Umbruch in der arabischen Welt: Die andere Demokratie

Nr. 6 –

Welchen Lauf die Geschichte auch immer nehmen wird: Eines haben die Millionen von Menschen, die sich in den letzten Wochen auf Tunis’ und Kairos Strassen ihre Wut aus der Seele schrien, bereits erreicht. Sie haben unser Bild der arabischen Welt zum Bröckeln gebracht.

Hier die Moderaten, dort die Fundamentalisten. Hier das (gegen aussen) säkulare, prowestliche Ägypten, dort das antiwestliche iranische Mullahregime, das in der gesamten Region die Islamisten unterstützt. Das ist das bipolare Bild, das sich hier im Westen allmählich in unsere Köpfe brannte, nachdem die Islamisten 1979 im Iran die Macht an sich gerissen und Ägypten im selben Jahr Frieden mit Israel geschlossen hatte, um sich damit zum wichtigsten US-Alliierten in der Region zu mausern. Mit diesem Bild haben die USA und Europa seither ihre Allianzen mit autokratischen Regimes wie Ägypten legitimiert, durch die sie ihre Interessen zu verteidigen suchten – vor allem den Zugang zu Erdöl und die Verteidigung Israels.

Mit ihrem unüberhörbaren Ruf nach Demokratie sind die Menschen auf Kairos Strassen nun aber daran, uns im Westen ein neues Bild der arabischen Welt aufzuzwingen: hier unten die VorkämpferInnen der Demokratie, dort oben die seit Jahrzehnten herrschenden Autokraten. Egal ob diese prowestlich und säkular sind wie in Ägypten oder antiwestlich und religiös wie im Iran: Für die Menschen, die unter ihnen leben, hat das kaum je eine Rolle gespielt. Die neue politische Konfliktlinie, die die Aufständischen in der arabischen Welt gegenwärtig ziehen, wird für den Westen nicht so einfach zu ignorieren sein.

Doch was, wenn sich die Geschichte nun wiederholt? Was, wenn Ägyptens Muslimbrüder eine neue Autokratie errichten so wie die Islamisten 1979 in Iran? Wohl kaum. Seit der Iranischen Revolution haben sich die islamistischen Bewegungen tiefgreifend gewandelt – eine Reaktion auf den gescheiterten Versuch, ihr ideologisches Projekt durch das Missionieren in der Gesellschaft zu etablieren. Ein paar wenige verschrieben sich unter dem Banner der al-Kaida dem internationalistischen, bewaffneten Kampf; nicht wenige wandten sich einem gottgefälligen, calvinistischen Leben zu; und der Kern der Bewegungen begab sich auf den Pfad der Demokratie.

Auch die 1928 gegründeten ägyptischen Muslimbrüder wählten diesen Weg. Anfang der siebziger Jahre verabschiedeten sie sich von der Gewalt, zehn Jahre später traten sie erstmals bei Parlamentswahlen an. Und obwohl sie damit das politische System zu verwandeln suchten, so waren sie es, die durch das System verwandelt wurden. Nun lauten ihre Forderungen: Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie – Grundsätze, die sich heute in ihren Augen aus den heiligen Quellen des Islam herleiten.

Natürlich hat vor allem die alte, konservative Garde, die sich noch immer an der Spitze der ägyptischen Bruderschaft hält, (noch) nicht alle Prinzipien liberaler Demokratien mit ihren religiösen Doktrinen verwoben. So legte etwa die Führungsriege 2007 in einem Programmentwurf fest: Als StaatsbürgerInnen hätten zwar auch Frauen und NichtmuslimInnen das Recht, politische Ämter zu bekleiden, nicht aber das Amt des Staatspräsidenten. Doch im jungen, reformistischen Flügel stiess der Programmpunkt auf heftigste Opposition – die junge Garde ist gebildet, spricht fliessend Englisch und ist mit der Geschichte der Aufklärung bestens vertraut.

Diese Tatsache sollte der Westen nun akzeptieren: So wie in der arabischen Welt (neben religiösen) auch säkulare, prowestliche Autokraten existieren, so gibt es (neben säkularen) auch religiöse DemokratInnen.

Ein rauerer Wind wird dem Westen aus einer demokratisierten arabischen Welt ohnehin entgegenwehen – egal ob religiöse oder säkulare Kräfte das Ruder übernehmen. Und angesichts der westlichen Interessenpolitik, die seit Jahrzehnten auf dem Buckel der arabischen Bevölkerung ausgetragen wird, sollte sich darüber niemand wundern.