Haiti: Ohne den Staat gehts am besten

Nr. 46 –

Elf Monate nach dem Erdbeben, bei dem vermutlich 300 000 Menschen starben, hat die haitianische Regierung noch nicht mit dem Wiederaufbau begonnen. Vorwärts geht es nur dort, wo sich die Menschen selbst organisieren.


Das Lager Haut-Miton ist ein idyllischer Fleck Erde. Riesige Mangobäume spenden Schatten, dazwischen stehen Avocadobäume und karibische Kirschsträucher, Königspalmen recken sich in die Höhe. Den Wegesrand säumen Hibiskus- und Bougainvilleasträucher. Nur die schmale, schlammige Strasse mit tief ausgewaschener Fahrrinne macht den Besuch des südlich der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince gelegenen Dorfes zur Tortur.

«Willkommen bei der Frauengruppe Sternenglanz» steht auf einem kleinen Schild, das an einem Baumstumpf hängt. Unter Büschen und Bäumen sind die Planen einer Zeltstadt auszumachen. Fast 700 Menschen leben hier. Alle haben beim schweren Erdbeben vom 12. Januar ihre Unterkünfte verloren. Auch über zehn Monate später gibt es für sie kaum Aussicht auf einen Wiederaufbau ihrer Häuser. Die knapp zwei Kilometer entfernte Kleinstadt Léogâne mit ihren 40 000 EinwohnerInnen lag im Epizentrum und ist weitgehend zerstört.

Zwei Frauen kehren im Lager mit Reisigbesen den schattigen Boden. Kinder spielen mit Murmeln und selbst gebasteltem Spielzeug. «Am Anfang wurde uns halbwegs ausreichend geholfen», sagt Elizabeth Senatus. Sie ist Sprecherin des Lagers und Mitglied in einer anderen Frauengruppe, der Groupe de Fanm Ankourajèz. Eine weitere Gruppe, jene der «Mutigen Frauen», hat die Organisation im Lager übernommen. «Wir Frauen kümmern uns um die Sauberkeit, die Wasserversorgung, die medizinische Betreuung und auch um die Sicherheit», sagt die 34-jährige Senatus.

Mutig und wachsam

Gemeinsam mit der Bewegung Dominikanisch-haitianische Frauen, die seit dem Erdbeben in der Nähe ein Waisenhaus betreut, haben sich die obdachlos gewordenen Frauen relativ schnell selbst organisiert. «Zum einen wollten die Hilfsorganisationen Ansprechpartner haben», erläutert Senatus. «Zum anderen wurde uns klar, dass wir uns selbst helfen mussten, um die wichtigsten Dinge zu regeln.»

So entstanden Gruppen wie «Sternenglanz Frauen», die «Mutigen Frauen» oder die «Wachsamen Frauen». Längst kümmern sie sich nicht mehr nur um die Regelung des Lageralltags, sondern bemühen sich, für die meist arbeitslosen Frauen neue Einkommensquellen zu erschliessen. «Viele sind zwar Händlerinnen, aber nicht alle verdienen damit genug Geld», sagt Senatus. Sie stammt aus Port-au-Prince und hat dort als Journalistin gearbeitet.

Eine der Einkommensquellen der Frauen ist die Herstellung von Kosmetika: Glättungscreme fürs Haar, Nagellackentferner oder Seife mit Avocado- oder Limonenduft. Bestandteile für Waschmittel werden zwischen den Zelten zusammengemischt, Hygieneartikel auf Basis von Zwiebeln angefertigt, die bei Entzündungen helfen. Daneben stellen einige Kerzen und Figuren her, die sie den ausländischen HelferInnen als Souvenir verkaufen.

Den Pfarrer gestört

In den fast 1400 Obdachlosensiedlungen, die seit dem Erdbeben in der Gegend von Port-au-Prince und dem südwestlichen Dreieck von Carrefour, Jacmel und Petit-Goâve entstanden sind, verändert sich kaum noch etwas. Hätten sich nicht ein paar Entschlossene zusammengefunden, um in den Lagern Strukturen zur Selbsthilfe aufzubauen, wäre die Situation der Menschen noch dramatischer.

Comité Place Staint-Pierre en Action nennt sich jene Gruppe, die versucht, das Lager im Zentrum der Kleinstadt Petión-Ville oberhalb von Port-au-Prince nicht ganz im Chaos versinken zu lassen. Rund 6000 Menschen hausen in einem Zeltgewirr auf knapp einem Hektar. Das Gelände ist umgeben von einem Hotel, einer Polizeiwache mit Gefängnis, einer Kirche und einer Schule.

