Bundeskriminalpolizei: Der Bundespolizist und das Schoggiherz

Nr. 47 –

Ein Terrorermittler der Bundeskriminalpolizei übersetzt Abhörprotokolle. Plötzlich wird er selbst Gegenstand einer umfassenden Überwachung. Es folgt eine fristlose Entlassung. Eine Seifenoper aus dem Innern des «FBI der Schweiz».


Am 21. August 2008 wird ein Bundespolizist fristlos entlassen. Thierry Vasale (alle Namen von PolizistInnen geändert) ermittelte zuletzt gegen Terrorismusverdächtige. Fünf Polizisten bringen ihn sofort nach Hause und ziehen dort seinen Dienstpfefferspray ein. Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) informiert alle Polizeistellen, Vasale sei wegen «schwerer Dienstvergehen» gefeuert worden. Seither ist der 44-jährige Vater zweier Kinder arbeitslos.

Gut zwei Jahre später sitzen fünf Beamte der Bundeskriminalpolizei (BKP) in einem Besprechungszimmer zusammen und lauschen ihrem Chef. Ihre Arbeit unterliegt strengen Sicherheitsbestimmungen, ermitteln sie doch in Fällen von Terrorverdacht, Menschenhandel oder organisierter Kriminalität. Der Abteilungsleiter «Ermittlungen Mitte» ermahnt die Anwesenden, vor Gericht keine Auskunft zu «operativen Fragen» zu geben.

Im Briefing geht es weder um einen geplanten Schlag gegen die Mafia noch um das Abhören von Menschenhändlern, sondern um einen Betrugsprozess vor dem Kreisgericht Bern-Laupen – gegen den ehemaligen Mitarbeiter Thierry Vasale. Das Fedpol wirft ihm vor, mit der Stempeluhr getrickst zu haben. Das Delikt: neuneinhalb Stunden angeblich nicht geleistete Arbeitszeit. Anzeige erstattete die Fedpol nicht etwa kurz nach der Entlassung, sondern fast ein Jahr später, nachdem Vasale einen arbeitsrechtlichen Rekurs gewonnen hatte.

Ein Freund? Oder Gott?

Unschön an Strafverfahren ist – aus Sicht der Fedpol – das Öffentlichkeitsprinzip. Und so erstaunt es nicht, dass der Prozess, der am 8. November dieses Jahres beginnt, nicht wie sonst üblich auf der Homepage des Gerichts angekündigt wurde. Die Richterin ist denn auch sicht- und hörbar erstaunt, als der Reporter das Verhandlungszimmer im Berner Amthaus betritt.

Der erste BKP-Zeuge wird gleich von der Richterin gerügt: «Das ist keine wahnsinnig tolle Anzeige, die Sie da geschrieben haben.» Rasch wird klar: Die BKP-Kader haben ihren eigenen Mitarbeiter umfassend überwacht.

Der Reihe nach: Als nach den Anschlägen des 11. September 2001 innert kürzester Zeit die Bundeskriminalpolizei, eine Art schweizerisches FBI, aufgebaut wurde, bekam auch der langjährige Gemeindepolizist Thierry Vasale eine Stelle bei der BKP-Zweigstelle in Lausanne. Dort war er fortan mit Geldwäschereifällen befasst. So habe man etwa die Geldwäschereimethoden eines Genfer Drogengrosshändlers aufklären können oder Korruptionsgelder in Millionenhöhe abgefangen und beschlagnahmt, die von Nordamerika via Schweizer Banken nach Vietnam hätten verschoben werden sollen. «Das waren hochkomplexe Ermittlungen», sagt Vasale heute. Eine spezifische Ausbildung hätten die Beamten zwar nie erhalten, mit der Zeit sei man aber «autodidaktisch besser geworden». Berufsbegleitend schliesst der Ermittler ein Jurastudium ab. Vor Gericht wird ein Bundesstaatsanwalt aussagen, Vasale habe «zu seiner vollsten Zufriedenheit» mit ihm zusammengearbeitet, er sei «proaktiv» und voller «guter Ideen» gewesen.

Vasale, der sich selbst als eine Person beschreibt, die mitdenkt und auch Chefs zu kritisieren wagt, wechselt nach Problemen mit seinem Vorgesetzten im Jahr 2007 in die BKP-Zentrale nach Bern. Im Sommer 2008 wird er zu einer grossen, streng geheimen Antiterrorermittlung «abdetachiert». Seine Aufgabe: Übersetzung abgehörter Gespräche. Gearbeitet wird in einem sonst leer stehenden Grossraumbüro, wo bei grösseren Ermittlungen Beamte verschiedener Abteilungen zusammengezogen werden.

