Wie weiter in Nordafrika?: «Die Islamisten müssen dringend eingebunden werden»

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Vor zwei Wochen verliess der bisherige tunesische Präsident Zine al-Abidine Ben Ali Hals über Kopf sein Land. Wie geht es nun weiter? Welche Rolle werden die Islamisten künftig spielen? Und welches arabische Regime fällt als Nächstes? Erklärungen der Schweizer Maghreb-Expertin Isabelle Werenfels.


WOZ: Frau Werenfels, überraschend schnell verliess der tunesische Präsident Ben Ali vor zwei Wochen sein Land. Die Übergangsregierung wird aber nach wie vor von Leuten der alten Garde dominiert. Wie können sie sich an der Macht halten?

Isabelle Werenfels: Dass Ben Ali so schnell gehen musste, hat viel mit der starken Personalisierung des tunesischen Systems zu tun. Die politische und ökonomische Macht konzentrierte sich bei ihm und seiner Familie. Entsprechend hat sich die Wut der Tunesier auf sie gerichtet. Doch die Tunesier unterscheiden sehr wohl zwischen dieser Topelite und dem Staat. Die staatliche Verwaltung funktioniert relativ gut, darum hat sich Tunesien wirtschaftlich relativ gut gehalten. Dieser Staat kann nun Stabilität garantieren. Und das ist, was ein Teil der Tunesier will – sie haben Angst, dass ihr Land ins Chaos stürzt.

Doch noch immer kommt es täglich zu Demonstrationen, in denen der Rest der alten Garde aufgefordert wird, zurückzutreten.

Aber die Demonstrationen nehmen ab. Bevor Ben Ali flüchtete, waren sich alle Tunesier einig. Jetzt gibt es zwei Strömungen. Mir haben in den letzten Tagen Leute, die der kommunistischen Partei nahestehen, geschrieben, sie würden die Übergangsregierung unterstützen – zumindest so lange, wie sie sich an ihre Versprechen hält: eine Amnestie für die politischen Gefangenen, Pressefreiheit und baldige Neuwahlen.

Die letzte grosse Revolution im Nahen Osten brachte 1979 im Iran die Islamisten an die Macht. Dasselbe gilt für demokratische Wahlen – in Algerien, Palästina, der Türkei. Welche Rolle werden die Islamisten in Tunesien spielen?

Es kommt drauf an, wie schnell die wichtigen islamistischen Gruppierungen eingebunden werden – was ich übrigens für dringend nötig halte! Wenn das gelingt, werden die Islamisten bei den kommenden Wahlen wohl kaum sehr stark abschneiden.

Wie gross ist der Bevölkerungsanteil, den die Islamisten repräsentieren?

Das weiss man nicht. In den Parlamentswahlen von 1989 haben sie landesweit dreizehn Prozent und in den Städten bis zu dreissig Prozent der Stimmen geholt – dann begann Ben Ali mit der Repression. Ich schätze aber, dass sie bei den Neuwahlen eher schlechter abschneiden werden. Es waren nicht Islamisten, die die aktuelle Revolution angeführt haben. Zudem ist die tunesische Gesellschaft zu modern, zu säkular, zu pragmatisch.

Was erhoffen Sie sich von der Einbindung der Islamisten?

Dass die gesamte Bevölkerung repräsentiert wird. Und dass sich die Islamisten nicht als Opfer und als einzige wahre Opposition gebärden können. Zudem hat sich fast überall gezeigt: Wenn die Islamisten Verwaltungsaufgaben übernehmen müssen, werden sie pragmatischer.

Die türkische AKP hat in den letzten Jahren an der Regierungsspitze bewiesen, dass sie die Demokratie respektiert. Und auch die meisten Islamisten wie etwa die ägyptischen Muslimbrüder geben sich mittlerweile demokratisch. Wo steht die Nahda, die islamistische Partei Tunesiens?