Junior Dorlain, Mitglied des Lagerkomitees, ist wütend. «Wir müssen uns um alles selbst kümmern. Der Staat interessiert sich nicht für unser Schicksal.» So müssten mindestens dreissig Toiletten um den Platz verteilt werden, damit die Hygienestandards erfüllt werden könnten. Stattdessen sind es fünf Mobilklos, die nur unregelmässig geleert werden, sowie sechs Duschkabinen. «Wir hatten mehr», sagt Dorlain. «Aber den Pfarrer der Kirche hat der Gestank gestört. Deshalb haben sie fast alle Klos wieder abgeholt.»

Der Bürgermeister von Petión-Ville will die Erdbebenopfer nur noch weghaben. «Er verhindert, dass wir Hilfsgüter erhalten, und unternimmt alles, um unsere Situation zu erschweren», sagt Dorlain. Aber die LagerbewohnerInnen haben keine Alternativen. Aufbaupläne für die Armenviertel an den Hängen von Port-au-Prince gibt es noch immer nicht. Die Regierung arbeite zwar an einem Masterplan für den Wiederaufbau, über Details wisse jedoch kaum jemand etwas. Hinzu kommt, dass derzeit für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 28. November Wahlkampf geführt wird. Da haben PolitikerInnen wenig Zeit – und die Stadtverwaltung stellt sich gegenüber den Forderungen der Betroffenen taub.

Längst ist aus dem Lagerprovisorium eine Zeltstadt geworden, hier kann man sich nicht nur die Nägel maniküren lassen oder die Haare schneiden, sondern auch ein eisgekühltes Bier trinken. Jugendliche können in einem Internetzelt chatten oder twittern. Das Lagerkomitee kümmert sich um die Organisation des Alltags. Zehn Frauen kehren jeden Tag zwischen den Zelten. Bezahlt werden sie von einer internationalen Hilfsorganisation im Rahmen eines «Geld für Arbeit»-Programms. Alle Zelte und ihre BewohnerInnen sind registriert. Das Komitee sorgt dafür, dass jede Familie ausreichend mit Hilfsgütern versorgt wird, etwa mit Moskitonetzen. Dennoch fehlt es noch immer an vielem.

Anschub von aussen

Dank ihrer Selbstverwaltung konnte nach dem Beben auch den BewohnerInnen von Les Palmes und Umgebung in den Bergen oberhalb von Petit-Goâve schnell und effektiv Hilfe geleistet werden. Achtzig Prozent der Häuser in dem Gebiet waren beschädigt worden, jedes fünfte Haus ist völlig zerstört. Die meisten BewohnerInnen sind KleinbäuerInnen, die meist weniger als einen halben Hektar Land besitzen oder bewirtschaften. Viele müssen sich zusätzlich als TagelöhnerInnen verdingen.

Die Katastrophe traf die Menschen zu einem ohnehin schwierigen Zeitpunkt. Ende Februar beginnt die Aussaat. Im Januar sind bereits die meisten Ersparnisse aufgebraucht, und das Geld, das noch von der letzten Ernte übrig ist, muss für den Ankauf von Saatgut reichen. «Der Verlust ihrer Häuser hat die finanzielle Situation der Familien zusätzlich verschärft», sagt Anthony Eyma, Direktor der nichtstaatlichen Organisation (NGO) Concert Action.

Seit 1997 arbeitet Concert Action, die von Agroingenieuren und Technikerinnen gegründet wurde, in den Bergen von Mornes Grande-Ravine. Die Region ist rund 25 Kilometer von Petit-Goâve entfernt. Mit der Verbesserung der Infrastruktur, etwa dem Bau eines Krankenhauses oder dem Ausbau der einzigen Zugangsstrasse, hat sich die Organisation einen guten Ruf erworben.

Seit rund zehn Jahren organisieren sich die BäuerInnen hier selbst und haben auch am Ausbau der Infrastruktur mitgewirkt. Mit finanzieller Hilfe der Deutschen Welthungerhilfe konnten sie ihr Saatgut verbessern und den Anbau anderer Gemüsearten betreiben. Gleichzeitig wurden Projekte zum Erosionsschutz und zur Wiederaufforstung erfolgreich angegangen. Alles funktioniert gut, denn die VertreterInnen der Regierung sind weit weg.

Keiner geht leer aus

Schon kurz nach dem Beben hatten MitarbeiterInnen von Concert Action eine Bestandsaufnahme der Schäden vorgenommen. «Den am schwersten Betroffenen wurden Zelte zur Verfügung gestellt», sagt Eyma. Einige konnten sich durch eine Anstellung bei einem «Geld für Arbeit»-Programm ihren Lebensunterhalt verdienen. Und wieder andere erhielten lokal eingekauftes Saatgut, um den weiteren Anbau zu sichern.

