Kunst in der Türkei: Das Schaffen zwischen Repression und Selbstbehauptung
Vor den Wahlen im Mai zieht der autoritäre Präsident Erdoğan die Daumenschrauben gegenüber türkischen Kunst- und Kulturschaffenden an. Doch die zeigen demonstrativ Präsenz.
«Natur». «Gerechtigkeit». «Gleichheit». Die Besucher:innen des alten Gaswerks Müze Gazhane im Istanbuler Stadtteil Kadıköy staunten vergangenen September nicht schlecht, als sie die Performance «Flag’s Project» betrachteten. Bei der Arbeit der indonesischen Künstlerin Arahmaiani für die 17. Istanbuler Kunstbiennale schwangen die Tänzer:innen auf einer riesigen Bühne Fahnen mit Codewörtern des zivilen Ungehorsams, die schon im Gezi-Aufstand 2013 eine Rolle gespielt hatten.
Der letzte Kunstherbst am Bosporus war eine kleine Überraschung. Mit jedem Dekret ihres autokratischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan rückt die Türkei näher in Richtung Diktatur. Doch wie um klarzumachen, dass die unabhängige Kunst nicht aufgibt, zeigte diese demonstrativ Präsenz. Dass die Biennale widerständige türkische Kunst- und Ökologieinitiativen mit internationalen Pendants in einem Dutzend Istanbuler Art Spaces vernetzte, war dabei ebenso ein Zeichen wie die Präsentation der Funde aus dem bis dato nahezu unbekannten Frauenarchiv der Stadt Istanbul in einem von ihnen.
Heikle Themen
Von einer Revue der türkischen Performancekunst der neunziger Jahre im Kunsthaus Salt bis zur feministischen Schau «Mis(s)placed Women?» im Kunstraum «Depo» des seit viereinhalb Jahren inhaftierten Kunstmäzens Osman Kavala reichte die unübersehbare Anzahl von Ausstellungen im Rahmen der Biennale. Selbst der 2017 aus dem Amt als Chef des avantgardistischen Kunstverbunds Salt gedrängte Kurator Vasif Kortun betreute eine Schau der israelischen Künstlerin Nira Pereg zu Sicherheit und Kontrolle im öffentlichen Raum – ein heikles Thema in der Türkei. An jeder Strassenecke in Istanbul stehen Tag und Nacht schwer bewaffnete Polizeieinheiten Gewehr bei Fuss, um spontane Demonstrationen sofort zu unterbinden.
Das Yapı-Kredi-Kulturzentrum im Herzen des Touristenviertels Beyoğlu zeigte unter dem Titel «Leben, Tod, Liebe und Gerechtigkeit» eine Ausstellung, die das brutale Vorgehen des türkischen Militärs im kurdischen Südosten oder die 2018 verbotene Demonstration der «Samstagsmütter» aufgriff. Seit 1995 hatte diese Organisation von Angehörigen und Bürgerrechtlerinnen, die nach dem Verbleib von in Polizeihaft «verschwundenen» Personen fahnden, vor dem Galatasaray-Gymnasium in Beyoğlu demonstriert. Und für ein Land, dessen Regierung regelmässig die LGBTQ+-Märsche niederknüppeln lässt, war es ein Wagnis, dass die kommerzielle Kunstmesse «Contemporary Istanbul» des Tourismusunternehmers Ali Güreli in ihrem Skulpturenpark die Plexiglasstatue eines Kindes mit einer Regenbogenfahne aufstellte.
In diesem Jahr wartet die Szene gespannt auf die Wiedereröffnung des privaten, vom Stararchitekten Renzo Piano neu errichteten Kunstmuseums İstanbul Modern der Unternehmerfamilie Eczacıbaşı, die auch die Istanbul-Stiftung für Kultur und Kunst (IKSV) finanziert, die die 1987 gegründete Biennale trägt. Anfang Oktober 2022 hatte der Staatspräsident höchstpersönlich das neue Haus der Kunstsammlung der renommierten Istanbuler Mimar-Sinan-Kunstuniversität am alten Hafen Istanbuls eröffnet. Alles in Ordnung also mit Kunst und Kultur am Bosporus?
