Wahljahr 2011: Was ist los in diesem Land, Regula Stämpfli?

Nr. 2 –

Wer die Demokratie vermesse, schaffe sie ab: ein Facebook-Chat mit Politologin Regula Stämpfli über die Smartvotisierung der Politik, das Intellektuellenbashing in den Medien und engagiertes Zuhören.


WOZ-Anfrage per Facebook: Regula Stämpfli, Sie sorgen auch auf Facebook mit hochstehenden und unterhaltsamen Kommentaren, Beiträgen, Entgegnungen für Stimmung. Ich habe den einen oder anderen ihrer letzten Facebook-Beiträge gelesen, die ein paar Fragen aufwerfen. Haben Sie Zeit?

Regula Stämpfli: Ich bin gerade im Ausland und ziemlich beschäftigt. Aber ich habe gerade gesehen, dass Sie bei Ihren persönlichen Facebook-Informationen unter «Religiöse Ansichten» «Let’s drink tequila and get some foolish tattoos» angegeben haben. Das ist unablehnbar ... grossartig! Also gut. Aber könnten wir das Interview auch hier auf Facebook führen? Falls ja, schiessen Sie los!

Kürzlich schrieben Sie in einem Facebook-Kommentar: «Empören Sie sich mal hierzulande intellektuell, mit guten Argumenten und scharfer Sprache – dann sehen Sie, was Ihnen passiert. Und sagen Sie jetzt nicht: Halt! Stämpfli macht es halt falsch. Das vielleicht, aber das Geschütz, das in der Schweiz von Kollegen (nicht von Gegnern) aufgefahren wird, ist unglaublich.»

Was war schon wieder der Zusammenhang? Ach ja. Es ging um die übliche Klage, dass sich die Intellektuellen in diesem Land nicht zu Wort melden.

Anlass war der französische Bestseller «Indignez-vous!» (Empört euch!) des Intellektuellen Stéphane Hessel, der auch hierzulande mit Fug und Recht Furore macht. Ich halte nichts von der pauschalen Klage, dass in diesem Land Intellektuelle fehlen, die sich in der politischen Debatte engagieren. Nicht die Intellektuellen fehlen in diesem Land, sondern die Räume, die Plattformen und das engagierte Zuhören. Als ich in einer Radiokolumne mal wagte, mich laut und deutlich über die völlige Inhaltsleere des Tamedia-Newsnetzes zu empören, schlug mir zunächst via Tamedia, dann auf Blogs und Hassseiten auf Facebook eine Welle entgegen, die mich sofort nach Brüssel vertrieben hätte ...

Wer sich in der Schweiz als Intellektuelle äussert, macht sich wenig Freunde?

Das ist so. Die Schweiz ist punkto Intellektuellenbashing schon sehr amerikanisch. So versuchte Christoph Blocher in einer «Arena», den Nationalrat Andreas Gross immer wieder mit der Anrede «Herr Professor» lächerlich zu machen. Die schlimmsten Mails an mich beginnen häufig mit «Sehr geehrte Frau Professorin».

Blocher und sein journalistischer Ziehsohn Roger Köppel, beide Teil einer intellektuellen Elite, machen sich einen Sport daraus, Intellektuelle als weltfremde Elite zu verunglimpfen. Warum?

Der nationalsozialistische Vordenker Carl Schmitt hat es vorgemacht. So schrieb er in seiner geistesgeschichtlichen Analyse des Parlamentarismus, die nur dazu diente, die Demokratie unmöglich zu machen: «Zur Demokratie gehört als notwendig erstens die Homogenität und zweitens nötigenfalls die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.» Intellektuelle sind per Definition heterogen und gehören deshalb verunglimpft. So operieren auch Roger Köppel und Christoph Blocher. Sie tun so, als wären sie das Volk (sprich homogen) und alle anderen die Fremden (heterogen), die eine Bedrohung darstellen. Das schafft Stimmung. Die Medien transportieren sie, statt sie zu hinterfragen.

