Alternative Wirtschaftspolitik: Wachstum beruht auf Pump
Schulden machen, um Schulden zu tilgen: Kann das gut gehen? Ein geraffter Auszug aus dem Buch «Schluss mit dem Wachstumswahn», das soeben erschienen ist.
Eine Milliarde zählt neun Nullen. Allein im Krisenjahr 2009 verschuldeten sich die EU-Staaten, die USA und Japan zusammen mit zusätzlich 2100 Milliarden Euro. Die Gesamtschuld dieser grössten Industrieländer erreichte Ende 2009 die kaum vorstellbare Summe von 24 000 Milliarden oder 24 Billionen Euro. Das entspricht annähernd hundert Prozent ihrer Bruttoinlandsprodukte.
Mit andern Worten: Die Menschen in Europa, den USA und Japan müssten ein Jahr lang ohne Einkommen arbeiten, um ihre Staatsschulden abzutragen. Das ist der Durchschnittswert. Prozentual am stärksten verschuldet ist Japan, während absolut gesehen die USA mit 8,2 Billionen Euro die höchsten Schulden verbuchen. Den wachsenden Schulden der Staaten stehen zwar noch grössere Privatvermögen gegenüber. Doch diese Vermögen, die sich 2009 weltweit auf annähernd 80 Billionen Franken summierten, sind höchst ungleich verteilt: 10 Prozent der Weltbevölkerung besitzen mehr als 85 Prozent.
Wachstum als Scheinblüte
Wenn ein Staat heute die Wirtschaft mit zusätzlichen Schulden ankurbelt, ermöglicht er ein vorgezogenes Wachstum auf Kosten der Zukunft. Also Wachstum auf Pump: «Es kann doch niemandem entgangen sein, dass ein erheblicher Teil des Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahrzehnte nur eine Art Scheinblüte war, die erst durch die finanzkapitalistische Verschuldungsorgie möglich wurde», konstatierte der deutsche Volkswirtschaftsprofessor Karl Georg Zinn im Juli 2009 in «Le Monde diplomatique». Mit andern Worten: Ohne die massive Verschuldung wäre das Wirtschaftswachstum in den westlichen Industriestaaten schon früher gebremst worden oder vielerorts ganz zum Erliegen gekommen.
Doch das Pumpwachstum stösst an seine Grenzen. Griechenland ist nur das erste Opfer der Schuldenwirtschaft. Es ist wohl das letzte Mal, dass man eine grosse Depression verhindern konnte, indem man mit einer Billionenspritze die Wirtschaft stützte und damit den Konsum in Gang hielt. Die Finanzkrise hinterlässt eine derartig astronomische Last, dass zusätzliche Schulden zum ersten Mal zu riskant sind, um den «Wachstumsmotor» anzukurbeln.
Das keynesianische Rezept, wonach der Staat in schlechten Zeiten den Konsum und damit die Wirtschaft mit Geldspritzen stützen muss, hat ausgedient, weil es die meisten Staaten vor der Krise nicht befolgten. In guten Jahren wurde das Geld für schlechte Zeiten nicht gespart. Heute sind die Kassen leer.
Doppelte Absturzgefahr
Die Regierungen balancieren heute auf einem schmalen Grat. Links besteht Absturzgefahr, weil die Schulden drücken. Rechts droht das Wachstum der Wirtschaft abzustürzen. Um die Schulden abzubauen, wäre ein drastischer Sparkurs mit höheren Steuern, steigenden Zinsen und einem Abbau von Subventionen angezeigt. Doch dieser Kurs bremst oder stoppt das Wachstum. Und niemand will wahrhaben, dass das Rezept Wachstum als Mittel des Krisenmanagements in die Mottenkiste des letzten Jahrhunderts gehört. Denn es funktioniert schon seit zwanzig Jahren nicht mehr. Der Volkswirtschaftler Karl Georg Zinn bringt diese «triviale Feststellung» auf den Punkt: «Unbegrenztes Wirtschaftswachstum ist unmöglich. Dennoch steht Wachstum nach wie vor auf der wirtschaftspolitischen Agenda aller Regierungen.»