Verschärfter Zugriff
Das herbstliche Zwischenhoch ist kein Grund für Entwarnung. Sechs Wochen vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im symbolträchtigen 100. Jahr der Republikgründung von 1923 versuchen Erdoğan und seine Partei, die AKP, ihren Zugriff auf das Land zu verschärfen. So ziehen sie populistisch die Daumenschraube an, wie die vom Präsidenten höchstpersönlich vergangenen Sommer losgetretene Hatz auf die türkische Popdiva Sezen Aksu zeigte. Die hatte sich in einem Lied über den biblischen Adam lustig gemacht. Über Nacht wurde Aksu zur Hassfigur für türkische Islamisten, denn der Lebensabschnittsgefährte von Eva wird im Islam als Prophet verehrt. Ein Anwalt in Ankara reichte Strafanzeige wegen religiöser Volksverhetzung gegen sie ein, vor ihrem Haus in Istanbul demonstrierte eine islamisch-nationalistische Gruppe. Die türkische Religionsbehörde Diyanet, eine Art Religionsministerium, verurteilte einen «Mangel an Respekt» für Adam und Eva.
Die Rundfunkaufsichtsbehörde RTÜK wollte damals alle Musiksender bestrafen, die das seit 2017 unbeanstandet gespielte Lied ausstrahlen. Der Kulturkämpfer Erdoğan setzte sich an die Spitze der Kritiker:innen. Er werde nicht zulassen, dass jemand dem Propheten Adam die Zunge herausstrecke, sagte er in einer Moschee. «Es ist unsere Pflicht, diese Zunge herauszureissen.» Reihenweise wurden auch Theateraufführungen, Konzerte und Festivals verboten.
Von ähnlicher Qualität war die Schmierenkampagne gegen den Film «Kurak Günler» («Burning Days») um den Jahreswechsel. Das türkische Kulturministerium forderte seine Unterstützung von 165 000 Franken für den in Cannes im Mai 2022 uraufgeführten Film des Regisseurs Emin Alper zurück. Regierungsnahe Medien verunglimpften das Werk, in dem ein junger Staatsanwalt in der Kleinstadt Yanıklar bei seinen ersten Mordermittlungen in einen politischen Konflikt hineingezogen wird, als «LGBT-Propaganda».
Die Kampagne gab einen Vorgeschmack auf die Verfassungsänderung, die Präsident Erdoğan im Vorfeld des Wahlkampfs angekündigt hatte. Damit will er die «Werte der Familie» absichern. «Eine starke Nation setzt eine starke Familie voraus», dekretierte Erdoğan. «In letzter Zeit haben sie der Gesellschaft LGBT untergejubelt. Mit LGBT streben sie danach, unsere Familienstrukturen zuuntergraben.»
Drei Jahre Haft für einen Tweet
Im Visier hat die islamistische Staatsmacht bei ihrem aktuellen Grossreinemachen vor allem die sozialen Medien. Im Oktober 2022 verabschiedete das türkische Parlament ein neues Mediengesetz. Wegen eines unbedachten Tweets kann man in der Türkei nun für drei Jahre ins Gefängnis wandern. «Dieses Gesetz erklärt der Wahrheit den Krieg», sagte die Abgeordnete Beral Bektas von der prokurdischen HDP. Der Abgeordnete Burak Erbay von der säkularen CHP zerschlug im Parlament sein Mobiltelefon auf dem Rednerpult demonstrativ mit einem Hammer.
Wie um zu zeigen, dass er die sozialen Medien notfalls so strikt an die Kandare nimmt wie die herkömmlichen, die inzwischen zu 95 Prozent regierungsnahen Konzernen gehören, liess Erdoğan nach dem Erdbeben von Anfang Februar zeitweilig den Zugang zu Twitter sperren, angeblich um «Desinformation» zu verhindern. Vor wenigen Tagen blockierte ein Richter die von der Freedom of Expression Association (İfade Özgürlüğü Derneği – IFÖD) betriebene Plattform Engelliweb, die Fällen von Internetzensur in der Türkei nachgeht. Sie hatte herausgefunden, dass allein 2021 knapp 110 000 Webadressen im Land geschlossen worden waren.
Dennoch lebt die Zivilgesellschaft. Die Frauenrechtlerin Gülnür Aksop berichtet, dass seit dem von Erdoğan verfügten Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention auf Initiative der EŞİK-Frauenplattform für Gleichstellung jede Woche ein Onlinemeeting von 300 Frauenverbänden organisiert wird. Wie sehr die Regierung derlei Selbstorganisation fürchtet, zeigt das Beispiel von Ahbap. Schnell geriet die private Hilfsorganisation des türkischen Sängers Haluk Levent, die nach dem Erdbeben Anfang Februar in wenigen Tagen fünfzig Millionen Euro gesammelt hatte, ins Visier der Regierung. Diese geisselte die Konkurrenz zur staatlichen Katastrophenschutzbehörde AFAD als Landesverrat.
