Die Explodierende Metropole: Istanbul, das Land ohne Hauptstadt

Nr. 4 –

Die grösste Stadt der Türkei hat mittlerweile mehr EinwohnerInnen als viele EU-Staaten – und hört nicht auf zu wachsen. Dass trotzdem nicht das grosse Chaos ausbricht, ist an sich schon eine enorme Leistung.


Es ist gerade mal zehn Jahre her, da hatte ich noch einen Mitleidsbonus, wenn ich in Deutschland jemandem erzählte, ich lebe in Istanbul. Man konnte das «Ach Gott, der Arme – halt durch, Junge!» in fast allen Gesichtern erkennen. Und heute? Heute nicken die meisten anerkennend, und bei manchen blitzt auch ein bisschen Neid auf: «Ahaaa – Istanbul!! Ja, da wollte ich auch schon lange mal hin ...»

Warum eigentlich? Wegen der Lebensqualität? Vergiss es! Zur Erholung stehen den EinwohnerInnen von Istanbul pro Kopf gerade 1,5 Quadratmeter Fläche zur Verfügung (den HamburgerInnen zum Beispiel gut 17 Quadratmeter). Die meiste Zeit verbringt der Istanbuler sowieso in einem Stau. Weht zwei Tage kein Wind am Bosporus, muss wegen des Smogs auch der Schiffsverkehr gestoppt werden. Im grössten Wasserreservoir der Stadt wurden zum Jahreswechsel hochgiftige Substanzen gemessen. In Sachen Lebensqualität landete Istanbul – so die Zeitschrift «The Economist» vor einem Jahr – weltweit auf Platz 110 von 140 Städten. In der Disziplin «Wie teuer ist es?» hat sich die Stadt dagegen schon auf einen guten 20. Rang hochgearbeitet. Wer als Krankenschwester oder Polizist nach Istanbul versetzt wird, wehrt sich mit Händen und Füssen, schon wegen der Mieten. Erst seit unzählige Kameras die Strassen überwachen, geht der Taschendiebstahl zurück, der bis dahin alle Rekorde schlug.

All das kann aber dem Ruf Istanbuls nichts anhaben. Gerade war Istanbul europäische Kulturhauptstadt. 2012 wird es europäische Hauptstadt des Sports sein. Der Oberbürgermeister von Istanbul, Kadir Topbas, nahm Ende November in Brüssel die Ernennung seiner Stadt entgegen. Eine Woche später wählten ihn die Delegierten eines Kongresses in Mexiko für drei Jahre zum obersten Repräsentanten von weltweit 192 Grossstädten. Dabei weiss er nicht einmal, wie viele Menschen in seiner Stadt leben.

Es gibt kaum ein Land, dessen Image sich derart von dem seiner grössten Stadt unterscheidet. Wer Türkei sagt, denkt an übermächtige Militärs, an die Kurdenfrage, an Islamismus, an den EU-Beitritt, den keiner will. Aber Istanbul? Das scheint damit nichts zu tun zu haben. Istanbul in die EU aufnehmen? Damit hätte er kein Problem, meinte 2010 der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) bei seinem Besuch am Bosporus.

«Istanbul ist das New York des Orients», hörte ich kürzlich eine Museumsdirektorin aus Washington auf einer Vernissage im Zentrum der Stadt schwärmen. «If I can make it there, I’ll make it anywhere», hatte Frank Sinatra über New York gesungen, «Wenn ich es dort schaffe, schaffe ich es überall». Das gilt auch für die Stadt am Bosporus. Bekanntlich war der amtierende Regierungschef in Ankara, Tayyip Erdogan, auch mal Bürgermeister von Istanbul. Wer in der Türkei erfolgreich sein will, muss erst mal hier beweisen, was er kann, ob als Politiker, als Künstlerin oder als Unternehmer.

Nichts ist mehr, wie es war

Istanbul ist zwar schon immer das unumstrittene Zentrum der Türkei gewesen. Doch mit dem Niedergang des Osmanischen Reichs war die Stadt nur noch der ehemalige Regierungssitz des gestürzten Sultans. Der Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk ernannte ein unbedeutendes Kaff in Zentralanatolien – Ankara – zur neuen Hauptstadt. Die alten Residenzen und Herrensitze am Bosporus bröckelten langsam vor sich hin. Mit der Vertreibung vor allem der grossen griechischen Gemeinde in Istanbul in den fünfziger und sechziger Jahren verfielen auch zahlreiche prächtige Bürgerhäuser im Zentrum der Stadt, in Beyoglu, auf der europäischen Seite. Arme aus Anatolien, die dort kein Auskommen mehr hatten, besetzten das ehemalige Stadtzentrum, weil hier sowieso niemand leben wollte.