Mit Max Lachs, dem Kommissariatsleiter für Terrorermittlungen, habe es Reibereien gegeben, sagt Thierry Vasale heute. «Ich machte ihn etwa darauf aufmerksam, dass wir möglicherweise nicht befugt sind, Gespräche abzuhören, wenn ein Verdächtiger im Ausland mit einer anderen Person redet, die ebenfalls im Ausland sitzt.» Vasale behauptet, in den ersten Tagen im Detachement weder Arbeit noch einen Arbeitsplatz gehabt zu haben. Meinungsverschiedenheiten habe es auch mit dem Chefübersetzer gegeben: «Wenn die Verbindung schlecht ist und man nicht genau hört, ob jemand von Gott oder von einem Freund spricht, und man trotzdem einfach Gott ins Protokoll schreibt, dann finde ich das sehr heikel», so Vasale.

Vasale isst ein Brötchen

Was dann geschah, aus der Sicht der BKP-Kader: Am 11. August 2008 traten Max Lachs und Gottfried Brülisauer, stellvertretender Abteilungsleiter «Ermittlungen Mitte», aus dem Lift und sahen Vasale bei der Stempeluhr stehen. Vasale habe «komisch geschaut» (Lachs) beziehungsweise «sich unnatürlich verhalten» (Brülisauer). Dann habe er das Gebäude verlassen. Gottfried Brülisauer überprüfte daraufhin die Stempeluhrdatenbank und fand heraus, dass Vasale ein- statt ausgestempelt hatte. Was taten die beiden Kader nun? Sie «informierten die Linie». Aus dem Beamtendeutschen übersetzt: Sie petzten nach oben – bis zur Leitung der Bundeskriminalpolizei.

Sofort wurden Massnahmen getroffen, um herauszufinden, was es mit dem komischen Blick und dem unnatürlichen Verhalten auf sich haben könnte. Gottfried Brülisauer wies den Mann am Empfang an, fortan jedes Betreten und Verlassen des Gebäudes des Verdächtigen minutengenau zu protokollieren und auch gleich noch zu schauen, ob er die Stempeluhr betätige. (Der Empfangsmann dazu: «Über den Auftrag habe ich mich schon gewundert, weil so etwas sonst nicht unsere Aufgabe ist.»)

Brülisauer kontrollierte von nun an elektronisch die Ein- und Ausstempelungen und begann ein «Journal» zu verfassen, in dem er säuberlich die Erkenntnisse im Fall Thierry Vasale protokollierte. Das im Gerichtssaal vor ihm liegende Journal will er der Richterin nicht aushändigen, obwohl darin, wie er selbst sagt, «keine operativen Angaben» enthalten seien. Später kommt das Journal – mit einigen geschwärzten Stellen – doch noch zu den Akten. In einem Begleitschreiben der Fedpol-Rechtsabteilung heisst es: «Das Journal enthält Namen bzw. Kurzzeichen von unbeteiligten Mitarbeitenden, die aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes abgedeckt wurden.» Blöd nur, hat die Rechtsabteilung schludrig geschwärzt: Fünf zusätzliche BKP-Beamte bleiben identifizierbar.

Zwei Einträge aus dem Journal:

«Dienstag, 19.8.2008, 12 Uhr 06: Vasale stempelt aus. 12 Uhr 07: Vasale trifft in der Bäckerei Sterchi ein, wo sich gleichzeitig Lachs befindet. Vasale kauft 1 Stück Apfelkuchen und 2 Schoggiherz. Spricht Lachs an und sagt ‹Salut, les grandes esprits se rencontrent›.»

«Donnerstag, 21.8.2008, 6 Uhr 40: Bürokontrolle. Büro Vasale abgeschlossen. Mit Passepartout geöffnet. Vasale sitzt am Pult und isst ein Brötchen. Ist sichtlich überrascht.»

Dazwischen wird jede Bewegung Vasales protokolliert. Man hat jetzt nicht mehr nur Zugriff auf die Stempeluhr, sondern auch aufs interne Badge-Sicherheitssystem. Brülisauer erfährt, wann und wo Vasale Türen öffnet. Dem Gericht wird die Fedpol aber nur eine Liste der ersten vier Tage überreichen. Den Rest habe man gelöscht.

Mal sind es drei Minuten, ein anderes Mal 59 Minuten, die Brülisauer zur Betrugssumme hinzuzählt. Er gibt dem Gericht als weiteren Beweis zwei Fotos ab. Aufgenommen wurden sie aus seinem Büro im 4. Stock. Sie zeigen einen Mann (Vasale?) von oben, im Joggingtenue vor dem geheimnisvollen Gebäude am Holzikofenweg 8 (vgl. «Bäckerei, HW8 und geheime Telefonnummern» weiter unten). Journal: «12 Uhr 50: Lachs begibt sich in den Duschraum EG. Müller erzählt, dass sich vorher Vasale hier bereit gemacht und zum Joggen gegangen sei. 12 Uhr 55: Lachs begibt sich nochmals in den Duschraum. Kleider von Vasale hängen in der Dusche. Lachs fotografiert sie.» Zur Erinnerung: Der Mann, der hier die Treppen rauf- und runterläuft, um die Kleider eines Mitarbeiters zu fotografieren, ist Kommissariatsleiter für Terrorismusermittlungen ...