Und auch wenn es vielleicht in den Hintergrund rückte: Pars pro toto steht seit 25 Jahren die Publizistin und Soziologin Pınar Selek. Bekannt geworden mit aufsehenerregenden Untersuchungen zu Transsexuellen, Strassenkindern und Sexarbeiter:innen, geriet sie 1998 nach einer Explosion am Istanbuler Basar unter Terrorverdacht und wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Am 31. März wird ihr Prozess fortgesetzt.
Noch immer steht auch der Exiljournalist Can Dündar auf der «grauen Liste» der meistgesuchten «Terroristen» des türkischen Innenministeriums. Der zu 27 Jahren Haft verurteilte ehemalige Chefredaktor der Zeitung «Cumhuriyet», der seit 2016 in Berlin lebt und dort die Internetplattform Özgürüz betreibt, hatte über die illegalen Waffenlieferungen der türkischen Regierung an extremistische Gruppen in Syrien berichtet. Die Regierung zog sein Vermögen ein.
Kulturoffensive ohne Anklang
Es gehört freilich zu den Paradoxien der «Neuen Türkei», die Erdoğan aufbauen wollte, dass der immer rigideren politischen Dominanz und polizeilichen Repression keine wirkliche kulturelle Hegemonie entspricht. «Politische Macht ist eine Sache. Sozial und kulturell zu regieren ist eine ganz andere Sache. Wir sind seit vierzehn Jahren an der Macht, aber wir haben immer noch Probleme im sozialen und kulturellen Bereich», sagte der Staatschef schon 2017 vor der islamischen Erziehungsstiftung Ensar.
Seine ein Jahr später lancierte Gegenoffensive in Gestalt der Yeditepe-Biennale für die traditionellen Künste wie Kalligrafie, Miniaturmalerei oder Goldschmiedekunst fand jedoch wenig Anklang. Und was nützen die 164 Museen, die Erdoğan in den letzten zwanzig Jahren eröffnet haben will, wenn sich dort immer weniger Künstler:innen etwas trauen?
Ähnlich zwiespältig ist die Bilanz von Erdoğans Symbolpolitik. Über die Phalanx von sechzehn martialischen Kriegern in historischen Kostümen, mit Speeren, Schildern und Schwertern, die seit ein paar Jahren seine Staatsgäste im Tausendzimmerpalast in Ankara eskortieren, amüsieren sich selbst Erdoğans Anhänger:innen. Sie symbolisieren die sechzehn historischen Reiche Anatoliens seit der Antike. «Ottomanischer Zirkus im Palast», twitterte der bekannte türkische Journalist Kadri Gürsel über die Maskerade.
Die Zahl der Gläubigen sinkt
Zumindest einen symbolischen Punktsieg im Kulturkampf verbuchte der Präsident am zentralen Taksim-Platz von Istanbul, auf dem das Denkmal der Republik steht und der 1977 zum Schauplatz einer von der Polizei blutig niedergeschlagenen Maidemonstration geworden war. Das renovierte Atatürk Kültür Merkezi (AKM) auf der Kopfseite des Platzes, ein kemalistischer Symbolbau aus den siebziger Jahren, der den Aufständischen von Gezi 2013 als Plakatwand, Depot und Rückzugsraum gedient hatte, hat Erdoğan mit einer riesigen Moschee auf der gegenüberliegenden Seite gekontert. Nun stehen sich hier Kuppel und Rechteck demonstrativ gegenüber.
Von der «frommen Generation», die Erdoğan aufzuziehen versprach, ist bislang freilich wenig zu sehen. Landesweit kam es zum Neubau von Moscheen, Koranschulen wurden privilegiert, der Religionsunterricht an allgemeinen Schulen durch Wahlfächer wie «Das Leben des Propheten» und «Koran» ausgebaut. Entgegen den Vereinbarungen soll die 2010 gegründete Türkisch-Deutsche Universität in Istanbul, so war es kürzlich beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) zu hören, auf türkischen Druck eine religionswissenschaftliche Fakultät erhalten.