Zusammen mit den BäuerInnenorganisationen wählten die NGOs 150 Familien aus, deren Häuser wieder aufgebaut wurden. Auch hier war ein wesentliches Kriterium die Eigeninitiative. Die Familien bekamen zwar Zement oder Betonstahl gestellt, doch das andere Material mussten sie selbst besorgen. Durchschnittlich 650 Franken pro Haus kostet der Wiederaufbau.

Marie Theodore lacht übers ganze Gesicht. Stolz steht sie vor ihrem neuen Haus, das knapp 54 Quadratmeter Wohnfläche hat und mit Wellblech abgedeckt ist. «Mein Mann und die Nachbarn haben tagelang aus den Bergen Steine herangeschleppt», erzählt sie. Sie selbst und ihre Nachbarin holten derweil das Wasser für den Bau aus dem Tal. «Wir haben das Haus wieder so aufgebaut, wie es vorher war. Aber jetzt ist es schöner», sagt Marie Theodore. Sie und ihre Nachbarin Katherine Meance, die ebenfalls in einem neuen Haus lebt, schwören auf die gegenseitige Hilfe in Les Palmes. Dennoch ist nicht alles eitel Sonnenschein. So wurde kürzlich das Maultier von Meance von einem Nachbarn getötet. Er war wütend, weil er glaubte, benachteiligt worden zu sein. «Doch das sind Ausnahmen», sagt Meance.

Auch im Lager von Haut-Miton gibt es immer wieder Streit. Manche beäugen die «Mutigen Frauen» misstrauisch, weil diese Ansprechpartnerinnen von Organisationen sind, die Hilfe und Unterstützung bringen. «Manche glauben, wir würden Geld bekommen, das wir nicht verteilen», sagt Elizabeth Senatus. Aber wie sollen es die Menschen auch besser wissen, wenn sie sehen, wie sich PolitikerInnen die Taschen füllen. «Doch auch wenn unsere Arbeit von aussen betrachtet vielleicht unbedeutend wirkt», sagt die ehemalige Journalistin, «für die Frauen hier ist es ein Riesenschritt, sich selbst zu organisieren und Arbeitsplätze zu schaffen.»


Haiti kommt nicht zur Ruhe : Erdbeben, Hurrikan, Cholera

Am 12. Januar starben bei einem Erdbeben in Haiti annähernd 300 000 Menschen. Anfang November raste ein Hurrikan über Teile Haitis hinweg, und schwere Regenfälle überfluteten weite Landstriche. Und vor rund vier Wochen wurden erste Cholerafälle in einer Gegend registriert, die nicht zur Erdbebenregion gehörte.

Nicht zuletzt durch die jüngsten Überschwemmungen scheint sich die Cholera-Epidemie nun rasend schnell auszubreiten. Die Cholera-Bakterien verbreiten sich meist über verunreinigtes Trinkwasser und verursachen bei den Infizierten Durchfall und starkes Erbrechen. Bleibt Cholera unbehandelt, sterben die Erkrankten häufig an einem Kreislaufzusammenbruch infolge extremer Austrocknung.

Inzwischen sind auch Menschen in den Lagern von Port-au-Prince an der Cholera gestorben, und aus allen Landesteilen werden neue Infektionen gemeldet. Das Gesundheitsministerium schätzt die Zahl der Toten inzwischen auf über 1000, rund 15 000 Personen sind infiziert.

Eine stichhaltige Erklärung für die Epidemie gibt es bisher nicht. Die gefundenen Cholera-Erreger sind nach einer Untersuchung des US-Seuchenamtes allerdings identisch mit Bakterien, die bisher nur in Südasien vorkamen. Die Uno hat inzwischen Gerüchte zurückgewiesen, laut denen Blauhelmsoldaten aus Nepal die Krankheit eingeschleppt hätten. Das Lager der Soldaten befindet sich in unmittelbarer Nähe eines Flusses, dessen Wasser viele der Erkrankten benutzt haben.

Anfang Woche kam es in Cap Haitien zu Demonstrationen der Bevölkerung gegen die Uno-Truppen und die Regierung. Die Protestierenden drohten damit, den Stützpunkt der nepalesischen Blauhelmsoldaten anzuzünden. Bei den Zusammenstössen wurde mindestens ein Demonstrant getötet, über ein Dutzend Personen wurden verletzt.

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