Als ich vor rund zwanzig Jahren nach Istanbul kam, lag der Stadtteil Beyoglu nachts im Dunkeln. Nur wenige wagten sich nach 22 Uhr noch auf die Strasse. Tagsüber verriegelten ängstliche Taxifahrer die Türen ihrer Fahrzeuge, wenn sie bestimmte Strassenzüge passierten. Es gab keine Galerien, nur ein paar Kinos mit durchgesessenen Polstern und Filmen auf dem Niveau des deutschsprachigen Quatschkinos der sechziger Jahre.

Kaum eine Stadt hat sich mit dem Fall des Eisernen Vorhangs derart geändert wie Istanbul – vielleicht noch Berlin, wenn auch in kleinerem Massstab. Mit der Öffnung der Grenzen rund um die Türkei öffnete sich auch die Stadt.

Während die PolitikerInnen im alten Europa mit dem Slogan «Alles soll so bleiben, wie es ist» warben, blieb hier nichts, wie es war. Eine rissige Fassade nach der anderen verschwand hinter einem Gerüst. Läden, die billige Socken und Mützen verkauften, wichen Geschäften für Sportartikel, Antiquitäten und Naturkost. Die Stadtverwaltung entsorgte die Müllberge, Strassenlampen wurden einbetoniert. Überall sah man Schilder: Wohnung und Haus zu verkaufen! In dem Haus in Beyoglu, in dem ich wohne, wurden in den letzten zehn Jahren von vierzehn Wohnungen neun verkauft, und das geschah überall, vor allem im Zentrum. Allein 2009 wechselten bei fast 250 000 Wohnungen die BesitzerInnen. Die Mieten stiegen in den letzten neun Jahren auf das Sieben- bis Zwanzigfache, errechnete der Unabhänge Verein der Buchhalter und Finanzberater. Der Immobilienmarkt in Istanbul gilt als eine der profitabelsten Anlagen weltweit.

Vom Nähsaal zum Designerzentrum

Jetzt kann auch Nihan Peker ihre Arbeiten im Zentrum von Istanbul zeigen. Eine Designerladenbesitzerin, die jedes Jahr in vier verschiedenen Räumen ihres Geschäfts die Mode von vier DesignerInnen präsentiert, sah die Kollektion der 25-jährigen Modestylistin an einem Defilee und dachte: Das passt. Nihan Peker entwirft ihre Kleider nicht nur, sie näht sie auch selbst und entwickelt ihre eigenen Stoffe. So hat sie ein Kleid aus den Fäden gefertigt, aus denen sonst die Gebetskettchen sind, oder sie verwendet grob strukturierte Stoffe, die an die Arbeitskleidung der Lastenträger im Bazar erinnern.

Vorbei die Zeiten, da türkische ModedesignerInnen erst beweisen müssen, dass sie nicht irgendeine Mode aus dem Wes-ten kopiert haben. Das war vor rund fünfzehn Jahren, als man in Istanbul noch Kleider trug und keine Mode, und die Textil-industrie vor allem preisgünstig T-Shirts fürs Ausland nähte.

Heute will Istanbul nicht mehr der Nähsaal Europas sein, sondern selbst Modemetropole werden. Inzwischen gibt es einen Verband der ModedesignerInnen und jedes Jahr eine internationale Modewoche mit Dutzenden Defilees. Nihan Peker hat bereits fünf Kollektionen entworfen, zwei davon wurden in Mailand, Paris und London gezeigt. Sie hatte auch in Italien studiert, wollte dort noch ein Praktikum absolvieren, «aber da habe ich gemerkt, was es heisst, Türkin zu sein. Es war einfach unmöglich, das nötige Visum zu bekommen.»