Der Missionierungswahn trieb dieser Tage bizarre Blüten. Die Religionsbehörde Diyanet, die einen der höchsten Etats aller Regierungseinrichtungen hat, entblödete sich nicht, als «Soforthilfe» Tausende Koranausgaben und Zelte, in denen Kleinkinder Koranunterricht erhalten können, in die Erdbebengebiete zu liefern. Bei der Diskussion um Waisenkinder, die ihre Eltern bei dem Erdbeben verloren haben, plädierte die Behörde dafür, diese zur Hochzeit freizugeben. Doch trotz dieser forcierten Bemühungen sinkt die Zahl der muslimischen Gläubigen in der Türkei statistischen Erhebungen zufolge kontinuierlich.
Zumindest ein Grossteil der liberalen Intelligenz im Lande hält sich lieber an die profane Andacht in Gestalt der Kunst. Sie besucht statt Moscheen und Koranschulen die Privatmuseen der grossen Industriellenfamilien wie Koç, Sabancı oder Borusan. Ökonomisch agieren diese Clans zwar opportunistisch, kulturell sind sie aber liberal und säkular bis ins Mark. Auch wenn vielen Kulturschaffenden sauer aufstösst, dass keiner dieser Grossen je seine Stimme für die Freilassung Osman Kavalas erhoben hat. Und das, obwohl der kunstbegeisterte «rote Millionär», der am wenigsten reiche unter den Superreichen der Türkei, wie sie dem grossbürgerlichen Lager entstammt.
Merkwürdigerweise kann das Projekthaus Depo, das auch diverse Nichtregierungsorganisationen beherbergt, unbehelligt eine Ausstellung an die andere reihen. Das Haus wird von Kavalas ebenso merkwürdigerweise weiterhin bestehender Stiftung Anadolu Kültür betrieben, gleich unterhalb des historischen Galataturms. Im Hinterhof sendet Açık Radyo, der einzige verbliebene unabhängige Radiosender der Türkei.
Zu der verrückten Dialektik der Repression gehört, dass der zunehmende Druck der Regierung die Kreativszene auch zu beflügeln scheint. Pınar Yıldırım, die Gründerin des Emek-Theaters in Kadıköy, Istanbuls liberalem Stadtteil auf der asiatischen Seite, in den sich die Kulturszene verlagert hat, hat mehrere Dutzend neue, private Theater gezählt, die als Reaktion auf die immer stärkere Gängelung der öffentlichen Bühnen gegründet wurden. Vor ein paar Jahren war ihr Haus über Nacht mit einem Stück namens «Sadece Diktatör» bekannt geworden. In dem später verbotenen Einmannstück sinnierte ein Machthaber über seinen Aufstieg.
Traumata der Gegenwart
Auch die bildende Kunst lässt sich nicht die Show stehlen. Wer dieser Tage zum Gallery Hopping durch Istanbul antritt, kann eine Reihe von Ausstellungen sehen, die offen die Traumata der Gegenwart thematisieren. Die Fragmente einer Keramikskulptur, die der türkischen Künstlerin Burçak Bingöl an genau dem Tag des Jahres 2016 im Ofen zersprang, als in Istanbul ein Bombenattentat verübt wurde – zu sehen derzeit in der Istanbuler Galerie Galerist –, sind ein Sinnbild für die Erschütterungen und Fliehkräfte, denen die türkische Zivilgesellschaft immer wieder unerwartet ausgesetzt ist.
Das Verborgene sichtbar zu machen und auszusprechen, was zum Schweigen gebracht wurde, sind zentrale Themen in der Schau «Collective Healing» im neu eröffneten Kulturzentrum Metrohan. Mehr als ein Dutzend Künstlerinnen, die meisten mit Verbindungen zur Türkei, setzen sich mit Themen wie «geschlechtsspezifische Gewalt» und «repressive soziale Normen» auseinander.
In ihrer Arbeit «Life Dress» hat die Künstlerin Alicia Framis Airbags aus Hightechmaterial zu Schutzkleidern für Frauen umfunktioniert, die Gewalt und sexueller Belästigung ausgesetzt sind. Mit ihrer Fotografie «Nowhere-Body-Here» entwirft İnci Eviner ein surreales Tableau am zerklüfteten Rand Istanbuls, eine Antwort auf heftig umkämpfte urbane Transformationsprozesse. Und die Einnahmen ihrer feministischen Dinnerperformance «Analı Kızlı (With Mother and Daughter)» vom Dienstag dieser Woche, bei der Speisen der türkischen Küche serviert wurden, die den Namen weiblicher Körperteile tragen, spendet die Künstlerin Mehtap Baydu jungen Frauen in den Erdbebengebieten.
