Entscheide am Ende? Haben BürgerInnen genug Zeit, um sich zu informieren und über Themen nachzudenken? Zu ergänzen wäre: Was für Schulen braucht es, damit die BürgerInnen dazu überhaupt imstande sind? Was für Medien? Was für Parteien?

Diese Fragen wurden lediglich gestreift. Die SP tut sich mit demokratischer Partizipation ohnehin schwer. Unter Präsident Christian Levrat kopiert die Partei zunehmend das vermeintliche Erfolgsrezept der SVP: Die Parteispitze heckt in Hinterzimmern Pläne aus, die sie vor Abstimmungen und Wahlen der Masse medienwirksam zu verkaufen versucht. Am Rand der Tagung wurde verschiedentlich Unmut über das laufende Prozedere geäussert, mit dem die SP ihr nächstes Initiativprojekt festlegen will. Es wurde basisdemokratisch inszeniert, doch nur Eingeweihte hatten die Gelegenheit, Projekte einzureichen. Und wer am Ende entscheidet, ist ungewiss.

Alex Demirovics Kritik an die Adresse der SozialdemokratInnen: Die SP denke in ihrem Parteiprogramm viel über Staatseingriffe und wenig über demokratische Beteiligung nach.

Angesichts all dieser Stolpersteine: Führt die Demokratisierung der Wirtschaft überhaupt über den Staat? Nicht unbedingt. Unter Wirtschaftsdemokratie wird von jeher nicht nur die Kontrolle des Kapitals durch die BürgerInnen verstanden, sondern auch durch die ArbeiterInnen: die Demokratisierung des einzelnen Betriebs. Die SP schlägt in ihrem Parteiprogramm vor, Genossenschaften zu fördern, in denen statt die AktionärInnen die Arbeiterschaft das Sagen hat. Oder, in Betrieben die Mitbestimmung der Angestellten einzuführen.

Jenseits des Staates

Hier setzt eine anarchistische Linke an, die im Staat und den Parteien ohnehin tendenziell nur Handlanger der Kapitalinteressen sieht. Friederike Habermann, Gastreferentin und Wirtschaftsautorin, brachte ihre Position wie folgt auf den Punkt: «Realpolitik ist Illusionspolitik.» Echte Wirtschaftsbasisdemokratie entstehe von unten, indem sich Menschen zusammentäten; sich durch Proteste die Kontrolle über Energie, Wasser oder Ernährung zurückeroberten und als Genossenschaften die Produktion in die eigenen Hände nähmen. Angesichts der weltweiten BürgerInnenproteste, die sich rund um selbstverwaltete Zeltlager in Stadtparks kristallisieren, scheint Habermann den Zeitgeist hinter sich zu haben.

Am Ende dieses Weges, so Habermann, stehe eine Welt ohne wirtschaftliche Konkurrenz: «Wir müssen uns überlegen, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. In einer Gesellschaft, in der sich alle gegenseitig konkurrenzieren, oder in einer, in der jene, die etwas haben, den anderen geben?» In der «Halblegalität» von unten durch Protest an dieser zweiten Gesellschaft zu bauen, das sei heute die eigentliche Realpolitik. – Das war unter anderem Habermanns Antwort auf SP-Nationalrat Cédric Wermuth, der wissen wollte, was er als Parlamentarier ganz konkret tun könne.

Der Umbau des Kapitalismus in eine Wirtschaftsdemokratie gleiche jenem eines Schiffs auf offener See, meinte ein Redner. Doch die offene See ist nur eines der Probleme: Noch ist unklar, wie das Schiff am Ende aussehen soll, wie viel die Besatzung dazu zu sagen hat – und ob sie überhaupt ein neues Schiff will.

Aus dem SP-Programm

Zur Frage der Wirtschaftsdemokratie hält die SP in ihrem Parteiprogramm von 2010, das jenes von 1982 abgelöst hat, Folgendes fest: «Die SP Schweiz war und ist eine Partei, die den Kapitalismus nicht als Ende und schon gar nicht als Vollendung der Geschichte akzeptieren will. Sie hat immer eine Wirtschaftsordnung ins Auge gefasst, die über den Kapitalismus hinausgeht und diesen durch die Demokratisierung der Wirtschaft letztlich überwindet.»