Atomausstieg: Die Omertà der AKW-Betreiber

Nr. 44 –

Die Stunde der Wahrheit steht bevor, Ende November haben es die Stimmberechtigten in der Hand, den Atomausstieg zu beschliessen.

In den letzten zwanzig Jahren habe ich drei Bücher über die Nuklearindustrie geschrieben, über den Super-GAU in Tschernobyl, über die Schweizer Atomwirtschaft, über die Katastrophe in Fukushima. Für gewöhnlich stünde ich mitten in der Debatte, doch bin ich in einem Sabbatical, schaue dem Ringen von ferne zu und frage mich: Worüber reden die eigentlich?

Bundesrätin Doris Leuthard erzählt den Leuten mit süssem Lächeln, dass sie im Dunkeln sitzen werden, wenn sie der Initiative zustimmen. Wie kommt sie darauf? Der europäische Strommarkt ist liberalisiert. Alle Grossen kaufen den Strom da, wo es ihn am billigsten gibt. Der Markt macht den Preis. Deshalb darben die Schweizer Kraftwerke schon jetzt, nicht nur die AKWs, auch die saubere Wasserkraft. Das kann die Politik nicht mehr steuern. Ausser sie zahlt Subventionen.

Besorgt redet Leuthard von den gigantischen Entschädigungszahlungen, die drohen, wenn die Initiative der Grünen angenommen würde. Richtig. Das versuchen die AKW-Betreiber überall in Europa. Weil sich damit noch ordentlich Geld reinholen lässt. Auch wenn es zum Teil bizarre Formen annimmt, wie zum Beispiel beim betagten AKW Fessenheim, das nördlich von Basel steht. Es soll 2018 stillgelegt werden. Der Energiekonzern Électricité de France (EDF), der Fessenheim betreibt, behauptet, die Anlage liesse sich bis 2020 sicher betreiben. Deshalb verlangt er eine Entschädigung von mindestens zwei Milliarden Euro. Der französische Staat muss also der EDF, die ihm gehört, Milliarden zahlen, damit sie tut, was die Regierung angeordnet hat. Nebenbei profitieren auch die Schweizer Energieunternehmen Alpiq, Axpo und BKW davon: Weil sie ebenfalls am AKW Fessenheim beteiligt sind, dürften sie mit einer Entschädigung von 300 Millionen Euro rechnen.

Noch ist unklar, wer in der Schweiz darüber befinden würde, ob die hiesigen Betreiber eine Entschädigung erhalten, wenn die Initiative angenommen wird. Es könnte via Gericht laufen oder über einen Parlamentsentscheid. Sicher ist nur: Es spielt keine Rolle. Die AKWs sind im Besitz der Kantone. Entschädigungszahlungen flössen deshalb von einer öffentlichen Hand zur anderen. Gestritten würde lediglich darüber, wer wem wie viel bezahlen muss. Die Basel-StädterInnen werden sicher nichts bezahlen wollen, weil sie sich schon lang vom AKW-Strom verabschiedet haben. Aber auch das spricht nicht gegen die Initiative, sondern dafür.

Ums Geld kann es also nicht gehen. Aber es geht um Leute wie Luba Koslowskaja. Ich lernte sie Anfang der neunziger Jahre kennen. 1986 hatte sie in Pripjat gelebt. Pripjat war die Stadt gleich neben dem AKW Tschernobyl. Luba hatte aufrichtig an die Nuklearenergie geglaubt, weil sie für Wohlstand und Fortschritt stand.

Und dann passierte das Unvorstellbare, der Reaktor explodierte. Binnen weniger Stunden musste Luba mit ihrer kleinen Tochter und 50 000 andern PripjaterInnen die Stadt verlassen. Vieles, was sie geliebt hatte, war für immer verschwunden. Sie lebte in Kiew wie ein heimatloser Kriegsflüchtling. Inzwischen ist sie an Brustkrebs gestorben.

1986 waren sich im Westen die ExpertInnen einig: Die Sowjets, diese Pfuscher, seien schuld, bei uns würde ein solcher Unfall nie passieren. Doch es gab in der Sowjetunion Leute, die gewarnt hatten, dass der Tschernobyl-Reaktor einen Konstruktionsfehler aufweise – man wollte es nicht hören. Dann kam der März 2011. Drei Reaktoren in Fukushima schmolzen durch. Erneut verloren Tausende über Nacht ihr gewohntes Leben – Haus, Hof, Hund, Kühe. Die ExpertInnen sagten, man habe vorher gewusst, dass Fukushima Daiichi für den Tsunami nicht gerüstet war. Selbst die internationale Atombehörde IAEA habe das festgestellt. Doch nichts drang nach draussen. Keiner sagte laut: «Liebe Leute von Tepco, so geht das nicht!»

Es gibt weltweit viele Atomkraftwerke, die technisch nicht so ausgerüstet sind, wie sie sein sollten. Die Branche weiss es – und schweigt.

Solange die Omertà gilt, tut man gut daran, davon auszugehen, dass kein AKW sicher ist – ausser stillgelegte, die sind ohne Zweifel sicher.