Eine Umkehr tut not. Der Zeitpunkt dazu wäre günstig. Mit der Wirtschaftspolitik müsste man Neuland betreten. Die Industrieländer könnten die Chance packen, ihre Arbeitslosigkeit anders als mit Wirtschaftswachstum zu verringern und die Sozialversicherungen ohne Wachstum zu sanieren. Aber nirgendwo erproben die Regierungen neue Wege. Stattdessen kurbeln sie das Wachstum auch nach dem Krisenjahr 2009 mit neuen Konjunkturprogrammen und zusätzlicher Verschuldung weiter an. Auch die WirtschaftsprofessorInnen stecken ihre Köpfe in den Sand. An Schweizer Universitäten erforscht und erarbeitet niemand Alternativen zur Wachstumspolitik oder Auswege aus dem Wachstumszwang. Fast alle halten an wachstumsorientierten Lehrbüchern fest, die vor fünfzig Jahren noch ihre Berechtigung hatten, heute aber in die Sackgasse führen.
Subventionen für den Leerlauf
Wesentlich zur Staatsverschuldung tragen Subventionen bei. Ausserdem verfälschen sie den Wettbewerb. Viele dieser Stützungsmassnahmen haben Branchenlobbys erfunden, um den Absatz ihrer Produkte zu begünstigen. Mit schönen Worten wie «Wachstumsimpulse», «Standortförderung», «Erhalt von Arbeitsplätzen» oder «Sicherung der internationalen Konkurrenzfähigkeit» bringen sie politische Mehrheiten auf ihre Seite.
Subventionen erhöhen – ebenso wie die Verschuldung – das Bruttoinlandsprodukt direkt. Aber auch indirekt fördern sie das Wachstum der Wirtschaft, indem sie zur Verschwendung der verbilligten Stoffe oder Produkte anreizen. Häufig neutralisieren Subventionen für die einen die Subventionen für die andern und bescheren damit auch dem Leerlauf stolze Wachstumsraten. Beispiele:
? Die Schweizer Landwirtschaft kassiert zuerst Millionen für die Tierzucht, danach weitere Millionen für das Verwerten des Fleisches. Anschliessend bekommt die private Vereinigung für Ernährung einige Hunderttausend Franken, um die Konsumenten vor zu viel Fleischkonsum zu warnen.
? Deutschland stützt den Abbau von Kohle mit jährlich zwei Milliarden Euro. Gleichzeitig belastet es den Kohle- sowie den Atomstrom mit einer Abgabe. Deren Ertrag wird verwendet, um die kostendeckende Einspeisevergütung für Strom aus Wind- und Solarkraftwerken zu finanzieren. Resultat: Mit subventioniertem Kohle- und Atomstrom subventioniert der Staat Wind- und Solarstrom, um damit subventionierten Kohle- und Atomstrom zu ersetzen. Da beisst sich die Katze zweimal in den Schwanz.
? Der gleiche Leerlauf funktioniert im Verkehr: Subventionen rollen sowohl auf die Schienen als auch auf die Strassen – und neutralisieren damit die beabsichtigte Verkehrsverlagerung. Unter dem Strich erhöht dieser subventionierte Leerlauf die gesamte Verkehrsnachfrage, was einen weiteren Ausbau der unrentablen Verkehrswege erfordert. Und mit jeder Drehung an der Verkehrsspirale werden die Staus um eine Spur breiter.
Milliarden für Energie und Verkehr
Ein Markt würde theoretisch dann richtig funktionieren, wenn Private und Unternehmen für die von ihnen verursachten Kosten voll bezahlten. Der Staat sollte die Spielregeln so festlegen, dass niemand bevorteilt wird und niemand durch das soziale Netz fällt. Doch die heutigen Subventionen, die sich weltweit auf weit mehr als eine Billion Dollar pro Jahr summieren, verzerren die Preise. Damit wird das Verursacherprinzip grob verletzt und der Markt verfälscht. Die unsinnigsten Subventionen erhalten heute Energie- und Rohstoffproduzenten, Verkehrsanbieter, Nahrungsmittelproduzenten sowie Fischfangunternehmen.