Trotz der hohen Mauer, die die Visaantragsstelle für Türk-Innen ist, räumt der neue türkische Autorenfilm seit ein paar Jahren fast überall auf der Welt Preise ab. Istanbul selbst richtet jedes Jahr ein Filmfestival mit mehreren Hunderttausend ZuschauerInnen aus. Ausserdem gibt es ein Festival der klassischen Musik, ein Theater-, ein Jazz- und nun auch ein Opernfestival – und das, obwohl es in der Stadt kein einziges grosses Opernhaus gibt. Dieses Jahr findet zudem die zwölfte Kunstbiennale von Istanbul statt. Auf der letzten waren Werke von siebzig Künstler-Innen aus sechzig Ländern vertreten.

«Als ich 1997 anfing zu studieren, gab es hier vielleicht zwei Ausstellungen mit Skulpturen pro Jahr», erzählt Yasam Sasmazer, eine dreissig Jahre alte Bildhauerin. «Wir haben uns an der Uni oft gefragt: Wo sollen wir bloss unsere Arbeiten zeigen?» Sie hat nach ihrem Abschluss alle möglichen Aufträge angenommen, um über die Runden zu kommen. Allein das Holz für eine ihrer Skulpturen kostet sie umgerechnet 1000 Euro. Bald darauf aber, 2005, gab es die erste Picasso-Ausstellung in Istanbul. Der Unternehmer Sakip Sabanci hatte der Stadt das erste Museum gestiftet, das internationalen Massstäben standhält. «Baut mir ein Museum, das so gut ist, dass ich dort Picasso zeigen kann», wurde er zitiert. Inzwischen gibt es mehrere solcher Häuser.

Sotheby’s hat letzten Monat ein Auktionshaus in Istanbul eröffnet. Internationale Kunst wird ausserdem seit sechs Jahren auf der jährlichen Messe Contemporary Art verkauft. 6000 BesucherInnen kamen im November zum Eröffnungsabend. Yasam Sasmazer knüpfte dort Kontakte ins Ausland. Inzwischen hat sie ein Atelier in Berlin und verkauft dort ihre Skulpturen für rund 20 000 Euro. Beyoglu ist nachts nun hell erleuchtet und bis morgens um vier Uhr drängeln sich vor allem junge Leute auf den Strassen, nicht wenige mit Bierdosen in der Hand. Denn für viele sind die Preise in den rund 4000 Bars und Discos im Zentrum einfach zu hoch.

Stadt der Vertriebenen

Istanbul, das Wirtschaftszentrum, die Filmstadt, die Modemetropole, die Residenz der Kunst und des Sports? Wenn das nur so einfach wäre. Die BesucherInnen sehen die neue Formel-1-Rennstrecke, sie sehen die restaurierte Altstadt, das verkehrsberuhigte Viertel um den Topkapi-Palast sowie die Hagia Sofia und sie sehen die unerschwinglichen Villen am Bosporus, wenn sie sich mit einem Schiff die alte Wasserstrasse hinauffahren lassen. Aber nur selten erleben sie, wie sehr es in den Seitenstrassen rumort.

Im letzten September hatten in Beyoglu mehrere Galerien am gleichen Abend neue Ausstellungen eröffnet. Plötzlich überfielen etwa dreissig Männer mit Stöcken und Knüppeln die Kunstinteressierten, die in der lauen Nacht zu Hunderten auf den Bürgersteigen ihren Rotwein tranken. Weingläser, Brillengläser und Schaufenster gingen zu Bruch – und auch die Hoffnung, man könne in wenigen Jahren die BewohnerInnen eines ganzen Viertels geräuschlos vertreiben. Rasch war klar: Es ging den Angreifern nicht um den «unislamischen Alkoholgenuss» auf der Strasse. Die Schläger kippten selbst gerne einen hinter die Binde. Es war die verzweifelte Wut einiger AnwohnerInnen, die dem unerbittlichen Druck der Mieterhöhung weichen müssen. Dabei verlieren sie nicht nur ihre Wohnung – ein über viele Jahre gewachsenes soziales Gefüge zerbricht, denn meist leben die ehemaligen BäuerInnen eines Orts zusammen in einem Stadtviertel.

Das Quartier der Roma wurde bereits abgerissen. Drei Jahre lang hatten die BewohnerInnen von Sulukule protestiert (siehe WOZ Nr. 26/07), Eingaben geschrieben, Filme gedreht, Solidaritätsadressen verfasst – vergeblich. Über 600 Jahre wohnten die Roma an der alten byzantinischen Stadtmauer.