Von der Buchbinderin zur Ermittlerin

Neben der Stempeluhr von Vasale wird auch jene von Antoinette Galurin überwacht. Die heute 35-Jährige verbrachte mehrmals Mittagspausen mit Vasale. Vor Gericht verweigert sie auch Antworten auf Fragen, die sich nicht auf «Operatives» beziehen. Man erfährt aber, wie man heutzutage Mitarbeiterin der Fedpol wird. Max Lachs sagt aus, dass die Frau eines Arbeitskollegen Galurin als Mitarbeiterin empfohlen habe. Galurin ist gelernte Buchbinderin, nach der Lehre verkaufte sie Stoff (Textilien – nicht Drogen). Vom Fedpol wurde sie ursprünglich befristet im Stundenlohn angestellt, war «operativ tätig». Was heisst das? Von der Textilienverkäuferin direkt zur verdeckten Ermittlerin? Darauf gibt es keine Antwort. Seit August 2008 ist sie jedenfalls fest im Kommissariat Terrorermittlungen angestellt, zuständig für Administratives.

Vasale ist ungehalten, als Antoinette Galurin aussagt. Er schreit. Er ist überzeugt, die Chefs hätten sie als Spitzelin auf ihn angesetzt. Sie habe ihn verleitet, längere Mittagspausen zu machen. Am Tag seiner Entlassung habe sie ihn gebeten, bei ihr zu Hause Möbel umzustellen. Das sei ein Vorwand gewesen, damit die Chefs im Gebäude ungestört seine fristlose Entlassung hätten vorbereiten können. Galurins Vorgesetzte bestreiten, sie auf Vasale angesetzt zu haben. Auf die Frage, ob sie auf Geheiss der Vorgesetzten oder aus Zufall in jener Zeit ihre Mittagspause mit ihm verbracht habe, antwortet Galurin etwas kryptisch: «Das geschah freiwillig.»

Nach zwei Verhandlungstagen wird nicht wie geplant ein Urteil gefällt. Es wird aus Zeitgründen ins nächste Jahr verschoben. Gegenstand des Urteils wird lediglich die Frage sein: War das ein Betrug nach Strafgesetzbuch? Eine andere Frage bleibt dagegen offen: Würde ein Staat einer solchen Truppe vertrauen, gäbe es tatsächlich ernsthaften Grund zur Annahme, TerroristInnen könnten ihm gefährlich werden?


Auf Häusersuche : Bäckerei, HW8 und geheime Telefonnummern

Die Fedpol-Kader geben sich vor Gericht redlich Mühe, diskret zu bleiben. Einer wird während des Prozesses gefragt: «Wo befindet sich das Kommissariat für verdeckte Ermittlungen?» Antwort: «Hierzu bin ich nicht befugt, Aussagen zu machen. Ich weiss nicht, wo das Kommissariat Verdeckte Ermittlungen seinen Standort hat.» Lieber redet man in Codes. Das Gebäude, in dem Thierry Vasale gearbeitet hat, heisst HW8. Hauptwache 8? Eine Suche im Internet ergibt nur Treffer in Umweltberichten des Fedpol. Keine Adresse, keine Angaben über die Zahl der dort angestellten MitarbeiterInnen. Auf einer internen Mitarbeiterliste der Bundesverwaltung sind normalerweise Name, Kürzel, Büro- und Telefonnummern vermerkt. Bei allen Personen aus HW8, die im Prozess auftauchen, fehlen Büro- und Telefonnummern.

Bekannt ist nach den Zeugenbefragungen lediglich, dass es in der Nähe von HW8 eine Bäckerei Sterchi und eine Tramhaltestelle gibt (vgl. Text oben). In Bern und Umgebung sind sechs Bäckereien des Unternehmens Sterchi im Telefonbuch. Nur eine davon in der Nähe von Tramgleisen: im Weissenbühlquartier, an der Tramlinie 3. Eine Sichtung der Umgebung per Google Earth zeigt, dass in der Nähe vor allem Mehrfamilienhäuser und Villen stehen. Nur drei Gebäude dürften Bürobauten sein. Davon steht eines am Holzikofenweg 8. Bingo: HW8. Keine Einträge im Telefonbuch zu dieser Adresse.