Allein der Abbau und Verbrauch von Kohle, Erdöl und Erdgas wird weltweit jährlich mit 650 Milliarden Dollar subventioniert, ermittelte die Internationale Energieagentur fürs Jahr 2008. Damit wird neben der Plünderung der fossilen Energieträger auch der Klimawandel beschleunigt. Auch der Atomstrom profitiert von Privilegien und Subventionen in Form von ungenügender Haftpflicht, die einem fairen Wettbewerb hohnsprechen.
Der globale Verkehr erhält pro Jahr über 600 Milliarden Dollar staatliche Stützung, schätzt der Deutsche Naturschutzring – und liegt damit wohl zu tief. Denn allein in Europa, so errechnete die Deutsche Umweltagentur, summieren sich die Subventionen für den Strassen-, Bahn-, Luft- und Schiffverkehr jährlich auf 400 Milliarden Dollar. Dumpingpreise im Verkehr subventionieren die Globalisierung sowie das Wachstum des Welthandels – und benachteiligen die verkehrssparende lokale Produktion. Tiefe Tarife, die nur einen Teil der Verkehrskosten decken, kurbeln auch den Personenverkehr an.
Ökologischen Schaden, aber auch soziale Verelendung verursachen weitere Milliarden, mit denen die Industriestaaten den Export von landwirtschaftlichen Produkten stützen. Andrerseits wachen der Internationale Währungsfonds und die Weltbank darüber, dass Entwicklungsländer ihre BäuerInnen nicht subventionieren und möglichst keine Schutzzölle erheben. «Die Doppelmoral der Industrieländer in der Agrarpolitik ist unerträglich», kritisierte der frühere Geschäftsführer von Greenpeace International, Thilo Bode. Mehrere Hundert Millionen Kleinbauern können ihre Produkte nicht einmal mehr im eigenen Land verkaufen, weil es von subventionierten westlichen Überschüssen überschwemmt wird. Viele Landwirtschaftssubventionen bedrohen auch die Vielfalt an Tier- und Pflanzenarten.
Die Natur wird geplündert
Auf der langen Liste der Schulden und Subventionen, die das Wachstum ankurbeln, fehlt ein Posten, obwohl er mit Abstand der grösste ist. Das rührt daher, dass dieser Posten gemeinhin nicht als Subvention bezeichnet wird. Es geht um die Beiträge der Natur, welche die Menschheit bezieht. Denn unser Lebensstil stützt sich weitgehend auf die Ausbeutung von Rohstoffen und Energieträgern, welche Sonne und Erde während Hunderten von Millionen Jahren erzeugt haben und die nicht nachwachsen.
Die Marktpreise für Energie und Rohstoffe decken nur die Kosten der Förderung und Verteilung sowie die Profite der Händler. Die Natur an sich aber wird als Gratis-Rohstofflager behandelt. Für den Verlust und die langfristige Verknappung der natürlichen Ressourcen ist kein Bilanzposten vorgesehen. Keine Finanzbuchhaltung registriert zum Beispiel den Wertverlust, der entsteht, weil die Menschheit jedes Jahr vier Milliarden Tonnen Erdöl und drei Milliarden Tonnen Kohle in CO2 umwandelt und in der Atmosphäre deponiert. Unbezahlt bleiben auch die Folgekosten der Klimaveränderung, die unser CO2-Ausstoss verursacht. Diese Ausbeutung der Natur ist gleichzusetzen mit den direkten finanziellen Subventionen, die das heutige Wirtschaftswachstum ankurbeln und die Entwicklungschancen späterer Generationen schmälern.
Urs P. Gasche, Hanspeter Guggenbühl: «Schluss mit dem Wachstumswahn. Plädoyer für eine Umkehr». Verlag Rüegger. Zürich 2010. 134 Seiten. Fr. 19.50.
Die Autoren
Hanspeter Guggenbühl arbeitet als freier Journalist im Pressebüro Index und schreibt regelmässig für die WOZ. Er ist spezialisiert auf Umwelt-, Energie-, Verkehrs- und Wirtschaftspolitik.
Urs P. Gasche war Chef des «Kassensturz» und leitete die Konsumentenmagazine «K-Tipp» und «Puls-Tipp».
Guggenbühl und Gasche haben zusammen die beiden Sachbücher «Das Geschwätz von der freien Marktwirtschaft» (1996) und «Das Geschwätz vom Wachstum» publiziert (2004, beide Orell Füssli).