Fatima ist bald sechzig Jahre alt. Ihr Mann starb früh. Er spielte in einer Musikgruppe in Bars und auf Hochzeiten. Jetzt hat sie nur noch ihren Enkel. Der Achtzehnjährige verdingt sich als Tagelöhner und verkauft nachts ab und zu im Stadtzentrum Blumen. Fatima hat Diabetes. Die Medikamente besorgte ihr bisher ein Nachbar, der ihr immer wieder seine Krankenversicherungskarte «lieh». Nun ist er weggezogen. Die ehemaligen BewohnerInnen wurden meist in ein vierzig Kilometer vor der Stadt gelegenes Quartier umgesiedelt. Und ihr Enkel? Wie soll der Arbeit finden, so weit vor der Stadt, fragt sie. Im alten Romaviertel sollen künftig TouristInnen flanieren, es liegt ja so praktisch auf dem Weg zum Flughafen. Die «Modernisierungspläne» für drei weitere Viertel sind schon gezeichnet. Der Bau eines mächtigen Hafens für Kreuzfahrtschiffe wird im Frühjahr ausgeschrieben.

15 000 Kilometer Wasserleitungen

Aber diese «Reibereien» erscheinen der Stadtverwaltung eher klein im Vergleich zum wuchtigsten Problem der Stadt: zu ihrer schieren Grösse. Sie hat inzwischen mehr EinwohnerInnen als viele EU-Staaten – und sie wächst in schwindelerregendem Tempo. Als in den sechziger Jahren die erste Brücke über den Bosporus geplant wurde, zögerten die Stadtväter zunächst. Sie waren sich nicht einig, ob eine Brücke überhaupt nötig sei, denn damals lebten gerade mal eine Millionen Menschen in Istanbul. Als die Brücke 1973 eingeweiht wurde, waren es schon über zwei Millionen. 2005 zählte man dann zehn Millionen. Inzwischen haben die Meldebehörden sogar 23 Millionen EinwohnerInnen in ihrer Kartei, aber sie wissen nicht, wie viele umgezogen sind, ohne sich abzumelden. Die Stadtverwaltung rechnet mit etwa fünfzehn Millionen EinwohnerInnen und einem Zuzug von jährlich rund 300 000 Menschen.

Welche Verwaltung schafft es, jedes Jahr die komplette Infrastruktur für eine Stadt fast in der Grösse von Zürich neu aufzubauen und zu organisieren? Auch in Istanbul gelingt das nicht. Immer wieder fällt der Strom aus, oder das Wasser wird abgestellt – aber das grosse Chaos bleibt aus. Allein das ist eine enorme Leistung.

Dabei ist die Wasserversorgung der Stadt ein schier unlösbares Problem. Wo das Wasser hernehmen? Der Oberbürgermeister Kadir Topbas, ein Mann mit dem strengen Lächeln eines Oberstudienrats, hält jedes Jahr eine Pressekonferenz zur Wasserversorgung Istanbuls ab. Man werde Wassertunnel bis nach Bulgarien graben – und Meerwasser in einer Aufbereitungs-anlage zu Trinkwasser umwandeln, verspricht er immer wieder. Trotzdem: In einem trockenen Sommer wie 2008 warten alle jeden Morgen auf die Meldung über den Wasserstand in den Seen um Istanbul – und auf die Nachricht, wann welche Stadtteile für wie viele Stunden vom Netz genommen werden. Je rascher die Stadt ins Umland wächst, desto schneller aber werden die Ufer selbst jener Seen zugebaut, die einst als Wasserreservoir für Istanbul dienten.

Selbst wenn es mehr als gewöhnlich regnet wie im letzten Jahr: Die Wasserwerke sollen nicht nur ständig neue Leitungen verlegen, sie müssen schon jetzt rund 15 000 Kilometer Rohre warten. Viele sind alt und brüchig. Bei manchen versickert auf dem Weg zum Waschbecken mehr als die Hälfte des Wassers im Erdreich. Zum Vergleich: Das Leitungsnetz in New York ist rund 10 000 Kilometer lang. Es dauere rund 110 Jahre, um das gesamte Netz zu erneuern, meinen die Fachleute dort.

