Arabischer Frühling: Hoffnung und Gewalt
Fünf Jahre nach dem Beginn des Arabischen Frühlings fällt die Bilanz ernüchternd aus. In vielen Ländern leben die Menschen heute unter schwierigeren Bedingungen als 2011.
Tunesien
Die Jasminrevolution gilt als einzige geglückte Revolution des Arabischen Frühlings. Am 14. Januar 2011 war Machthaber Zine al-Abidine Ben Ali nach wochenlangen Protesten ins Exil geflüchtet. Im Herbst 2011 fanden Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung statt, 2014 folgten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Die neue Regierung besteht jedoch aus vielen alten Gesichtern – Ministerpräsident Habib Essid etwa gehörte schon zur alten Elite. Der Selbstmord des Tunesiers Mohamed Bouazizi hatte den Arabischen Frühling ausgelöst. Der 26-Jährige zündete sich am 17. Dezember 2010 aus Protest gegen Polizeiwillkür selbst an. Während der Aufstände wurden rund 340 Personen getötet. Am 22. Januar 2016 sind erneut landesweite Proteste für «Arbeit, Freiheit, Würde» ausgebrochen. Es sind dieselben Slogans wie 2011.
Marokko
In Marokko rief 2011 die Bewegung «20. Februar» zum Protest gegen die autoritäre Monarchie von Mohammed VI. auf. Der König reagierte mit Zuckerbrot und Peitsche: Er versprach demokratische Veränderungen, eine neue Verfassung und mehr Arbeitsplätze, liess zugleich jedoch die Demonstrationen überwachen. Seine Strategie ging auf: Bei den Aufständen in Marokko wird heute von einer «sanften Revolution» gesprochen. Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im November 2011 erhielt die islamistische Partei für Gerechtigkeit die meisten Sitze. Deren Führer Abdelilah Benkirane wurde der erste islamistische Ministerpräsident in Marokkos Geschichte. Dem König obliegt aber auch nach der Verfassungsreform faktisch die Entscheidungshoheit. ExpertInnen bezweifeln deshalb, dass es in Marokko mehr Demokratie geben wird. Viele DemonstrantInnen von damals sitzen heute im Gefängnis, Folter soll Verdächtige zum Reden und KritikerInnen zum Schweigen bringen. Mindestens fünf Personen sind während der Unruhen ums Leben gekommen.
Jordanien
An den sozialen Protesten in Jordanien beteiligte sich 2011 neben der Protestbewegung «Jugendliche des 24. März» auch die traditionelle Opposition, die Muslimbruderschaft. Letztere forderte eine konstitutionelle Monarchie. Wie in Marokko fand in Jordanien aber lediglich eine Verfassungsreform von oben statt: Der jordanische König Abdullah II. ersetzte den als korrupt geltenden Ministerpräsidenten Fajes al-Tarawneh und nahm kleinere Verfassungsänderungen vor. Im Unterschied zu Marokko sahen die Reformen aber nicht einmal eine symbolische Beschneidung der königlichen Macht vor.
Algerien
Im Vergleich zu Tunesien, Ägypten und Libyen fielen die Aufstände in Algerien weniger intensiv aus. In den neunziger Jahren tobte ein Bürgerkrieg, in dem sich islamistische Gruppen und die Regierung bekämpften; in bestimmten Regionen halten die Konflikte bis heute an. Wegen dieser jüngsten Vergangenheit hatten viele Menschen Angst vor chaotischen Zuständen, wagten deshalb keine grösseren Demonstrationen. Die spontanen sozialen Proteste im Jahr 2011, die sich etwa an steigenden Nahrungsmittelpreisen entzündet hatten, liess die Regierung von Präsident Abdelasis Bouteflika niederschlagen. Gleichzeitig befriedete Bouteflika, der bereits seit 1999 an der Macht ist, die aufgeheizte Stimmung, indem die Regierung die Hauptforderung der DemonstrantInnen erfüllte: Der seit neunzehn Jahren anhaltende Ausnahmezustand wurde Ende Februar 2011 aufgehoben. Heute ist der 78-jährige Herrscher wegen schwerer Krankheit weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden. Viele AlgerierInnen fürchten, dass das Land nach seinem Tod wieder ins Chaos stürzen könnte.
