Kommentar: «Nieder mit Hosni Walker!»

Nr. 9 –

Wisconsin ist nicht Kairo. Der gewerkschaftsfeindliche Gouverneur des US-Bundesstaats ist kein knallharter Diktator. Doch in den USA wird zurzeit protestiert wie im Nahen Osten.


Heidi Morrison, Nahostdozentin an der University of Wisconsin, staunte nicht schlecht, als sie im Protestzug der Lehrerinnen, Polizisten und Feuerwehrleute die vielen Poster und Plakate sah, die vor allem auf die jüngsten Ereignisse in Ägypten Bezug nahmen. Denn eigentlich marschierten die Staatsangestellten gegen den hauseigenen Gouverneur Scott Walker und seinen als «Budgetkorrektur» getarnten rechten Coup: nämlich die Abschaffung des Rechts auf kollektive Lohnverhandlungen im öffentlichen Dienst.

Rund hunderttausend Menschen demonstrieren seit drei Wochen in Madison, Wisconsin, gegen den Angriff auf die Gewerkschaften. Auch in Ohio und Indiana wehrt man sich gegen neoliberale Attacken. Und von Los Angeles bis Boston schliessen sich Zehntausende der Bewegung an. Längst geht es nicht mehr bloss um einzelne Lohnverhandlungen oder Rentenkürzungen, sondern um so umfassende politische Themen wie das wirtschaftliche Überleben des Mittelstands und die Erhaltung der Demokratie. «Besteuert die Reichen, stoppt den Krieg!», fordert ein Plakat in Philadelphia.

Die Gewerkschaften und linken Bürgerbewegungen in den USA mobilisieren ihre Basis wie gewohnt mit dem Stichwort «Rettung des amerikanischen Traums». Bemerkenswert ist aber, dass der US-amerikanische Traum sich diesmal von den Träumen und Hoffnungen im Nahen Osten inspirieren lässt. Das ist ein Paradigmenwechsel in Sachen Geopolitik. Auf einmal sind «die Araber» nicht mehr eine Bedrohung, sondern eine Bereicherung für die US-amerikanische Demokratie. Auf einmal skandieren die patriotischen US-GewerkschafterInnen «Tunis, Kairo, Madison» und sind stolz auf die internationale Dimension ihres Protests.

Natürlich besteht die Gefahr, dass die Revolutionen in Nordafrika durch wohlmeinende, aber etwas naive LehrerInnen und PolizistInnen in Wisconsin vereinnahmt und verharmlost werden. Doch weit grösser ist die Chance, dass der globale Bezug den Gewerkschaften und Linken in den USA hilft, die politische Debatte zu öffnen und auszuweiten. Denn Arbeitsrechte sind keine westlichen Luxusgüter für Zeiten der Hochkonjunktur, sondern ein universelles Menschenrecht.

Solange die Rechte am Arbeitsplatz als «Sonderinteressen» wahrgenommen und auch so verteidigt werden, bleiben diese Rechte verletzlich und der Protest schwach. Die Lohnabhängigen können jederzeit gegeneinander ausgespielt werden. Der Gouverneur von Wisconsin etwa schürt gezielt den Neid und die Missgunst der bereits prekarisierten Beschäftigten aus der Privatwirtschaft. Die Staatsangestellten, sagt er, würden mit ihren fetten Gehältern und Renten den SteuerzahlerInnen das sauer verdiente Geld abknöpfen. Diese Argumentation werde man demnächst im ganzen Land zu hören bekommen, schreibt der frühere demokratische Arbeitsminister Robert Reich in seinem Blog. Mit genau derselben Strategie seien zuvor schon die Löhne und Sozialleistungen in der Privatwirtschaft gedrückt worden.

In allen fünfzig US-Bundesstaaten gibt es zurzeit Vorstösse, die die Superreichen noch reicher und den grossen Rest noch ärmer machen sollen. Und überall stellen sich die gewerkschaftlich gut organisierten Staatsangestellten als Erste quer. Doch Wisconsin ist das Epizentrum der Antigewerkschaftswelle, die durch den Rechtsrutsch bei den US-Zwischenwahlen im November ausgelöst wurde. In dieser ehemaligen Hochburg der Arbeiterbewegung sollen die Gewerkschaften entscheidend geschlagen werden. Der rechtskonservative Thinktank Americans for Prosperity spricht bereits vom «totalen Sieg». Konservative Schwergewichte wie die Tea-Party-nahen Brüder Charles und David Koch, Ölmilliardäre und Besitzer der Koch Industries, sowie der rechtslastige Medienmogul Rupert Murdoch haben ihr Geld und ihren beträchtlichen Einfluss zusammengelegt, um in Wisconsin versuchsweise die vogelfreie Marktwirtschaft einzuführen.

Mit voller Zustimmung des Gouverneurs wohlverstanden. Denn Scott Walkers politisches Idol ist Ronald Reagan, der im August 1981 über 12 000 Fluglotsen fristlos feuerte und lebenslänglich mit Berufsverbot belegte, weil sie das Streikverbot für Angestellte des öffentlichen Dienstes missachtet hatten. Präsident Reagan habe mit seinem entschlossenen Eingreifen bewiesen, dass er kein Schwächling sei. Mit diesem Vorgehen habe er nicht bloss die Arbeitswelt in den USA neu definiert, sondern darüber hinaus den Fall des Kommunismus und der Berliner Mauer eingeleitet, sagte der Gouverneur von Wisconsin Anfang Februar bei einem Arbeitsessen für sein neu gewähltes Regierungsteam. Und fügte hinzu: «Dies ist unser historischer Moment, unsere Chance, die Geschichte zu verändern.»

Kaum hatten die Ehrengäste des Gouverneurs auf diesen Trinkspruch angestossen, marschierten draussen auf der Strasse schon die Bibliothekarinnen und Spengler, die Krankenpfleger und Sekretärinnen vorbei und riefen in Anlehnung an die allerjüngste Geschichte: «Nieder mit Hosni Walker!»