Erdbeben und Dauerstaus

Etwa dreissig Jahre könnte es dauern, so Professor Mikdat Kadioglu von der Technischen Universität in Istanbul, um die oft liederlich gebauten Häuser, Kliniken und Schulen erdbebensicher zu machen. Der Mann weiss, wovon er spricht: Er gehört zum Katastrophenstab von Istanbul. Wenn er aus seinem Bürofenster schaut, blickt er auf viele ungepflegte Betonbauten, die wahrscheinlich nie einen ernsthaften Statiker gesehen haben.

Über fünfzig Prozent aller Gebäude in der Stadt seien schwarz, also ohne behördliche Genehmigung errichtet worden. Nach den Unterlagen des Professors müssten allein im Stadtteil Fatih, dem alten Viertel innerhalb der Stadtmauer, 38 500 Gebäude saniert werden, um sie bei einem schweren Erdbeben vor einem Einsturz zu bewahren. Das werde die Stadt insgesamt siebzehn Milliarden US-Dollar kosten, so seine vorsichtige Schätzung. Wenn nichts geschieht, dann werden mindestens 150 000 Menschen ums Leben kommen. Die Kosten für einen Wiederaufbau der zerstörten Viertel kämen dann wahrscheinlich auf vierzig Milliarden US-Dollar. In einem sind sich nämlich alle ErdbebenforscherInnen einig: Im Lauf der nächsten dreissig Jahre wird Istanbul ein Erdbeben mindestens der Stärke 7 erleben – nur wann genau, weiss niemand.

Schwarzbauten, die meist vor einer Kommunalwahl von den Behörden nachträglich legalisiert wurden, erschweren auch den Verkehr. Die Stadt wuchs ohne jeden Plan. Zwischen den wild wuchernden Wohnvierteln eine vernünftige Verkehrsverbindung zu schaffen, ist kompliziert. Achtzig Prozent der IstanbulerInnen halten den Verkehr für das grösste Problem in der Stadt. Die UrlauberInnen finden den Bosporus besonders reizvoll. Die Verkehrsplaner aber stellt er vor grosse Herausforderungen. Täglich pendeln rund 1,5 Millionen Menschen zwischen Europa und Asien übers Wasser. Eine Schienenverbindung gibt es nicht.

Die beiden Brücken über den Bosporus sind für rund 210 000 Fahrzeuge am Tag ausgelegt. Jetzt fahren täglich bis zu 460 000 darüber. Der Stau auf allen Zufahrtsstrassen ist damit programmiert. Der Tunnel, der für eine Schienenverbindung 2013 in Betrieb genommen werden soll, wird diese Staus nicht auflösen. Auch die geplante dritte Brücke nicht, denn in wenigen Jahren werden rund 600 000 Fahrzeuge täglich zwischen Asien und Europa pendeln, so schätzen VerkehrsexpertInnen. Dabei haben die meisten IstanbulerInnen bisher kein Auto. Doch das ändert sich. Zurzeit, sagte kürzlich der Oberbürgermeister, kommen auf Istanbuls Strassen jeden Tag 600 Fahrzeuge hinzu.

Und wie wäre es, von der Strasse aufs Wasser auszuweichen? Fehlanzeige. Die Istanbuler Stadtverwaltung kann nicht einfach mehr Fährschiffe einsetzen, denn schon jetzt passieren jeden Monat 4500 Frachter die Wasserstrasse zwischen dem Marmarameer und dem Schwarzen Meer. Mehr geht nicht. Die Türkei hat sich 1936 in einem internationalen Abkommen verpflichtet, alle Handelsschiffe unkontrolliert passieren zu lassen, auch wenn sie Giftiges oder Hochexplosives geladen haben. So werden jedes Jahr hundert Millionen Tonnen Rohöl mitten durch die Metropole geschippert. Trotz eines modernen Radarsystems schrammt Istanbul fast jedes Jahr an einer Katastrophe vorbei.

Die Geschichte rückt ins Blickfeld

«Kein Problem, das regeln wir schon», lautet der Spruch, den Neuankömmlinge in scheinbar aussichtsloser Lage Hunderte Male hören und der sie auf die Palme treibt. Aber wahrscheinlich kann man nur mit hartnäckigem Optimismus hier leben. Noch im Februar soll der historische Durchbruch unter dem Bosporus gefeiert werden. Der Rohbau des ersten Tunnels, der zwei Kontinente miteinander verbindet, wird fertig. Ab 2013 wird man mit dem Zug von London über Paris und Istanbul bis Teheran – später sogar bis Beijing – fahren können. Verkehrsminister Binali Yildirim will schon eine zweite Unterführung graben lassen.