Libyen
Im Vergleich zu Tunesien und Ägypten spitzten sich die Aufstände in Libyen rapide zu, das Regime von Machthaber Muammar al-Gaddafi reagierte auf die sozialen Proteste mit Repression. Der Aufstand weitete sich zum Bürgerkrieg aus. Unter Gaddafi waren Parteien und zivilgesellschaftliche Organisationen verboten, Stammesloyalitäten umso wichtiger. So stellten sich zunehmend auch Diplomaten und Militärs auf die Seite der Aufständischen, um ihre Familien und Städte zu schützen. Entscheidend für Gaddafis Sturz war der Nato-Einsatz 2011, bei dem Flugzeuge der Allianz das Land bombardierten. Im August 2011 flohen Teile der Gaddafi-Familie; Gaddafi selbst wurde zwei Monate später von RebellInnen aufgespürt und starb unter nicht aufgeklärten Umständen. Nach seinem Tod verschärfte sich der Konflikt. 2014 sah sich die Bevölkerung mit zwei rivalisierenden Regierungen konfrontiert, zugleich gewann der Islamische Staat an Einfluss. Im Dezember 2015 unterzeichneten die Konfliktparteien nach monatelangen Verhandlungen einen Friedensplan. Laut der Uno sind in Libyen rund 8000 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert. Allein 2011 starben zwischen 10 000 und 50 000 Menschen.
Ägypten
Siebzehn Tage nach Beginn der Proteste auf dem Kairoer Tahrirplatz trat am 11. Februar 2011 Machthaber Hosni Mubarak zurück. Der schon unter Mubarak mächtige Militärrat erklärte sich zur «Übergangsregierung». Die ersten Wahlen gewann 2012 die bis anhin verbotene Muslimbruderschaft, der Parteivorsitzende Muhammad Mursi wurde Regierungsoberhaupt. Mursi konnte sich gegenüber dem Militärrat jedoch nicht durchsetzen, 2013 putschten sich die Militärs zurück an die Macht. 2014 wurde General Abdel Fattah al- Sisi zum Präsidenten gewählt. 2015 wurde Mursi zum Tod verurteilt, Mubarak wegen Korruption zu drei Jahren Haft. Gegen ihn läuft ein weiteres Verfahren, da während der sozialen Proteste Hunderte DemonstrantInnen von Polizei und Militär getötet worden waren. Viele der DemonstrantInnen von damals leben heute im Untergrund, im Exil oder sitzen im Gefängnis. Amnesty International zählt über 41 000 politische Gefangene. Zwischen 800 und 3000 Menschen sind während der Proteste ums Leben gekommen, mehr als 160 werden noch immer vermisst. Die ohnehin angespannte Situation auf der Sinaihalbinsel spitzte sich 2011 zu und schlug in einen bewaffneten Konflikt zwischen islamistischen Gruppen und der Regierung um.
Syrien
In Syrien reagierte Machthaber Baschar al-Assad 2011 hart auf die anfangs friedlichen sozialen Proteste. Darauf gingen landesweit Tausende gegen das Regime und für politische Freiheiten auf die Strasse. Obwohl die Regierung neu zusammengesetzt wurde und die eingeführten Notstandsgesetze aufgehoben wurden, beruhigte sich die Lage nicht. Assads Truppen und verschiedene RebellInnengruppen verwickelten sich in einen Bürgerkrieg, der bis heute anhält und in dem auch der «Islamische Staat» (IS) sowie weitere dschihadistische Gruppen kämpfen. Um sich an der Macht zu halten, schreckt Machthaber Assad weder vor Fassbomben noch vor Giftgasangriffen zurück – wobei er Letztere nach wie vor bestreitet. Die USA und Frankreich haben sich inzwischen in den Syrienkrieg eingeschaltet und bombardieren IS-Stellungen. Auch Russland fliegt Luftangriffe – nach eigenen Angaben ebenfalls vor allem gegen IS-Stellungen. Bevor die aktuellen Syrien-Friedensgespräche in Genf offiziell angefangen hatten, drohten Oppositionsvertreter bereits mit ihrer Abreise. Im syrischen Bürgerkrieg sind bis heute mehr als 250 000 Menschen getötet worden, Millionen sind auf der Flucht.
