AKW-Abstimmung in Bern: «Leukämie tut weh, wahnsinnig weh»

Nr. 5 –

Am 13. Februar 2011 wird die Bevölkerung des Kantons Bern zum allfälligen Neubau des Atomkraftwerks Mühleberg befragt. Annette Ridolfi, die während fast zwanzig Jahren im Berner Inselspital krebskranke Kinder behandelt hat, wehrt sich vehement gegen die Nutzung der Atomkraft, weil radioaktive Strahlung das Erbgut schädigt und Krebs verursacht.


Was war die schlimmste Geschichte? Annette Ridolfi zögert. In ihrem Berufsleben sah sie viele schlimme Schicksale, wobei «schlimm» das falsche Wort ist, «traurig» würde es eher treffen. Dann erzählt Ridolfi von einem Jungen, der drei Jahre alt war, als er zu ihr ins Spital kam – Diagnose: Leukämie. Der Junge genas, dann kam ein Rückfall, es folgte die nächste Behandlung, die nächste Krise, die nächste Behandlung. Der Junge kämpfte, die Mutter kämpfte. Irgendwann schien der Junge über den Berg zu sein, dann erneut ein Rückschlag, Diagnose Hodgkin-Lymphom, der Junge starb, da war er grad mal zwanzig Jahre alt. «Eine so lange Leidensgeschichte, grauenhaft», sagt Ridolfi.

«Warum haben wir nicht aufgehört?»

Fast zwanzig Jahre lang arbeitete Annette Ridolfi als leitende Ärztin und Kinderonkologin am Inselspital Bern. Vielen Eltern musste sie sagen, ihr Kind habe Leukämie. «Die ersten Fragen waren immer: ‹Woher kommt das?› und ‹Hat es etwas mit Atomkraftwerken zu tun?›» In den achtziger Jahren antwortete Ridolfi den Eltern, es gebe den Verdacht, dass radioaktive Strahlung eine Ursache sein könne, doch beweisen lasse es sich nicht.

Heute aber gebe es die Beweise, sagt Ridolfi. Damals kannte man zwei verschiedene Leukämieformen und wusste wenig über die Therapie. Man behandelte die Kinder, die einen wurden gesund, die anderen starben, niemand wusste, weshalb. Bis erste Forschungsresultate zeigten, dass sich die Leukämievarianten auf der Chromosomenebene unterscheiden. Es gibt im Erbgut der Blutzellen einen Defekt, der dazu führt, dass die Zellen nicht mehr tun, was sie tun sollten. «Wir haben den Beweis, dass radioaktive Strahlung Veränderungen in den Genen der Chromosomen auslöst. Je nachdem, welche Gene betroffen sind, ist eine Leukämie besser oder nur sehr schwer zu behandeln.»

Wenn es um Atomkraft geht, wird Ridolfi ungehalten: «Schon seit den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki ist bekannt, dass radioaktive Strahlung Leukämien und bösartige Tumore verursacht.» Die Strahlung schädige das Erbgut, das führe zu Krebserkrankungen. «Unsere Kinder werden einmal fragen, warum wir nicht damit aufgehört haben, obwohl wir wussten, was es anrichtet.»

Ridolfi wuchs im Kleinbasel auf. Ihr Grossvater stammte aus Italien, konnte weder lesen noch schreiben. Ihr Vater war Maurer, las Tolstoi, Marx und Engels. Ihre Mutter arbeitete als Schneiderin. Ridolfi studierte, auch wenn ihre Mutter befürchtete, sie würde das nicht durchhalten.

Ridolfi ist Mutter zweier Töchter. Ihr Mann arbeitete als Werbefotograf und kümmerte sich um Kinder und Haushalt. Sie arbeitete voll im Spital, oft auch an Wochenenden oder nachts, wann immer die kleinen Kranken sie brauchten, war sie da.

In Ridolfis Lehrbuch stand noch: Leukämie ist nicht heilbar. Sie hat das Lehrbuch aufbewahrt, als Erinnerung an die Zeit, in der ihr die Kinder unter den Händen wegstarben. Heute können acht von zehn Kindern geheilt werden, sagt sie. Sie hat hart dafür gearbeitet und bei Dutzenden von Behandlungsprotokollen mitgewirkt, immer auf der Suche nach einer noch besseren Therapie. Heute unterscheidet man viele verschiedene Leukämievarianten und kann sie gezielt behandeln, womit die Heilungschancen stark gestiegen sind. Doch die Angst bleibt. Manchmal entwickeln die Kinder nach einer erfolgreichen Behandlung auch einen Zweittumor, der vielleicht durch die erste Behandlung ausgelöst wurde.