Sie gehört zu den fortschrittlichsten islamistischen Parteien. Sie ist demokratisch und pluralistisch. Ende der achtziger Jahre existierte eine intellektuelle Gruppe, die sich «Die Progressiven» nannte – die haben spannende Publikationen herausgegeben. Dann wurde die Gruppe verboten. Einzelne Mitglieder betätigten sich dann als Journalisten und in Menschenrechtsorganisationen. Viele gingen ins Exil. Die grosse Unbekannte ist aber: Wie viele Dschihadisten gibt es? Wie viele nichtorganisierte, dem Radikalismus zugeneigte Junge? Es gibt viele junge Tunesier, die irgendwo auf der Welt kämpfen – im Irak und anderswo. Mit dem nationalistischen Kampf der Nahda haben diese Leute aber nichts zu tun.

Sie beraten die deutsche Regierung. Welche Rolle werden Deutschland und Europa insgesamt künftig in Tunesien spielen?

Ich hoffe, dass sie begreifen, dass Diktatoren keine Stabilität bringen. Und: dass sie keine Einschränkungen der Demokratie gutheissen sollten, nur weil sie Angst vor einem islamistischen Wahlsieg haben. Es sieht nun aber so aus, als ob sie ihre bisherige Politik gegenüber dem südlichen Mittelmeerraum hinterfragen werden – vieles wird davon abhängen, ob Frankreich umdenkt.

Frankreich?

Die Franzosen waren schon immer besonders islamistenfeindlich.

Unter den Islam- und Nahostexperten vertreten die Franzosen aber besonders liberale Positionen.

Natürlich, etwa Olivier Roy [siehe das Interview in WOZ Nr. 51+52/10]. Aber bei Staatspräsident Nicolas Sarkozy sind sie nicht wirklich durchgedrungen.

Als die Hamas 2006 die palästinensischen Wahlen gewann, weigerte sich die EU, die neue Regierung anzuerkennen. So etwas wird also nicht mehr passieren?

In Tunesien eher nicht. Im Fall der Hamas spielte Israel eine grosse Rolle. Bei Israels direkten Nachbarn ist für die Europäer immer auch die Frage wichtig: Welche politische Kraft ist israelfeindlicher? Wenn – was sehr unwahrscheinlich ist – in Tunesien israelfeindliche Islamisten an die Macht kämen, dann würde die EU das weniger als Bedrohung sehen.

In welchem arabischen Land kommt es als Nächstes zu einer Revolution?

In keinem so schnell. Die Rahmenbedingungen sind nicht gegeben. Anders als die meis-ten arabischen Staaten hat Tunesien eine moderne Gesellschaft. Es ist keine vertikal organi- sierte Stammesgesellschaft wie etwa Libyen, in dem sich klientelistische Strukturen durch die Gesellschaft ziehen. Am stärksten gefährdet ist Ägypten. Im November stehen Präsidentschaftswahlen an. Es wird vermehrt zu Unruhen kommen, die Eliten werden sich überlegen, ob sie Präsident Hosni Mubarak weiterhin stützen. Aber eine Revolution wird es kaum geben.

Warum nicht?

Auch in Ägypten gibt es weitreichende klientelistische Strukturen und eine breite Elite, die sich an der Macht halten will. Zudem existieren mehr politische Ventile als in Tunesien.

Was ist mit Algerien, wo es derzeit auch viele Proteste gibt?

Da sieht es ähnlich aus wie in Ägypten. Hinzu kommt eine extrem fragmentierte Gesellschaft: Das Regime spielt die einzelnen Gruppen gegeneinander aus. Algerien und Libyen können zudem auf Geld aus dem Erdöl- und Erdgasgeschäft zurückgreifen, um die Leute zu kaufen.

Die promovierte Ethnologin Isabelle Werenfels arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Naher Osten und Afrika bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Unter anderem ist von ihr erschienen: «Managing Instability in Algeria: Elites and Political Change since 1995», Routledge 2007.