Was heisst das?

Das Newsnetz von Tamedia etwa folgt solchen Argumentationen wie ein Schaf und setzt eine Intellektuellenliste zusammen, deren Auswahl nicht auf Publikationen, auf Diskursen, auf Debatten, sondern auf einer Aufmerksamkeitsliste beruht. Auch Swissfuture, die Schweizerische Vereinigung für Zukunftsforschung, hat in eine Liste für Vorbildschweizer ausschliesslich bekannte Schweizer genommen, unter anderem Christoph Blocher. Dass keine Frauen, es sei denn aus der Kunst, darunter waren, ist übrigens in der Schweiz und auch in Deutschland selbstverständlich. Niemand schreit «Aua». Und falls ich es tue, dann werde ich persönlich mit dem Satz verunglimpft, dass es mir ja nur darum gehe, auf der Liste zu stehen.

Dieser Eindruck kann entstehen ...

Das Gegenteil ist der Fall. Es ist eine Ehre, auf manchen Listen nicht zu stehen. Beim ganzen Intellektuellenbashing geht es letztlich um Macht. Nicht die Demokratie, sondern die Vorherrschaft der Partei steht bei Köppel und Blocher im Vordergrund. Das Schmitt’sche Freund-Feind-Denken hat in den letzten Jahren die politische Kultur vergiftet. Heute werde ich nicht mehr inhaltlich, sondern ausschliesslich persönlich angegriffen. Diese Identität von Argument und Körper, von Person und Meinung, übernehmen die Medien fraglos.

Die Medien werden nach wie vor nicht müde, Blocher als Person zu stützen und grosszuschreiben, wo sie nur können. Woher kommt das?

Das frage ich Sie. Ich habe keine Ahnung. Ich finde es immer wieder erstaunlich, dass einem überhaupt was zu Christoph Blocher einfallen kann.

Nein, ich frage Sie: «Die SVP gewinnt die Wahlen», hat die «SonntagsZeitung» getitelt. Der «Tages-Anzeiger» hat Toni Brunners Ständeratsschlappe von 2007 dieser Tage auf der Titelseite als Erfolg verkauft und Blocher als Kandidaten für Zürich ins Spiel gebracht, als wäre Ueli Maurers Niederlage von 2007 nie passiert. Ein solch kurzes Gedächtnis kann man ja gar nicht haben. Sie haben fast als Einzige eine Entgegnung geschrieben. Wird bloss noch gehört, wer am lautesten brüllt?

Nein, wer am unqualifiziertesten brüllt. Ich habe belegen können, dass hinter der Schlagzeile der «SonntagsZeitung» sowie den folgenden Experteninterviews keine Fakten standen. Im Gegenteil. Die SVP verliert gemäss Politbarometer und Wahlumfrage GFS im Vergleich zu 2007. Daraus einen Höhenflug zu machen, ist genauso sträflich, wie der SP einen Wahlsieg zu prognostizieren. Die Expertenaussagen grenzten zum Teil an Realsatire. Weil niemand genau hinschaut, entsteht so ein SVP-Sieges-Tsunami. Die Argumentationsdemokratie ist schon längst zur Demoskopiedemokratie verkommen. Wir unterhalten uns über Umfragewerte und nicht über Parteiprogramme. Doch nicht mal die Umfragewerte wurden in der Sonntagspresse korrekt interpretiert, von den Politexperten ganz zu schweigen. Da hätte wohl sogar Madame Etoile bessere Antworten gegeben.

Von wegen laut brüllen: Sie haben in einem Radiointerview den Politologen Michael Hermann scharf angegriffen: Man müsse mal recherchieren, wer den bezahle. Was werfen Sie ihm vor?

Hallo? Scharf angegriffen?

Sie haben ihm unterstellt, er habe den politischen Reflexionsgrad von Plankton.