Mit der Ausstellung will Kuratorin Ayça Okay unkonventionelle Wege der Heilung erforschen, Wege, die es erfordern, «direkt in den Schmerz zu schauen». Nach vielen Jahren verschärfter Einschränkungen der Meinungsfreiheit täten die Menschen in der Türkei nun genau das, fügt sie hinzu und bezieht sich auf den Aufschrei darüber, wie die Regierung mit der Katastrophe des letzten Monats umgegangen ist. «So viele Dinge sind nach den Erdbeben weg, aber die Autorität der Regierung ist ebenfalls weg», sagte Okay. «Es hat die Angst vermindert, die früher die Gesellschaft im Griff hatte.»
«Queer Art» in Ankara
Bislang war die Kunstszene auf Istanbul fixiert. Inzwischen öffnen aber auch in der «Provinz» immer mehr selbstorganisierte Art Spaces jenseits der auf die liberale Elite fixierten Musentempel der grossen Industriellenfamilien und der grossen Galerien. Der Videokunstraum Monitor in Izmir beispielsweise veranstaltet streng konzeptionelle Schauen.
Ausgerechnet in der kulturell eher verschlafenen Hauptstadt Ankara hat mit dem Ankara Queer Art Program eine Künstler:innenresidenz eröffnet, die sich auf die «Möglichkeiten künstlerischer Ausdrucksformen queerer Politik» fokussiert. 380 Kilometer entfernt, in der alten osmanischen Hauptstadt Bursa, bislang nicht gerade ein Kunsthotspot, will das 2021 gegründete İmalat-Hane dem Istanbuler Mainstream eine Art besonders avancierter Alternative entgegensetzen.
Und der Art Space Fırın im mittelanatolischen, von der CHP-Opposition regierten Eskişehir denkt aus ästhetischer Perspektive über die Wasserkrise in der Türkei nach. Die liberale Student:innenstadt unter ihrem reformfreudigen Bürgermeister Yılmaz Büyükersen ist seit 2019 zudem Sitz des privaten Museums Odunpazarı des Stararchitekten Erol Tabanca.
Die politische Bedeutung der Kunst hat neuerdings auch die Stadt Istanbul erkannt. Das unter dem Namen Müze Gazhane neu eröffnete alte Gaswerk im Stadtteil Kadıköy, Schauplatz von Arahmaianis Flaggenparade, ist eines von sechs neuen, in der Türkei beispiellosen öffentlichen Kunst- und Kulturzentren, mit denen Bürgermeister Ekrem İmamoğlu von der oppositionellen CHP neue Freiräume öffnen will. Der volksnahe Kunstfreund hat ihr demokratisches Potenzial erkannt.
So changiert die Lage der Kunst am Bosporus derzeit zwischen Repression und Selbstbehauptung. Gebannt warten alle auf den Ausgang der Wahlen am 14. Mai. Gewinnt Erdoğan erneut, dürften die letzten verbliebenen Künstler:innen und Intellektuellen ihre Koffer packen.
«Wann, wenn nicht jetzt»?, antwortet der Istanbuler Architekt Murat Tabanlıoğlu beim Gespräch im Café des AKM Anfang März auf die überall diskutierte Frage nach den Aussichten für einen Machtwechsel und wirft die Arme in die Luft. Tabanlıoğlu gilt als einer der führenden Vertreter:innen seiner Zunft in der Türkei. Er hatte den durch das Erdbeben von 1999 in Mitleidenschaft gezogenen kemalistischen Symbolbau seines Vaters zwar nicht detailgetreu, aber doch nach dem Vorbild der Pläne seines Vaters neu aufgebaut – auf Geheiss der AKP-Regierung. «Aber wenn es wieder nicht klappt», fügt er hinzu, «müssen sie uns ein Plätzchen in Europa reservieren.»
Sollte die Opposition dagegen die Wahlen tatsächlich gewinnen, könnte sich womöglich das Kunstwunder wiederholen, das das Magazin «Newsweek» 2005 mit seinem Titel «Cool Istanbul» bejubelt hatte. Doch dazu müssten die Tausende Künstler:innen, Intellektuelle und Kreative, die die Türkei in den vergangenen Jahren verlassen haben, erst einmal in das nicht nur wegen des Erdbebens schwer gebeutelte Land zurückkehren.