Saudi-Arabien
Nach dem Ausbruch der sozialen Unruhen im Maghreb erklärte in Saudi-Arabien der Rat der Hochrangigen Gelehrten Demonstrationen für «unislamisch». Zuerst ging die Regierung gewaltsam gegen DemonstrantInnen vor, liess Dutzende verhaften und foltern. König Abdullah ibn Abd al-Asis al-Saud kündigte zudem jedoch Reformen an: mehr Arbeitsplätze und Wohnungen, eine bessere Gesundheitsversorgung, höhere Subventionen, Sozialleistungen für Arbeitslose und Studierende. Dank des hohen Ölpreises konnte sich das Regime so seine Stabilität erkaufen, die Lage beruhigte sich vorerst. Ab 2005 und bis zu seinem Tod im Jahr 2015 war der König Staatsoberhaupt und absoluter Herrscher. Es gibt kein Parlament, die meisten Positionen sind mit Mitgliedern der Königsfamilie besetzt, die bei einem grossen Teil der Bevölkerung nach wie vor hohes Ansehen geniesst. Die Menschenrechtslage im Land bleibt sehr schwierig: Laut der Islamischen Menschenrechtskommission sind in Saudi-Arabien heute mehr als 30 000 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert.
Bahrain
Anders als in Saudi-Arabien eskalierten in Bahrain im Jahr 2011 die sozialen Proteste. Mitte März verhängte die Regierung den Ausnahmezustand und bat die Truppen des Golfkooperationsrats um Hilfe. Unter der Leitung von Saudi-Arabien bewachte dieser die strategisch wichtigen Institutionen und Behörden, während die bahrainische Polizei und das Militär gegen die aufständische Bewegung vorgingen. Gewaltsame Auseinandersetzungen flammten zwar immer wieder auf, zuletzt Anfang Januar. Dennoch haben die Herrschenden die Kontrolle über das Land längst wiedererlangt. Human Rights Watch zählte während der Aufstände über 1600 politische Gefangene und mindestens 20 Tote.
Jemen
Schon vor dem Arabischen Frühling führten die schiitischen Huthi-RebellInnen einen bewaffneten Kampf im Norden des Landes, 2011 schlossen sich die Huthi der Protestbewegung an. Weder Reformversprechen noch Repression konnten die sozialen Unruhen stoppen, Präsident Ali Abdullah Saleh musste zurücktreten. Aber auch die Übergangsregierung von Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi hatte schlechte Chancen, im März 2015 floh Hadi nach Saudi-Arabien. Unter der Führung des saudischen Königreichs fliegt eine Militärkoalition seitdem Luftangriffe gegen die RebellInnen. Für die Bevölkerung ist die Lage katastrophal. Rund 6000 Menschen wurden bisher im Bürgerkrieg getötet, Millionen sind auf der Flucht. In Bahrain, im Jemen, in Saudi-Arabien und Oman befeuerten konfessionelle Differenzen zwischen schiitischen und sunnitischen MuslimInnen die Proteste zusätzlich: Die mehrheitlich schiitische Bevölkerung sieht sich mit sunnitischen Herrschaftsfamilien konfrontiert. In Oman fielen 2011 die Proteste eher gemässigt aus. Sultan Kabus ibn Said ordnete vorerst soziale Reformen an, anschliessend stellte er das Kabinett um. Doch er blieb an der Spitze der Macht.
Libanon
Im Libanon zeigten sich die Auswirkungen des Arabischen Frühlings mit vierjähriger Verspätung. Auslöser war die anhaltende Müllkrise im Land, im Juli 2015 wurde die wichtigste Abfalldeponie geschlossen. Daraufhin demonstrierten Zehntausende unter dem Motto «You stink», in Beirut stürmten DemonstrantInnen das Umweltministerium und forderten den Rücktritt des Ministerpräsidenten. Die Proteste richteten sich zunehmend auch gegen die Regierung – gegen Korruption, die schlechte Wirtschaftslage und das gelähmte politische System. Da sich die Parteien nicht auf einen geeigneten Kandidaten einigen können, wird die Präsidentschaftswahl immer wieder verschoben. Mehr als siebzig Menschen wurden bei den Protesten verletzt.