Der Plan für die dritte Brücke ist bereits fertig. Damit aber werde nur die vierte Brücke gerechtfertigt, warnen UmweltschützerInnen. Der Bau eines dritten Flughafens für Istanbul ist bereits in Vorbereitung. Inzwischen entwerfen IngenieurInnen sogar einen «zweiten Bosporus». Für zwanzig Milliarden US-Dollar könnte eine neue Wasserstrasse zwischen dem Marmarameer und dem Schwarzen Meer gegraben werden, meinen sie. Nur so werde man die wachsende Zahl der Handelsschiffe und Tanker bewältigen. Tayyip Erdogan hatte schon in den neunziger Jahren einen ähnlichen Plan erwogen. Damals war er noch Bürgermeister von Istanbul.

Als Regierungschef in Ankara soll Erdogan vor wenigen Monaten ein weiteres Megaprojekt angestossen haben. An der Universität in Michigan, USA, sitzen PlanerInnen über Zeichnungen für ein «Neues Istanbul» am Schwarzen Meer, wenige Kilometer vom «Alten Istanbul» entfernt. Dort soll auf 75 Quadratkilometern eine nagelneue Trabantenstadt für rund 3,5 Millionen EinwohnerInnen entstehen.

Für sich hat Erdogan aber im alten Istanbul ein paar Gebäude des Dolmabahce-Sultanspalasts zu einem zweiten Regierungssitz umbauen lassen. Die türkische Zentralbank soll demnächst dauerhaft von Ankara an den Bosporus ziehen. Die Stadt will zum ersten Finanzplatz zwischen Europa und dem Orient werden. Istanbul sei einer der wenigen Orte der Welt, wo die Globalisierung nicht erlebt, sondern gemacht werde, sagen FinanzexpertInnen in London. Alle Medien haben ihren Sitz in Istanbul – und allenfalls ein zweites Büro in der Hauptstadt Ankara, die grossen Industriebetriebe sowieso. Inzwischen geht gut die Hälfte des türkischen Exports vom Bosporus aus in die Welt, auch die Hälfte aller Steuern wird hier bezahlt.

Je mehr sich die Stadt nach aussen öffnet, desto stärker rühren sich die BürgerInnen. Bürgerinitiativen, ein ganz neues Wort im Türkischen, wehren sich gegen das Abholzen von Bäumen, gegen ein geplantes liberaleres Waffengesetz oder die strengen Regeln im Studentinnenwohnheim. Auch das Wort Denkmalschutz ist seit einigen Jahren kein Fremdwort mehr. Künstlerinnen, Wissenschaftler und Architektinnen erinnern sich der Geschichte der Stadt. Was wäre Istanbul ohne die ArmenierInnen, ohne die griechische Architektur? Solche Fragen waren vor zehn Jahren noch tabu. Heute sind ihnen Museumsausstellungen gewidmet. Istanbul wird Unterrichtsstoff an den türkischen Schulen und ist Schauplatz für deutsche Krimiserien. Es entwickelt sich auch zu einer Destination für GesundheitstouristInnen aus aller Welt, die in der Stadt preisgünstig neue Zähne und Brillen erstehen oder sich Fett absaugen lassen. Und nun will sich Istanbul auch noch für die Olympischen Spiele 2020 bewerben.

Istanbul, sagt die türkische Dichterin Gülten Akin, ist mehr als ein Teil der Türkei. Es war der Sitz von 88 byzantinischen Kaisern und 36 osmanischen Sultanen, es hat rund vierzig Erdbeben und sechzig Feuersbrünste überstanden, dazu ein Dutzend Belagerungen, die Plünderung durch die Kreuzfahrer, die Eroberung durch die osmanischen Reiter und die Besetzung durch britische Truppen, eine Revolution, drei Militärputsche und die Bomben islamistischer Terroristen. Istanbul, meint sie, ist ein Land ohne Hauptstadt.

Dieter Sauter lebt seit Januar 1991 in Istanbul. Dreizehn Jahre lang war er ARD-Fernsehstudioleiter in der Türkei; heute dreht er Filme, fotografiert und schreibt für die WOZ.