Finanzpolitik: Irland als Vorbild für die Schweiz?

Nr. 5 –

Falsche Budgetierung, ausgehebelte Schuldenbremse – und die nächste Senkung der Unternehmenssteuern: Margret Kiener Nellen, Präsidentin der Finanzkommission des Nationalrats, zu den aktuellen Schauplätzen der Schweizer Finanzpolitik.


WOZ: Frau Kiener Nellen, als Hans-Rudolf Merz zurücktrat, hiess es: Das UBS-Desaster hätte jedem passieren können, der Libyentrip bleibe eine Episode – aber ein ausgezeichneter Finanzminister sei er gewesen! Anfang Jahr wurde bekannt: Merz hatte seit 2003 die Einnahmen um insgesamt zwanzig Milliarden Franken zu tief budgetiert. Mit welchen Folgen?

Margret Kiener Nellen: Damit mussten auch die Ausgaben reduziert werden, weil die Schuldenbremse über die Einnahmen den Plafonds der Ausgaben bestimmt. In der Sozial- und Umweltpolitik wurden wichtige Investitionen aufgeschoben, so beispielsweise die Förderung preisgünstiger Wohnungen – das hat mit zu den steigenden Mietzinsen geführt.

Hatte die tiefe Budgetierung System?

Sicher waren bestimmte Entwicklungen wie der starke Wirtschaftsaufschwung Mitte des Jahrzehnts schwierig vorauszusehen. Dass nun aber Merz-Nachfolgerin Eveline Widmer-Schlumpf die Schätzmethoden bei der Verrechnungssteuer ändern will, zeigt: Man kann durchaus von einer Systematik sprechen. Die Schweiz hat weltweit das restriktivste Finanzhaushaltsgesetz. Die Schuldenbremse ist ein süffiger Begriff, für die meisten klingt er gut. Doch sie ist ein eigentliches Drosselungsinstrument, das den Neoliberalen den Staatsabbau ermöglicht.

Der Begriff «Ausgabenbremse» wäre also treffender?

Genau – erst recht, weil auf dem Ausgleichskonto der Schuldenbremse 2010 schätzungsweise siebzehn Milliarden Franken liegen. Werden bei der Rechnung Fehler bei der Einnahmeschätzung oder Ausgabenüberschreitungen sichtbar, so werden sie diesem Konto gutgeschrieben oder belastet. Es ist zwar geregelt, was passiert, wenn das Ausgleichskonto im Minus liegt – dann muss das Defizit ausgeglichen werden. Doch bei einem positiven Betrag gibt es typischerweise keine Regelung. Ich möchte diese Gesetzeslücke schliessen. Das Parlament soll eine Mitsprache über diese Überschüsse erhalten. So könnte der Betrag rückwirkend doch noch investiert werden.

Das Geld wird also quasi zweimal vorenthalten: zuerst bei der falschen Budgetierung, dann mit der ausgehebelten Schuldenbremse.

Ja. Mit der fatalen Folge, dass etwa bei den Sozialwerken wie bei der IV ständig nach sogenannten Sonderfinanzierungen gesucht werden muss. Die aufgeschobenen Investitionen, welche die Schweiz mit ihrer wachsenden Bevölkerung nötig hätte, werden die nächsten Generationen bezahlen.

Man erhält den Eindruck: Finanzpolitik hat weniger mit Zahlen zu tun als mit Ideologie. Teilen Sie als Präsidentin der nationalrätlichen Finanzkommission diese Ansicht?

Ich sage jeweils: Die Finanzpolitik ist das grösste Schlachtfeld der Ideologie.

Am Wochenende hat Economiesuisse verlauten lassen, die Unternehmenssteuern sollen wie in Irland auf 12,5 Prozent gesenkt werden.

Irland? Ein ganz gutes Beispiel! Zwanzig Jahre lang war Irland die neoliberale Steuerlokomotive, bis es in der Finanzkrise kläglich gescheitert ist. Daran sollte man sich bestimmt nicht orientieren. Von den Mindereinnahmen für die Kantone ganz zu schweigen.

Die EU kritisiert die Schweiz, ausländische Holdings zu bevorzugen. Hier soll der Vorschlag Abhilfe schaffen.

Tatsächlich ist der Vorschlag schon länger im Gespräch, um den Steuerstreit mit der EU zu beenden. Diese toleriert bei Holdings in der Schweiz den tieferen Steuersatz von ausländischen Erträgen gegenüber inländischen nicht länger. Doch man müsste das Problem genau umgekehrt lösen: indem man den tieferen Steuersatz an den höheren anpasst.

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund hat Anfang des Jahres zwei blicköffnende Zahlen vorgestellt: In den letzten zehn Jahren nahm die Steuerbelastung von Unternehmen und Vermögen um sieben Milliarden Franken ab. Gleichzeitig stieg seit den 1990er-Jahren die Belastung mit indirekten Steuern und Gebühren, welche vor allem die niedrigen Einkommen belasten, jährlich um siebzehn Milliarden. Der Ökonom John Kenneth Galbraith hat bei einem Besuch in der Schweiz vor zehn Jahren gesagt: Die Staatsform der Schweiz wird für die Reichen umgebaut. Und genau so ist es gekommen. Die Unternehmenssteuerreformen brachten eine beispiellose Entlastung des Kapitals – darum geht es ja bei der Senkung von Gewinn- und Vermögenssteuern. Bis 2004 hielten sich die juristischen und die natürlichen Personen bei der direkten Bundessteuer noch die Waage, heute wird sie zu 45 Prozent von den juristischen, zu 55 Prozent von den natürlichen Personen bezahlt. Dieses Blatt muss wieder gewendet werden!

Läuft die Privilegierung der Reichen lediglich über Steuersenkungen?

Nein, ein wichtiges, unterschätztes Thema sind die Steuervergünstigungen. Diesen Freitag wird ein Bericht der Eidgenössischen Steuerverwaltung dazu veröffentlicht: Die Steuerabzüge betragen pro Jahr rund zwanzig Milliarden – fast so viel wie insgesamt die Subventionen. Die Reichen profitieren von diesen Abzügen überproportional.

Die Schweizer Politik streitet über manche Ablenkung – doch über diese fundamentale Entwicklung wird selten gesprochen.

Man muss sich im Klaren sein, dass diese Politik gewollt ist: Die vollständige Befreiung des Kapitals von den Steuern ist ein erklärtes Ziel der SVP.