«Leukämie tut weh, wahnsinnig weh», sagt Ridolfi. Es tut so weh, wie wenn einem alle paar Sekunden heftig gegen das Schienbein getreten wird. Früher bekamen Kinder kein Morphin oder erst, wenn sie rettungslos verloren waren. Man glaubte, die Kleinen würden abhängig. Die Kinder schrien tagelang, weil die herkömmlichen Schmerzmittel nicht halfen. Das ist heute zum Glück nicht mehr so.

Einmal hätte Ridolfi fast ihren Job verloren. Im Herbst 1990 stand die Abstimmung über die Ausstiegs- und Moratoriumsinitiative bevor. Ridolfi gehörte schon damals der Vereinigung der ÄrztInnen gegen Atomkrieg (IPPNW/PSR) an, die die Initiativen unterstützten. Die Onkologin wollte, dass die Eltern ihrer PatientInnen wussten, worum es ging, und organisierte eine Informationsveranstaltung. Sie mietete im Spital einen Raum und verschickte in Spitalcouverts Einladungen sowie Informationsmaterial.

Dummerweise kam ein Brief zurück – er ging aber nicht direkt zu ihr, sondern zur Direktion. Der Direktor war ausser sich, weil es nicht angehe, dass Ridolfi im Namen des Spitals Propaganda betreibe. Am liebsten hätte er sie gefeuert: «Was nicht passiert ist, weil sie mich wirklich brauchten», sagt Ridolfi.

Ein vergnügter Zug

Die Informationsveranstaltung kam trotzdem zustande. Die Eltern waren aufgewühlt, als sie hörten, welche Gefahren Atomkraft mit sich bringt. Eine Mutter fand, sie müssten mit den Kindern demonstrieren. Ridolfi versuchte es ihr auszureden, doch die Eltern wollten partout auf die Strasse. Am Abend des 14. Septembers 1990 fand dann die wohl eigentümlichste Demonstration statt, die Bern je gesehen hat. Kinder ohne Haare, in Rollstühlen und mit Infusionsständern hielten Lampions, an der Spitze des Zuges trugen sie eine grosse Sonnenlaterne. Eltern und ÄrztInnen in weissen Kitteln marschierten mit und trugen Plakate, auf denen sie für die Initiativen warben. Ein vergnügter Zug, aber keine Zeitung berichtete darüber.

Kinder in der Umgebung von Atomanlagen erkranken häufiger an Leukämie, das haben Studien in Deutschland inzwischen belegt. In der Schweiz wird derzeit auch an einer derartigen Studie gearbeitet. Was bringen all die Studien? Ridolfi schüttelt energisch den Kopf: «Wir brauchen diese Studien gar nicht! – Was wir wissen müssen, wissen wir schon längst!» Sie wolle nicht die Studien schlechtmachen, für die wissenschaftliche Debatte seien sie wichtig. «Doch die Bevölkerung versteht diese Studien nicht, die Ergebnisse sind zu komplex. Man muss das aber auch nicht verstehen. Radioaktive Strahlung verursacht Krebs und schädigt unser Erbgut! Es reicht, das zu wissen!»

Keine Chemiefirma dürfte in Betrieb sein, wenn sie ihr Abfallproblem nicht gelöst hätte – doch bei den Atomkraftwerken werde das akzeptiert. Es sei wichtig, den Leuten Alternativen aufzuzeigen, damit sie nicht fürchteten, sie müssten Kerzen anzünden, wenn die AKWs abgestellt würden. Doch die Alternativen gebe es ja.

Ridolfi erzählt weiter von ihren PatientInnen und von Krankenkassen, die ein Medikament nicht zahlen wollten, obwohl das Kind es brauchte. «Die Behandlung von Krankheiten ist teuer», sagt sie: «Wir sind bereit, AKWs zu akzeptieren, die Krankheiten erzeugen – aber wenn die Krankheiten da sind, will keiner zahlen.»

Sie sei an jeder Beerdigung gewesen von jenen Kindern, die sie nicht hatten retten können. Aber das Schöne sei, dass sie auch oft zu Trauungen und Taufen eingeladen werde, von denen, die geheilt wurden.