Stimmt. Hermann hat auf diesen Vorwurf sehr witzig reagiert und als Facebook-Profilbild ein Planktontierchen gesetzt. Doch eigentlich war meine Bemerkung in der Sendung eine verkürzte Methodenkritik. Schon lange konstatiere ich: Wer die Demokratie vermisst, schafft die Demokratie eigentlich ab. Diesen Trend beobachte ich nicht nur bezüglich Umfragedemokratie, sondern überall in öffentlichen Institutionen. Alles wird vermessen und gebrandet. Die Schweiz beispielsweise ist zu einem richtigen Markenzeichen geworden.

Was heisst das: Wer die Demokratie vermisst, der schafft sie ab?

Die Vermessungsdemokratie macht aus allen Menschen, die sich für ganz normale demokratische Werte einsetzen, Linke bis extrem Linke. Die Gratiszeitung «20 minuten» «outete» mich nach jener Radiokolumne, in der ich unter anderem Hermann kritisierte, als Linke. Das finde ich nach wie vor den Hammer. Erstens, dass in diesem Land jedes kritische Denken als polemisch, polarisierend und automatisch als links bewertet wird, zweitens, dass dies mittlerweile automatisch als negativ gilt, und drittens, dass kritische Menschen als «links» «geoutet» werden müssen.

Da sehen Sie direkt das Smartspider-Netz, das jedes kritische Denken als linke Fliegen gefangen hält. Smartvote proklamiert eine objektive Verortung von links und rechts. Smartvote lässt politische Argumente verstummen. Smartvote vermisst Politiker, statt ihnen zuzuhören. Wie meinte schon Hannah Arendt? Nur Gewalt ist stumm. Wer die Sprache zugunsten von Zahlen aus der Demokratie streicht, handelt antidemokratisch. Mittlerweile ist jeder demokratische Zusammenhang smartvotisiert, also eine eigentliche Unternehmensrechnung. Jede Staatsintervention etwa wird links verortet. Weshalb galt aber der reine Sozialismus für Milliardäre, also das Bankenrettungsprogramm durch den Staat, nicht als extrem links?

Warum nicht?

Weil Smartvote eben nicht, wie vorgegeben wird, Politik objektiv vermisst, sondern ideologisch positioniert. Weil es selbst Hermann klar war, dass er in Definitionsschwierigkeiten käme, würde er die UBS-Rettung als «links» verkaufen. Obwohl er das gemäss seiner Logik hätte tun müssen. Dieses Beispiel wie überhaupt die Finanzkrise beweist, wie nahe wir Menschen an den Abgrund kommen, wenn wir Zahlen mehr vertrauen als dem Denken.

Smartvotisierung der Demokratie – was ist los in diesem Land, Regula Stämpfli?

Die fehlende Unterscheidung zwischen Leistung und Verantwortung, zwischen Logik und Wahnsinn, zwischen Kommunikation und Materie ist nicht einfach eine objektive und «natürliche» Erscheinung, sondern ein eigentliches Herrschaftssystem. Schauen Sie mal genau hin, wie die Welt uns entgegenstarrt ...

Wie starrt uns die Welt entgegen?

Als Zahl.


Regula Stämpfli

Die Historikerin und Politikwissenschaftlerin Regula Stämpfli (45) ist die Tochter eines Berner Metzgers. Wegen ihrer Art, ihr fundiertes Wissen zu politischen Themen in der Schweiz unschweizerisch laut und unerschrocken kundzutun, wird sie – vor allem von den Medien – regelmässig scharf angegriffen.

Stämpfli ist Autorin verschiedener Bücher, darunter «Mit der Schürze zur Landesverteidigung» und «Vom Stummbürger zum Stimmbürger» (Orell Füssli, Zürich 2002 und 2003). Ihr aktuelles Buch «Aussen Prada – innen leer?» ist 2010 im Bartleby-Verlag erschienen. Stämpfli lebt in Brüssel.