Fukushima und die Schweiz: Was heisst denn 1000000 Jahre?

Nr. 11 –


Diese schrecklichen Bilder von Fukushima, sie erinnern böse an Tschernobyl. Und das Drama nimmt kein Ende.

Seit bald zwanzig Jahren beschäftige ich mich mit Atomenergie. Ich stand mehrere Male vor dem geborstenen Reaktor in Tschernobyl, habe mit unzähligen Leuten gesprochen, die aus Pripjat evakuiert worden waren, oder mit Liquidatoren, die dorthin mussten, um aufzuräumen.

Ich versuchte auch zu begreifen, wie es um die fünf Schweizer Reaktoren steht, welche Mängel und Schwächen sie begleiten, was alles passieren könnte, wenn wirklich alles schiefgeht. Dutzende von Texten und zwei Bücher sind entstanden. Das Unvorstellbare kam darin immer mal wieder vor. Wenn es um die hiesigen AKWs ging, endete ein skizziertes Unfallszenario manchmal mit der Bemerkung: Sollte dieses oder jenes passieren, «ist eine Kernschmelze nicht mehr aufzuhalten, und die Situation wird unkontrollierbar».

Wenn ich ehrlich bin: Ich habe selber nie geglaubt, dass es jemals passieren wird – es war abstrakte Logik, die einem sagte, dass es passieren könnte. Und die Vorstellungskraft, die einen nötigte, kritisch zu sein – weil ein Super-GAU im AKW Mühleberg uns zwänge, das Mittelland zu räumen, wenn der Wind grad aus Westen weht. Irgendwie schrieb ich im irrationalen Glauben, es würde nie und nirgends passieren, solange man sich dem potenziellen Schrecken stellte und ihn beharrlich benannte. Es half nicht. Und es ist schrecklich, recht zu bekommen, wo man nie recht haben wollte.

Heldentum ist mir suspekt, aber was die Männer und Frauen leisten, die jetzt im Atomkraftwerk Fukushima ausharren, in der verzweifelten Hoffnung, noch Schlimmeres zu verhindern – das ist heroisch. Sie wissen vermutlich kaum, was um sie herum vorgeht. Die Messgeräte sind kaputt, es fehlt an allem, überall nur Chaos, Hektik, Müdigkeit. Und die Strahlung steigt tödlich hoch. Es ist die Hölle. Man möchte ihnen danken und kann doch nichts für sie tun.

In den letzten Jahren war oft zu hören, die Atomfrage müsse endlich unideologisch und nüchtern angegangen werden. Es hiess auch, es sei immer noch eine Glaubensfrage, ob man für oder gegen AKWs sei. Wo war da Glaube, wo Ideologie? Es ging doch simpel um technische Fragen, um die Kernmantelrisse im Atomkraftwerk Mühleberg oder um die nicht richtig funktionierende Notstromversorgung im AKW Beznau (vgl. «Fukushima und die Schweiz»). Und darum, dass ich mich weigere, Wahrscheinlichkeitsrechnungen anzubeten. Dank solcher Rechnungen erscheint auch ein altes AKW als sicher. Die ganze Sicherheitsdebatte basiert auf solchen Rechnungen. Weniger schlimme Ereignisse dürfen häufiger passieren, sehr schwere nur ganz selten. Die AKW-Betreiber und die Sicherheitsbehörden sagen denn auch nie, es werde nie etwas passieren – sie sagen nur, es sei höchst unwahrscheinlich. Sie nennen es Restrisiko. Und sie sagen, damit müsse man leben, weil die Super-Katastrophe ja nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 1: 1 000 000 eintritt – also einmal in einer Million Jahre. Doch wann dieser Tag ist, an dem die Apokalypse beginnt, sagt die Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht: Er kann heute sein oder in einer Million Jahre. In Tschernobyl war er in der Nacht auf den 26. April 1986.

In Fukushima war dieser Tag am Freitag, 11. März 2011.

Bereits wird argumentiert, Fukushima sei ganz anders als Tschernobyl. Man will glauben machen, Tschernobyl sei viel schlimmer gewesen, weil es ein Sowjetreaktor war, weil die Sowjets ja eh nichts konnten und schlampig waren. Ich kenne einige Männer und Frauen, die in Tschernobyl im AKW gearbeitet haben, und sie waren bis zum 26. April 1986 genauso überzeugt von ihrer Atomindustrie wie die hiesigen AtompromotorInnen. Gut ausgebildete, kluge und damals privilegierte, gut verdienende Leute. Bevor der Super-GAU geschah, redeten sie, wie Axpo-Chef Heinz Karrer heute noch über seine Atomanlagen redet: Alles sicher, unter Kontrolle, bestens. Richtig ist, dass die Fukushima-Reaktoren (Mühleberg ist genau derselbe Typ) eine andere Konstruktion aufweisen als der Tschernobyl-Reaktor. Das macht es aber nicht besser, denn das Drama kann noch böser enden. Christian Küppers und Michael Sailer vom Ökoinstitut Darmstadt haben die unterschiedlichen Unfallverläufe schon vor Jahren untersucht. Damals kamen sie zum Schluss: Der ‹Vorteil› von Tschernobyl bestand darin, dass der Reaktor förmlich explodierte, wodurch ein grosser Teil der Spaltprodukte in die Atmosphäre geschleudert und über den ganzen Erdball verteilt wurde. Dies ist bei den Schweizer (und also auch bei den japanischen) Reaktoren anders: Aufgrund der anderen Konstruktion käme es zu «niedrigeren Freisetzungshöhen – bis zu einigen Hundert Metern», die anders als in Tschernobyl «zu höheren Belastungen in kleinen und mittleren Entfernungen» (Entfernungen von bis zu einigen Hundert Kilometern) führten. Und das in sehr dicht besiedeltem Gebiet.

Möge sich das Schlimmste noch abwenden lassen, mögen sich die ArbeiterInnen von Fukushima nicht sinnlos in dieser Strahlenhölle opfern.